Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Nicht mein Leben
Letzter Tipp: In einem Zug

Teufels Bruder

Publiziert am 6. Februar 2025 von Matthias Zehnder

1896 ist Thomas Mann 21 Jahre alt. Er hat eine Stelle als Volontär in einer Feuerversicherungsgesellschaft aufgegeben und möchte, wie sein vier Jahre älterer Bruder Heinrich, Schriftsteller werden. Heinrich Mann lebt zu dieser Zeit in Italien. Er schlägt dem jüngeren Bruder vor, ihn zu besuchen. Im Oktober 1896 besteigt Thomas Mann in München den Zug. Die Fahrt führt über Lindau, Zürich und Venedig per Schiff nach Ancona, von dort über Rom zunächst nach Neapel und dann zurück nach Rom. Thomas Mann hat bisher kaum etwas veröffentlicht. Er ist geplagt von Selbstzweifeln und schlechtem bürgerlichem Gewissen. Knapp 40 Kilometer östlich der italienischen Hauptstadt, im Städtchen Palestrina am steilen Monte Ginestro, mieten sich die beiden Brüder in der Pension Casa Bernardini ein. Hier schreibt Thomas Mann wie aus dem Nichts heraus die ersten Kapitel der «Buddenbrooks», jenes Romans, für den er 30 Jahre später den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte. Wie ist das möglich? Wie kann ein junger Möchtegern-Schriftsteller voller Selbstzweifel und Hemmungen quasi über Nacht ein solches Meisterwerk produzieren? Wie kommt ein Autor zu seinem Stoff? Muss er erleben, was er schreibt, oder kann er dabei aus seinem Inneren schöpfen? Oder kann es nur mit dem Teufel zugehen, dass ein Jungspund in die Lage kommt, ein solches Meisterwerk zu schaffen? Diese Fragen stehen im Zentrum des Romans von Matthias Lohre. Sein Buch ist eine spannende Reportage über die Italienreise der Brüder Mann und über die Frage, wie Literatur und Leben zueinander stehen. In meinem 241. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was dieses Buch besonders lesenswert macht.

 

Wenn wir an Thomas Mann denken, sehen wir wohl alle einen Grandsegneur der Literatur vor uns: einen vornehmen, manchmal fast arrogant wirkenden Mann mit Schnauzer, Hut und Zigarre, ein weltweit geachteter Grossschriftsteller und Romancier. So hat sich Thomas Mann während und nach den Kriegsjahren präsentiert, als er in den USA lebte. Dieses Buch spielt lange vorher. 1896 ist Thomas Mann noch der unsichere Tommy, geplagt von Selbstzweifeln und in ständiger Geldnot. Er ist 21 Jahre alt, lebt mehr schlecht als recht von Geld, das ihm ein übellauniger Vormund widerwillig aus seinem Erbe auszahlt. Tommy will Schriftsteller werden, ja sogar Dichter. In der Pension Casa Bernardini schreibt er sich als «Poeta di Monaco» ins Gästebuch. Die grosse Frage ist: Was soll er schreiben, wo er doch noch gar nichts erlebt hat? Oder sind Leben und Literatur zwei so verschiedene Dinge, dass es darauf gar nicht ankommt? Das ist die zentrale Frage, der Matthias Lohre in seinem Buch nachgeht, und zwar abwechselnd aus der Perspektive von Heinrich und Thomas.

Beide, Heinrich und Thomas, sind nach Italien gereist, um der Enge ihrer Heimat zu entkommen.

Heinrich schritt die wenigen hundert Meter zum Verlagsgebäude im Bewusstsein eines Mannes, der sich alles, was ihm wichtig war, erkämpft hatte. Seine Vorfahren hätten den Fragen, denen er sich Monat für Monat im Zwanzigsten Jahrhundert widmete, verständnislos gegenübergestanden. In ihrer giebeligen, engen Stadt waren sie abgeschnitten gewesen von den Ideen, die über den Kontinent brausten wie Frühlingsstürme. Wer hätte Großpapa zu erklären gewagt, die Welt sei seine Vorstellung? Oder gar, Gott sei tot? Und Vater hätte den Roman seines Erstgeborenen wohl nicht einmal in die Hand genommen. Schließlich hatte das Denken eines Kaufmanns dem Erwerb zu dienen und die Kunst der Erbauung. Dabei glichen «alte» Familien wie ihre, ohne es zu wissen, Figuren im Theater. Indem sie leutselig mit Speicherarbeitern sprachen, im Senat Reden hielten oder beim Ball ihrem Glück nachtanzten, machten sie sich glauben, sie führten ihr Leben. In Wahrheit gaben sie Generation für Generation die immer gleichen Rollen: tugendhafte Kaufleute und Familienoberhäupter, ehrbare Gattinnen und Mütter, füg- und strebsame Kinder. Ausgerechnet er, der künftige Firmenerbe, hatte früh erkannt, dass sie alle weder ein Drama noch eine Tragödie aufführten, sondern eine Farce. (Seite 55)

Heinrich und Thomas Mann, München 1900
ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv
Fotograf: Atelier Elvira / TMA_0017

Die Frage ist, ob das, was beide Brüder als richtiges Leben empfinden, so viel anders ist, ob sie Schriftsteller sind oder ob sie beide auch nur eine Rolle spielen. Nach aussen die Rolle des Künstlers, untereinander die eingespielten Bruderrollen. Heinrich ist der grosse Bruder, der früh in die Welt hinausgezogen ist, sich ins Leben gestürzt und Erfahrungen gesammelt hat. Tommy ist der kleine Bruder, so naiv, dass Heinrich nur den Kopf schütteln kann. Beide hoffen, dass sie im Süden die «brüderlichen Bande neu knüpfen» können. Heinrich merkt aber schnell, dass sie nur die Herkunft gemeinsam haben: «Geteilte Erinnerungen an Häuser, Gassen und Dienstmädchen, an den Geruch sonntäglicher Süßspeisen, mütterlichen Parfums oder eines Regentags im November.» Tommy ist für ihn das verwöhnte Muttersöhnchen und «brüderlichen Mitgefühls nicht wert». (Seite 70)

Dieser Tommy ist tatsächlich naiv, verträumt und versponnen in seine Gefühle und Vorstellungen. Vor allem aber ist er ratlos. Einerseits will der der bürgerlichen Welt den Rücken kehren und sich als freier Künstler der Welt hingeben. Andererseits hat er kein Geld, kein Auskommen, keine Perspektive. Soll er dem Druck seines Vormunds nachgeben, einen anständigen Beruf ergreifen und sich so das väterliche Erbe sichern? Oder soll er das alles in den Wind schiessen, sich wie Heinrich dem Leben in die Arme werfen und darüber schreiben? Von einem Jugendfreund wird ihm eine Stelle als Redakteur beim Münchner «Simplicissimus» angetragen. Die Stelle könnte ein Auskommen bieten, er hätte daneben aber wohl keine Zeit mehr, eine längere Erzählung zu schreiben.

Doch die Stelle auszuschlagen schien undenkbar. Auf einen Bittbrief an Testamentsvollstrecker Tesdorpf hatte dieser nicht geantwortet. Mutter wiederum hatte ihm in seltener Offenheit detailliert aufgelistet, welche Kosten ihr die drei jüngeren Geschwister bereiteten.
Auf Heinrichs Drängen hatte Thomas seine längste, noch in München geschriebene Geschichte unverlangt an S. Fischer in Berlin geschickt. Doch hegte er wenig Hoffnung. Schröter senior hatte die Novelle ja nicht einmal einer Standardabsage für würdig befunden.
Direkt vor ihm vertäute ein Gondoliere mit Mühe sein Boot, das sich aufbäumte und sträubte wie ein junges Pferd. So also, dachte er, endete ein kurzes Leben als freier Dichter.
Dabei hatte er in Venedig alles versucht, um seiner Fantasie etwas zu geben, woran sie sich entzünden konnte. Etwas, das ihm derart tief und bedeutsam erschien, dass es die einsame Plackerei des Konzipierens, Schreibens und Korrigierens erträglich machte. Auch deshalb war Thomas, als hätten er und Heinrich jede fromm-lüsterne Darstellung der Maria Magdalena und jeden auferstandenen Erlöser zweimal gesehen. Alle Kunstschätze Venedigs hatte er zu Gesicht bekommen – nur nicht den einzigen, der zählte. (Seite 133f.)

Dieser einzige Schatz, auf den Tommy hofft, ist kein Kunstschatz, sondern ein weiss gekleideter Jüngling, für den Tommy schwärmt. Kein Kunstwerk, keine Legende Venedigs, kein anderes Ereignis reizt ihn zum Schreiben. Alles, was ihm einfällt, erweist sich rasch als plumpe Abwandlung eigener Jugenderlebnisse: «Pennälerängste, Geschwisterstreit, Tanzstundenqualen». Was kann fader sein als das? Nur der Jüngling bringt seine Phantasie in Wallung. Deshalb sucht er ihn in ganz Venedig – und erlebt dabei ganz offensichtlich, was er später in «Tod in Venedig» verarbeiten sollte. Tommy verstrickt sich immer mehr in die Schwärmerei für den Jungen. Er reist ihm nach, zunächst nach Rom, dann nach Neapel. Tatsächlich begegnet er dem Jungen – und wagt es kaum, ihn anzuschauen, geschweige anzusprechen. Verzweifelt flüchtet er zurück nach Rom.

Jetzt wähnte er sich wieder verraten. Und warum? Weil jemand es wagte, laut zu lachen? Nein. Sondern weil es ihm zeigte, dass er, Thomas, zu heiterer Gelassenheit gar nicht in der Lage war. Und das trennte ihn vom Jungen. Herrgott! Da hatte er geglaubt, in der Fremde ein wenig nüchterner, eigenständiger, reifer geworden zu sein. Hatte sich eingeredet, er könne seine Sehnsucht zähmen, zu Kunst veredeln. Er hatte es so satt, von seinen Empfindungen von einem Extrem ins andere gescheucht zu werden wie ein Hund. Schluss damit. Schluss! (Seite 251)

Er empfindet sich zunehmend als Möchtegerndichter, künstlerisch unproduktiv, ohne gesellschaftliche Bindungen. Seine Zweifel, seine Selbstzweifel überwältigen ihn. Thomas ist überzeugt, dass er nicht zum Schreiben taugt. (Seite 345) Doch zu einem bürgerlichen Leben taugt er noch weniger. Nicht einmal sein Vater hat an ihn geglaubt und im Sterben verfügt, dass das Handelshaus Mann aufgelöst werde, weil er, Tommy, es nicht wird übernehmen können. Mit ihm hat eine Jahrhunderte währende Kaufmannstradition ihr Ende gefunden. Er gesteht sich ein: «Sein Leben war nur Epilog.»  (Seite 347) Er empfindet sich also als laues Nachwort, mit dem die Geschichte zu Ende geht.

Heinrich bemerkt, was in seinem Bruder vorgeht. Er spricht die Zweifel an.

«Du bist Mutter und den anderen hinterhergelaufen. Und du hast dich nicht für Italien entschieden, bloß gegen ein Leben im Kinderzimmer.»
«Das stimmt nicht.»
«Nein? Du kommst her, hierher.» Im Augenwinkel sah er Heinrich mit dem Arm auf Pantheon, Häuser und Himmel weisen, als wolle er sie streicheln. «Und was machst du? Liest Goethe und hörst Wagner. Dann fliehst du bei erster Gelegenheit, weil du vermutest, dass jemand es von dir erwartet.»
«Ich fliehe nicht.»
«Hier sagt dir niemand, was du zu wollen hast, und das macht dir Angst.»
«Unsinn. Ich will Dichter sein.»
«Ja, sein. Du musst es aber erst werden.»
Thomas ließ sich auf die Sitzbank helfen. Heinrich blickte ihn von unten an.
«Du musst dich an etwas versuchen, das schwer ist. Das dir Angst macht. Dafür braucht es Mut.» (210)

Tommy will Dichter sein, muss es aber erst werden. In Rom ruft er einmal verzweifelt aus: «‹Ich hatte gehofft, ich würde hier die Welt kennenlernen. Aber überall bin ich nur auf mich gestoßen. Überall nur ich, ich, ich. Und was ich gesehen habe, war …› Für einen Atemzug verzerrte Ekel sein Gesicht, und er wandte es ab.» (Seite 431) Tommy ekelt sich vor sich selbst, seinen Gefühlen, seinem Schwärmen für den Tod.

Die Wendung kommt, als Samuel Fischer überraschend die Novelle zum Druck annimmt, die Thomas ihm geschickt hat. «Der kleine Herr Friedemann» soll in der «Collection Fischer» erscheinen. Zudem schreibt Samuel Fischer: «Ich würde mich […] freuen, wenn Sie mir Gelegenheit geben würden, ein größeres Prosawerk von Ihnen zu veröffentlichen, vielleicht einen Roman, wenn er auch nicht so lang ist.» Es ist mehr als nur ein Rettungsring, den Samuel Fischer dem jungen, unbekannten Thomas Mann zuwirft. Der S. Fischer-Verlag ist der massgebende Verlag der literarischen Moderne. Ein Novellenband bei S. Fischer würde Thomas zwar nicht wohlhabend, aber im Reich bekannt machen. Und dass der Verleger ihm zutraut, einen Roman zu schreiben, das übertrifft seine kühnsten Erwartungen. Bloss: Von was soll ein Roman handeln und vor allem: Wie soll er das schaffen?

Wir wissen heute, dass Tommy es geschafft hat. Dass er in Italien die ersten Kapitel jenes Romans geschrieben hat, der später als Jahrhundertroman galt. Wie kann das sein? Da kommt der Titel des Romans ins Spiel: «Teufels Bruder» deutet an, wer da die Hand im Spiel gehabt haben könnte. Hinweise darauf tauchen schon früh im Roman auf. So erzählt Heinrich bereits in Venedig eine Legende über den Bau der Rialto-Brücke. Der Baumeister habe nicht gewusst, wie er den fünfzig Meter breiten Canale Grande überspannen sollte, und das in einer Höhe, dass auch grössere Schiffe durchfahren können. Die Brückenteile stürzten immer wieder in den Fluss. Eines Tages habe der Teufel persönlich den Baumeister besucht und einen Handel vorgeschlagen: «Überlässt du mir die erste Seele, die über die Brücke läuft, dann stehe ich deinem Werk nicht länger im Wege.» Natürlich glaubt der Baumeister, den Teufel überlisten zu können – und natürlich geht das gründlich schief.

Hat Thomas Mann also ebenfalls einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um die «Buddenbrooks» schreiben zu können? Die Rahmenhandlung des Romans von Matthias Lohre spielt im April 1953. Noch einmal ist der alte Thomas Mann nach Italien gereist. Nach einem Besuch beim Papst in Rom weilt er in Palästrina und erinnert sich.

Hatte er […] nicht gerade selbst gesagt, Literatur und Leben seien verschiedene Dinge? In Wahrheit, das sah er im Moment der Schwäche klarer denn je, waren seine Werke niemals Bekenntnisse gewesen. Sie waren Labyrinthe. In ihnen hatte er sich der Welt nicht offenbart, sondern kunstvoll vor ihr versteckt, und war darüber alt geworden. Müde und sehnsüchtig schaute er durchs Balkonfenster. Der Himmel trug tröstliches Blau. Wie köstlich musste es sein, sich endlich rückhaltlos zu allem zu bekennen. (Seite 19)

Literatur als Labyrinth. Im Bezug auf seine Sexualität ist Thomas Mann das schon lange nachgesagt worden. Aber was ist mit dem Teufel? Tatsächlich hat Thomas Mann in «Doktor Faustus» einen Handel mit dem Teufel beschrieben. Adrian Leverkühn, die Hauptfigur des Romans, erhält Genialität und künstlerische Meisterschaft im Austausch für seine Seele und den Verzicht auf Liebe. Der Teufel verspricht ihm übermenschliche schöpferische Kraft, die es ihm ermöglichen wird, eine neue, radikale Musik zu erschaffen. Der Preis, den Leverkühn dafür bezahlt, ist jedoch hoch: Er darf keine menschliche Nähe und Zuneigung mehr empfinden. Dabei lässt Thomas Mann es offen, ob der Teufel real ist oder nur eine Wahnvorstellung, ausgelöst durch Leverkühns aufkommende Syphilis-Erkrankung.

Ist die Szene aus Doktor Faustus nicht erfunden, sondern dem nachempfunden, was Thomas Mann als junger Tommy-Möchtegern in Palästrina erlebte? Hat er die «Buddenbrooks» dem Teufel abgerungen? Diese Frage beantwortet Matthias Lohre in seinem Roman. Mehr verrate ich Ihnen hier natürlich nicht. Wenn Sie wissen möchten, ob Thomas Mann einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, um Nobelpreisträger zu werden, müssen Sie das Buch schon selber lesen.

Matthias Lohre: Teufels Bruder. Thomas Mann und sein Bruder Heinrich auf Italienreise. Piper, 544 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-492-07279-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492072793

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 06.02.2025, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/

Abonnieren Unterstützen Twint-Spende