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Ich bin Anna

Publiziert am 10. April 2024 von Matthias Zehnder

Sigmund Freud und seine Frau Martha hatten sechs Kinder: Drei Buben und drei Mädchen. Das jüngste der sechs Kinder war Anna: Sie kam 1895 zur Welt. Freud war da schon 39 Jahre alt. Anna war ein kränkliches Kind. Sie fehlte häufig in der Schule. Als sie 15 Jahre alt war, wurde sie zur Kur nach Schlesien geschickt. Sie holte den Schulstoff aber nach, legte mit 17 das Abitur mit Auszeichung ab und wurde Lehrerin. Als einziges der Kinder von Sigmund Freud interessierte sich Anna für die Arbeit ihres Vaters. Sie absolvierte eine Lehranalyse bei ihrem Vater und begann, als Psychoanalytikerin zu arbeiten. 1923 eröffnete sie in der Berggasse 19 direkt neben den Räumlichkeiten ihres Vaters ihre eigene Praxis. In seinem neuen Roman «Ich bin Anna» schildert Tom Saller, wie es dazu gekommen ist und wie Vater Freud die schwierigste Analyse seines Lebens angepackt hat: die Analyse seiner eigenen Tochter. In meinem 199. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich Ihnen den Roman auch dann empfehle, wenn Sie mit der Psychoanalyse nichts am Hut haben.

Sigmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, hat seine Arbeit präzise dokumentiert. Was sein Leben angeht, war er dagegen nicht so auskunftsfreudig. Viele private Aufzeichnungen, Briefe und Manuskripte hat er vernichtet. Seiner Frau Martha gegenüber soll er erklärt haben, er wolle es künftigen Biographen nicht allzu leicht machen, im Gegenteil: «Sie sollen sich plagen.» Eine der grossen Leerstellen im Leben von Freud betrifft seine Tochter Anna: Freud führte über sämtliche Therapien und Analysen akribisch Buch. Doch über die Analyse, die sich seine Tochter während mehrerer Jahre bei ihrem Vater unterzog, existieren keine Aufzeichnungen. Die Sitzungen, die Anna zwischen 1918 und 1922 und noch einmal ab 1924 bei ihrem Vater absolvierte, sind nicht dokumentiert. Es gibt nur einen einzigen Hinweis, aber der hat es in sich: In einem Brief an Lou Andreas-Salomé schrieb Freud, es gelte, die Libido seiner Tochter aus deren Schlupfwinkel herauszutreiben. Im Leben von Tochter Anna gibt es neben der Analyse durch ihren Vater eine weitere, wichtige Leerstelle: 1938, nach dem Anschluss von Österreich ans Nationalsozialistische Deutschland, durchsuchten Nazi-Schergen Freuds  Räume an der Berggasse und die Kanzlei von seinem Sohn Martin. Tochter Anna wurde in Wien aufs Hauptquartier der Gestapo mitgenommen und verhört. Darüber, was da passiert ist, hat Anna Freud nie gesprochen.

Diese beiden grossen Leerstellen in der Biographie von Anna Freud, die Analyse ihres Vaters und das Verhör durch die Gestapo, sind das Thema des neuen Romans von Tom Saller. Dabei hilft es natürlich, dass Saller selbst Psychiater und Psychotherapeut ist: Er praktiziert in eigener Praxis im Bergischen Land bei Köln. Er ist es sich also gewohnt, sich in die Gedanken- und Gefühlswelten anderer Menschen hineinzuversetzen und die Leerstellen darin gedanklich zu erkunden. In seinem Roman widmet er sich der Beziehung von Sigmund Freud zu seiner jüngsten Tochter. Was hat bei Anna, dem jüngsten und dem kränklichen Kind, die Bewunderung für den übermächtigen Vater ausgelöst? Wie ist Freud wohl mit dem Interesse umgegangen, das Anna seiner Arbeit entgegengebracht hat? Wie hat er sie an die Psychoanalyse herangeführt?

Wir wissen es nicht. Mit seinem Roman füllt Tom Saller diese Leerstellen fiktiv. Die zentrale Idee: Vielleicht liess Freud Anna an einem Fall teilhaben. Einem Fall als Lernanalyse. Freud könnte Anna jeweils von einem Patienten berichtet und mit ihr dessen Fortschritte besprochen haben. Daraus spinnt Saller eine spannende Geschichte rund um die Psychoanalyse und den Aufstieg der Nazis in Wien, mittendrin: Sigmund Freud, seine Tochter – und ein fiktiver Rückkehrer aus dem Ersten Weltkrieg. Stadlober nennt Tom Saller den Mann. Dieser Stadlober, ein nationalistischer Deutscher, wird zum Dreh- und Angelpunkt des Romans. Saller erzählt die Geschichte dabei abwechslungsweise aus der Ich-Perspektive von Tochter Anna und von Vater Sigmund Freud.

Der fiktive Stadlober zog begeistert in den Ersten Weltkrieg, wurde aber 1916 bei einem Senfgasangriff verletzt und erblindete vorübergehend. Nach anfänglicher Besserung erlitt er einen schweren Rückfall, als er im Lazarett von der britisch-französischen Offensive an der Somme erfuhr, die fast einer halben Million deutscher Soldaten das Leben kostete. Seither leidet er unter nervösen Symptomen, darunter massive Sehstörungen, die manchmal Stunden, manchmal Tage andauern. Diese immer wieder aufflackernde Erblindung scheint keine körperliche Ursache zu haben. Stadlober will sich deshalb von Freud behandeln lassen. Anna verfolgt den Fall quasi aus der Kulisse. Freud schildert ihr jeweils am Abend den Verlauf der Therapiesitzungen mit dem verwundeten Soldaten. So soll Anna Gelegenheit erhalten, die Technik der Psychoanalyse aus nächster Nähe zu studieren, Fragen zu stellen und Einblick zu nehmen, ohne sich dabei selbst zu exponieren.

Aus nächster Nähe erleben wir dabei auch Freud selbst. Der Psychoanalytiker gibt seinen Platz im Schatten am Kopfende der berühmten Liege auf und tritt ans Licht. Tom Saller schreibt aus der Sicht von Anna:

Die Wohnung war mit wuchtigen dunklen Möbeln eingerichtet, dazu schwere Vorhänge und Stofftapeten, als hätte es die Wiener Werkstätte oder den Secessionsstil nie gegeben. Drüben, bei Papa, sah es nicht anders aus. Derselbe muffige Charme aus dem vorigen Jahrhundert. Solange ich mich erinnern konnte, hatte sich die Einrichtung in beiden Räumlichkeiten nicht verändert. Ebenso wenig wie Papa. Es war erstaunlich: Der Mann, der als der Arzt der Moderne galt, war gleichzeitig der unmodernste Mensch überhaupt. (Seite 24)

Und weiter: Als Kind war ich der festen Überzeugung, Papa lebte in der Praxis. Sein Arbeits-, Behandlungs-und Wartezimmer wären seine Wohnung, und er besuchte uns, die Familie, bloß zwischendurch einmal–praktischerweise jeweils um die Mittagszeit und zum Nachtmahl. Danach ging er wieder hinüber, in sein Reich, in seine Welt, bei der es sich laut den ungeschriebenen Gesetzen der Analyse vor allem um eine Männerwelt handelte, auch wenn mehr als die Hälfte der Patienten Patientinnen waren. Seltsam, aber wahr.
Immerhin genoss ich, seit ich kleinere Aufgaben für die psychoanalytische Vereinigung übernommen hatte, beispielsweise Übersetzungen von Vorträgen und Abhandlungen anfertigte, freien Zugang zu seinen Räumen. Ein Privileg, das keinem meiner Geschwister zuteilgeworden war. (Seite 31)

Anna bewundert ihren Vater und er sorgt sich um sie, weil sie kränkelt. Diese Rollen werden sich im Laufe der Zeit umdrehen: Als Freud an Gaumenkrebs erkrankt, pflegt Anna ihren Vater. Sie begleitet ihn auf seiner letzten Reise nach Rom und übernimmt die Vertretung des Vaters bei psychologischen Kongressen. Ab 1927 ist sie die Generalsekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Noch aber ist es nicht so weit. Im Roman sitzt Anna verbotenerweise hinter der Tür und belauscht die Therapiegespräche von Freud mit ihrem Lehrpatienten Stadelober. Sie trifft sich sogar mehrmals mit Stadelober und das auch noch heimlich. Der erzählt in den Analysegesprächen von den Treffen mit einer jungen Frau und Freud freut sich über den Behandlungserfolg, nicht ahnend, dass es sich bei der Frau um seine eigene Tochter handelt.

Die verbotenen Treffen werden, wie könnte es in einer solchen Geschichte anders sein, zum entscheidenden Moment auf gleich mehreren Ebenen: unmittelbar für Anna Freud und für ihr enges Verhältnis mit ihrem Vater, aber auch für den gescheiterten Weltkriegs-Soldaten – und weit darüber hinaus. Aber da sei nicht mehr verraten.

Wie ihr Vater freundet sich im Buch und im richtigen Leben Anna mit Lou Andreas-Salomé an, einer Vertrauten von Nietzsche und Rilke und einer wichtigen Diskussionspartnerin von Sigmund Freud. Die unabhängige Frau ermuntert Anna brieflich, das Leben anzupacken. Ab etwa 1925 lebt Anna mit der Amerikanerin Dorothy Tiffany Burlingham zusammen. Auch wenn beide Frauen immer abstritten, dass es sich dabei um eine homosexuelle Beziehung handelte – sie scheinen glücklich gewesen zu sein miteinander. Vielleicht ist es Freud ja doch gelungen, die «Libido seiner Tochter aus deren Schlupfwinkel herauszutreiben». Als die Familie Freud im Juni 1938 nach England flüchtete, kamen Dorothy und ihre vier Kinder mit. Wie die Familie es schaffte, im letzten Moment das bereits faschistische Österreich zu verlassen, ist bis heute ein Rätsel. Tom Saller liefert in seinem Roman eine mögliche Erklärung dazu.

Sein Buch ist eine spannende Mischung aus biografischer Erzählung, Vater-Tochter-Geschichte, Spionage-Thriller und historischem Roman über die Geschichte der Psychoanalyse. Ausschnitte aus Briefen und Gedichten von Anna Freud vermitteln den Eindruck, ihr wirklich über die Schultern ins Tagebuch schauen zu können.

Tom Saller: Ich bin Anna. Kanon Verlag, 260 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-98568-103-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783985681037

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 10. April 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

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