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Vanitas – Rot wie Feuer

Publiziert am 11. Mai 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Vanitas – Rot wie Feuer» von Ursula Poznanski.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Wenn Sie als Erwachsene:r beim Lesen mal wieder heisse Ohren kriegen möchten, kann ich Ihnen dieses Buch empfehlen: «Vanitas: Rot wie Feuer» ist ein Thriller von Ursula Poznanski, der sich gewaschen hat. Ursula Poznanski ist vor allem für ihre Kinder- und Jugendbücher bekannt, besonders für den Roman «Erebos». Dafür ist sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden. Seit ein paar Jahren schreibt sie aber auch für Erwachsene – und wie. «Vanitas» ist eine Trilogie, «Rot wie Feuer» ist der letzte Band. Das Buch lässt sich aber gut solo lesen.

Es dreht sich um Carolin, Blumenhändlerin auf dem Wiener Zentralfriedhof. Sie hat sich als verdeckte Ermittlerin im Auftrag des BKA in einen russischen Familienclan in Frankfurt eingeschleust und die fürchterliche Welt des Verbrechersyndikats aus nächster Nähe erlebt. Sie hat dabei Freunde verloren und ihre grosse Liebe – jetzt gilt auch sie selbst als tot. Doch offenbar wurde sie in Wien aufgespürt. Statt sich weiter zu verstecken, reist sie nach Frankfurt, quasi in die Höhle des Löwen. Und sie macht, was einem als Leser auf den nächsten 350 Seiten das Blut in den Adern gefrieren lässt: Sie versucht, den russischen Clan anzugreifen und sich für das erlittene Leid zu rächen.

Carolin verkleidet sich zwar mit Hüftpolstern und falschen Zähnen, sie schiebt einen Kinderwagen mit sich herum, unter dessen Decke eine geladene Pistole liegt, es bleibt aber ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Das Ganze ist so klug erzählt und so gut geschrieben, dass man das Buch nicht mehr weglegen kann. Jedenfalls mir ist es so gegangen.

Der Prototyp des listigen Kriegers in der Literatur ist Odysseus. Zum Beispiel die Geschichte, als er mit seinen Gefährten auf der Insel der Zyklopen landet und vom einäugigen Riesen Polyphem in dessen Höhle eingesperrt wird. In der Nacht sticht Odysseus dem Riesen sein eines Auge aus. Als der Riese am anderen Morgen mit seinen Händen kontrolliert, ob wirklich nur seine Schafe die Höhle verlassen, klammern sich Odysseus und seine Männer an die Unterseite der Riesenschafe und entkommen dem blinden Wüterich.

Wir kennen im deutschsprachigen Raum einen ähnlich listigen Mann, der, obwohl schwach und kaum bewaffnet, mit List und Klugheit die stärksten Gegner überwunden hat: Es ist das tapfere Schneiderlein. Der Roman von Ursula Poznanski über Carolin, die in Frankfurt die russische Mafia herausfordert, hat mich an den Kampf des tapferen Schneiderleins gegen die beiden grausamen Riesen erinnert. Das tapfere Schneiderlein trifft die Riesen nämlich schlafend im Wald. Es klettert auf einen Baum und bewirft die Reisen so mit Steinen, dass sie meinen, der jeweils andere habe sie gepiesackt. Die Riesen werden wütend und schlagen gegenseitig auf sich ein, bis sie beide tot sind.

Genauso macht es Carolin in Frankfurt. Bloss benutzt sie keine Kieselsteine wie das tapfere Schneiderlein, sondern Informationen. Die beiden Riesen in Frankfurt, das sind zwei Familienclans: Der Clan der russischen Familie Karpin und der Clan der armenischen Familie Malakyan. 

Es beginnt damit, dass Carolin eine Kleinanzeige im Internet schaltet. Für Aussenstehende sieht die Anzeige harmlos aus, für Eingeweihte ist es ein Dumping-Angebot für Kokain. Doch der Handel mit dem Stoff ist in Frankfurt in der Hand des Karpin-Clans. Klar, dass der die ungebetene Konkurrenz ausschalten will. Erst recht, weil dahinter der armenische Clan der Malakyans zu stehen scheint.

Wie weiland Odysseus geht Carolin mit List vor und piesackt ganz wie das tapfere Schneiderlein den russischen und den armenischen Familienclan so, dass sie sich gegenseitig angreifen. Carolin gerät dabei mehr als einmal zwischen die Fronten. Sie versteht es aber, die Stärke der Familien in eine Schwäche zu drehen. Die Stärke, das ist die unbedingte Loyalität in den Clans. Wenn die verletzt wird, folgt sofort eine blutige Strafe. Ein Finger wird dabei so selbstverständlich abgehackt wie unsereiner sich durch die Haare fährt. «Vanitas» – das ist die Eitelkeit, die Prahlerei. Carolin versteht es, die Eitelkeit der Clans in eine Schwäche zu verwandeln.

Und natürlich bleibt es nicht bei einem abgehackten Finger. Weil es dabei um Ehre geht, inszenieren die Familien jeden Mord als Strafaktion und sie liefern die Leiche ihrem Gegner, je nach Familientradition, verpackt in einem zusammengepressten Paket Autoschrott oder aufgelöst in einem Stahlfass. Auch das versteht Carolin zu ihrem Nutzen zu drehen – allerdings auf Kosten der Nerven von uns Leser:innen. 

Der Titel des Romans von Ursula Poznanski heisst «Vanitas: Rot wie Feuer» – eigentlich sollte er «Vanitas: Rot wie Blut» heissen. Denn das fliesst reichlich. Obwohl Poznanski viel Gewalt schildert und die Clan-Enforcer gar nicht zimperlich zur Sache gehen, sind die Schilderungen übrigens nie voyeuristisch oder gewaltverherrlichend. Poznanski erzählt die Abrechnung unter den beiden Clans eher wie ein Kampf zwischen Hyänen in der Natur. 

Als Erwachsener habe ich mich immer mal wieder sehnsüchtig an die Jugendtage zurückerinnert, als ich unter der Bettdecke mit roten Ohren Karl May gelesen habe. Oder den Lederstrumpf. Die Romane von Frederick Forsythe oder Andrew Vachss, … Ich habe mich damals in Bücher gestürzt wie in Abenteuer. Ursula Poznanski ermöglicht es uns Erwachsenen, wieder so in ein Buch einzutauchen, wie wir das als Jugendliche gemacht haben. Mit einem Satz heisser Ohren und mit roten Backen, einfach ohne Bettdecke über dem Kopf. Nervenzerfetzend… aber herrlich.

Ursula Poznanski: Vanitas – Rot wie Feuer. Thriller. Knaur, 400 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-426-22688-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426226889

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 11. Mai 2021, Matthias Zehnder

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