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Lichte Horizonte

Publiziert am 6. Mai 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Lichte Horizonte» von Daniela Engist.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Anne ist Schriftstellerin. Ihr erster Roman ist gerade erschienen, sie quält sich mit dem Manuskript des zweiten Romans, als sie an einem Festival für Literatur und Musik Stéphane trifft. Er ist in Frankreich ein bekannter Sänger und Liedermacher des nouveau chanson. Die beiden sprechen über Kreativität. Danach entwickelt sich zwischen Anne und Stéphane ein Mailwechsel. Rasch geht es um Begehren und Erotik, es knistert, wenigstens auf dem Bildschirm.

«Stéphane schreibt: Ich möchte nicht in einer Geschichte vorkommen. Ich schreibe meine Lieder auch nicht nach der Wirklichkeit.
Ich denke: Nicht in einer Geschichte vorkommen? Das tust du doch längst. Oder woher kommen deine Lieder? Und was soll das sein, die Wirklichkeit? It’s all in your head, baby. Alle Künstler lügen. Ich werde wohl auch nicht ohne Lügen auskommen. Schon mein erstes Buch war von vorne bis hinten zusammengelogen.»

Das ist das eigentliche Thema des Buchs. Wie eine moderne Version einer Figur von Max Frisch fragt sich Anne, wer sie eigentlich ist. Sie gräbt in ihren Erinnerungen, geht ihren Freundschaften nach, erzählt sich ihre eigene Vergangenheit neu und fragt sich, was gewesen wäre, wenn… Oder besser: Wer sie heute wäre, wenn sie sich damals anders entschieden hätte.

Dabei hält Daniela Engist die Erzählung immer so in der Schwebe, dass nie ganz klar ist, was wahr ist. Erlebt das Anne wirklich? Stellt sie es sich nur vor? Lügt sie sich eine Wirklichkeit zusammen?  It’s all in your head, baby. Zur Wirklichkeit wird es erst im Kopf des Lesers. 

Daniela Engist hat in Freiburg im Breisgau studiert. Nach ihrer Doktorarbeit hat sie als freie Journalistin gearbeitet, bis sie dem Lockruf des Geldes erlegen ist und in Basel als Kommunikationsmanagerin angeheuert hat. Nach 13 Jahren Arbeit bei Roche und Syngenta hat sie ihren Job an den Nagel gehängt und einen Roman über den schönen Schein der Corporate Communications geschrieben: «Kleins grosse Sache».

Jetzt ist ihr zweiter Roman erschienen. «Lichte Horizonte» dreht sich um eine Schriftstellerin, die sich langweilt in ihrem Leben, in ihrer Beziehung, in ihrem bürgerlichen Alltag, und sich ein neues Leben zusammenträumt. Wie einst John Cusack in «High Fidelity» erinnert sich Anne an all ihre Verflossenen und fragt sich, was wäre, wenn…

Wenn sie damals in England Mattes nicht «nein» gesagt hätte, wäre sie dann heute jemand anderes? Wäre sie dann nicht mit dem langweiligen Banker Alexander verheiratet und weniger bürgerlich?

Es sind Fragen, die mich an zwei Bücher von Max Frisch erinnern: Natürlich an «Stiller», den Roman über Bildhauer Anatol Stiller, der nicht mehr der sein wollte, als den ihn die Gesellschaft sah, und deshalb auswanderte. Als er als Jim White zurück in die Schweiz reist, wird er am Zoll verhaftet und sagt den schönsten ersten Satz eines Romans der deutschen Literatur: «Ich bin nicht Stiller.» Und es erinnert mich an Max Frischs Theaterstück «Biografie: Ein Spiel», in dem der todkranke Hannes Kürmann die Möglichkeit erhält, sich in seiner Vergangenheit anders zu verhalten. Doch Kürmann gelingt es nicht, seine Biografie zu verändern. So sehr er sich bemüht, es kommt immer wieder dieselbe Geschichte heraus.

Die Anne im Buch von Daniela Engist reist nicht zurück in die Vergangenheit. Sie erinnert sich nur, sie erzählt sich ihre eigene Geschichte und ist sich dabei selber nicht sicher, ob sie das, was sie erinnert, tatsächlich erlebt hat. Sie sucht nach Tagebüchern und Erinnerungsstücken, an denen sie ihre Erinnerung festzurren kann und stellt dabei fest, das vieles anders war als in ihrem Kopf.

Wie Kürmann fragt sie sich, wer sie heute wäre, wenn sie sich damals anders entschieden hätte, mit diesem Mann ins Bett gegangen wäre und mit jenem gerade nicht.

Wie Stiller schreibt sie sich dabei eine Vergangenheit auf, bei der nie sicher ist, ob es Erinnerung oder Erfindung ist. 

Das gilt auch für die Beziehung zu Stéphane, dem französischen Sänger. Die beiden schreiben sich zwar erotische Mails – aber würden sie das, was sie schreiben, auch leben? Oder genügt es, den Kuss, die Umarmung zu denken? Anne fragt sich selbst, ob das alles nur vorgestellt sei. Lügt sie es sich zusammen?

Als Leserin, als Leser fragt man sich natürlich: Und die ganze Geschichte? Wieviel hat die Autorin im Text mit der Autorin des Textes zu tun?

Daniela Engist schreibt: «Es ist ein komisches Spiel, das die Künstler treiben! Sie geben sich ganz in ihre Kunst, und hinterher behaupten sie, dass das alles nichts mit ihrem Leben zu tun habe.

Ich habe deshalb Daniela Engist gefragt, was die Geschichte mir ihrem Leben zu tun hat. Hier das Interview mit ihr:

«Lichte Horizonte» ist also ein Spiel mit Erinnerung und Identität, eine Geschichte über die Selbstsuche – oder vielleicht besser: Selbsterfindung. Spannend daran ist, dass der Mensch, der sich da auf die Suche begibt, kein Mann ist wie weiland Stiller, Faber oder Kürmann bei Frisch, sondern eine Frau. 

Das Buch erzählt übrigens nicht nur eine interessante Geschichte, es ist sprachlich auch gut geschrieben. Daniela Engist versteht ihr Handwerk. Ihre Erzählung hat mich berührt und mir zu denken gegeben, sie hat Gedanken und Erinnerungen in Schwingung gebracht. Und das ist für mich das höchste Lob an ein Buch.  

Daniela Engist: Lichte Horizonte. Roman. Edition Hubert Klöpfer bei Kröner, 200 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-520-75001-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783520750013

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 6. Mai 2021, Matthias Zehnder

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