Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Ich bin Anna
Letzter Tipp: Wir sehen uns im August

Die Zukunft der Wahrheit

Publiziert am 3. April 2024 von Matthias Zehnder

Werner Herzog kennen wir als kompromisslosen Filmemacher. Mein Lieblingsfilm von ihm ist «Fitzcarraldo» aus dem Jahr 1982: Klaus Kinski spielt darin die Titelfigur Brian Sweeney Fitzgerald, der es sich in den Kopf gesetzt hat, im peruanischen Dschungel ein Opernhaus zu errichten. Höhepunkt des Films ist eine Szene, in der Fitzcarraldo indigene Arbeiter ein Dampfschiff über einen Berg ziehen lässt. Später hat Werner Herzog sich seinen eigenen Operntraum verwirklicht und Opern inszeniert, darunter Wagners «Lohengrin» an den Bayreuther Festspielen und den «Fidelio» von Beethoven an der Mailänder Scala. In den letzten Jahren ist Werner Herzog auch als Autor in Erscheinung getreten. 2021 hat er seinen ersten Roman veröffentlicht. «Das Dämmern der Welt» erzählt die wahre Geschichte eines japanischen Soldaten, der auf einer Pazifik-Insel stationiert war und den Informationen über die Beendigung des Zweiten Weltkrieges misstraute. 2022 publizierte Herzog seine Memoiren. Jetzt hat er ein Buch über die Wahrheit vorgelegt. Es ist ein autobiographisch gefärbter Essay über die Frage, ob es so etwas wie Wahrheit gibt im Film, in der Poesie, der Kunst und der Musik. In meinem 198. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich auch dann lohnt, dieses Buch zu lesen, wenn sie mit den Filmen von Werner Herzog nichts anfangen können.

Im Alltag ist eine Aussage wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wenn ich also sage: «Es regnet» und draussen regnet es tatsächlich, dann ist der Satz wahr. Scheint dagegen die Sonne, dann ist der Satz falsch. Anders ist es, wenn ich sage: «Der Morgenstern ist der Abendstern.» Dieser Satz ist immer wahr, weil sowohl der Morgenstern als auch der Abendstern die Venus meinen. Wahr ist er, weil er exakt die Realität widerspiegelt. Aber was ist mit künstlerischen Werken wie Filmen, Gemälden oder Fotografien? Inwiefern können sie wahr sein? Dieser Frage geht Werner Herzog in seinem Buch nach. Er betont dabei, dass er kein Spezialist sei und auch kein Philosoph. Was er schreibt, basiert auf seinen eigenen Beobachtungen und den persönlichen Erfahrungen. In seinem Buch kreist er das Phänomen der Wahrheit ein, indem er Geschichten erzählt: persönliche Erlebnisse etwa von Dreharbeiten, aber auch Geschichten rund um historische Begebenheiten. Etwa die Geschichte über die Fotos der Südpol-Expedition von Robert Falcon Scott.

1911 lieferten sich zwei Polarforscher ein Wettrennen in der Antarktis. Der Brite Robert Falcon Scott und der Norweger Roald Amundsen wollten beide den Südpol erreichen. Amundsen gewann das Rennen und erreichte am 14. Dezember 1911 als erster Mensch den Südpol. Als Robert Scott einen Monat später ebenfalls eintraf, fand er ein Zelt und die norwegische Flagge. Scott verlor aber nicht nur das Rennen, sondern auch das Leben: Er und seine ganze Mannschaft starben auf dem Rückweg, nur wenige Kilometer vom Depot ihres Basislagers entfernt. Nach der Rückkehr von Amundsen hatten vor allem englische Medien Zweifel daran, dass der Norweger wirklich den Südpol erreicht hat. Den Beweis erbringen, ausgerechnet, die Fotos der Expedition von Scott: Die Negative werden Monate nach dem Tod der Forscher gefunden, nach England gebracht und da entwickelt. Tatsächlich zeigen sie Scott und seine enttäuschten Begleiter am Südpol, wo Amundsens Flagge weht. Es gab keinen besseren Beweis dafür, dass Amundsen die Wahrheit gesagt hatte: Er hatte tatsächlich als erster Mensch den Südpol erreicht. Amundsen war der Sieger – aber die Bilder und die Geschichte von Scott überschatteten ihn. Diese Geschichte erzählt Werner Herzog, um uns vor Augen zu führen, dass Wahrheit oft ein Konstrukt ist, das einem bestimmten Narrativ folgt.

Besonders spannend sind seine Ausführungen über Gefühle. Sie folgen der einfachen Frage: Welche Wahrheit steckt in Gefühlen? Gibt es wahre und falsche Gefühle? Sein Ausgangspunkt ist der Tod von Prinzessin Diana. Der Unfall der Princess of Wales im Tunnel in Paris hatte weltweit zu aberwitzigen Ausbrüchen von Tränen und Trauer geführt. Er habe diese Gefühle damals als falsch empfunden. Doch offensichtlich gibt es keine falschen Gefühle. Gefühle sind immer echt. Als Beweis dafür erzählt Herzog von der Oper. Er schreibt:

Ich habe Opern inszeniert, und bei Opern wird ein nahe verwandter Prozess deutlich. Die Gefühle sind in ihnen so verdichtet, wie es in der Mathematik die letzten, nicht mehr beweisbaren und weiter nicht reduzierbaren Axiome sind. Die Gefühle der Grossen Oper kommen in dieser Art eigentlich gar nicht in der Natur, der Menschennatur, vor, aber wir besetzen diesen «undenkbaren» Kern mit der vollen Bandbreite von Gefühlen, die auf geheimnisvolle Weise irgendwie echt erscheinen, wahrhaftig. Das funktioniert aber im Falle der Oper nur im Zusammenspiel mit der Macht der Musik, die das Unglaublichste möglich macht. In derselben Weise werden auch Stories vollkommen glaubwürdig, die es in der menschlichen Erfahrung so gar nicht geben kann. Das Unfassbare, das Unmögliche, wird logisch und ganz selbstverständlich.

Auf Filmschulen wird den Studenten in Drehbuchseminaren immer wieder eingebläut, auf die Glaubwürdigkeit der Story zu achten. Diese Glaubwürdigkeit wird von Nebengeschehen umrankt, ein ganz künstlicher Vorgang, der zu den formelhaften, leblosen Konstrukten der Filmindustrie geführt hat. Fast alles ist dadurch vorhersehbar, fast alles sind Totgeburten. Bei der Oper ist in der Regel das Gegenteil der Fall. In Opernführern die Stories im Schnellgang durchzugehen, ist eine meiner geheimen Leidenschaften, Geschichten, die undenkbar sind, die sich aller statistischen Wahrscheinlichkeit entziehen, werden auf einmal wahr, aber es braucht dazu die Welt der Oper, weil sich mit ihr durch die Musik alles verwandelt. Oper gelingt dann, wenn sie in der Lage ist, eine ganze Welt in Musik zu verwandeln. (S. 32 f.)

Das ist letztlich der Kern seines Buchs: Wahrheit und Echtheit in der Kunst haben nichts mit den herkömmlichen Begriffen von faktisch wahr und zutreffend zu tun. Deshalb, dies sei am Rande bemerkt, sind Journalismus und Belletristik auch zwei ganz unterschiedliche Dinge. Im Fall von Werner Herzog ist diese Differenzierung nicht ganz so einfach, weil Herzog auch viele Dokumentarfilme gedreht hat. Wie steht es um die Wahrheit in einem Film, der von sich behauptet, wahr zu sein? Herzog schreibt, er habe sich stets vehement gegen den Irrglauben gestellt, dass Fakten mit Wahrheit identisch seien.

Herzog grenzt sich deshalb scharf ab von den Vertretern des so genannten Cinema Vérité. Das heisst wörtlich übersetzt «Kino der Wahrheit» und bezeichnet einen dokumentarischen Filmstil, der in den 1950er und 1960er Jahren entstanden ist. Die Filmemacher des Cinema Verité wollen die Realität so unverfälscht wie möglich abbilden. Sie verzichten auf dokumentarische Erzählweisen, auf Voice-Over-Kommentare oder nachträgliche Inszenierungen. Stattdessen versuchen sie, mit tragbaren Kameras und natürlicher Beleuchtung möglichst authentische und ungeschminkte Momentaufnahmen des Lebens einzufangen. Herzog schreibt dagegen:

Im Unterschied zu den Postulaten des Cinema Vérité habe ich immer darauf bestanden, dass nur durch Stilisierung, Erfindung, Poesie und Phantasie eine tiefere Schicht von Wahrheit erkundet werden kann, eine, die uns jenseits des Vermittelns reiner Information ein fernes Echo von etwas ermöglicht, das uns innerlich erleuchten kann. Dazu habe ich den Begriff «ekstatische Wahrheit» geprägt. Es ist dies, wie das griechische Wort bedeutet, eine Ek-Stasis, ein Aus-Sich-Heraustreten – eine Erfahrung, die man bei spätmittelalterlichen Mystikern beobachten kann. Aber nicht nur sie haben an einer Erfahrung jenseits des Faktischen teilgenommen, wir begegnen dieser Suche immer wieder in der Literatur und der bildenden Kunst.

Meine drei Kronzeugen sind der Schriftsteller André Gide, der gesagt hat: «Ich verändere Fakten in solcher Weise, dass sie der Wahrheit mehr ähneln als der Realität». Und dazu gleich Shakespeare, der schreibt: «The most truthful poetry is the most feigning», «Die wahrhaftigste Dichtung ist die, die am meisten vortäuscht». Der am einfachsten verstehbare Zeuge aber, den ich aufrufen kann, ist Michelangelo mit seiner Skulptur der Pietà von 1499 in der Sankt-Peters-Basilika in Rom. Diese Pietà ist wohl die schönste, die es in der Geschichte der Kunst gibt. Michelangelo hat aber intensiv in die Fakten eingegriffen. Er wollte ein Bildwerk des Herzens herstellen, gewiss kein rein realistisches. Ich fühle mich dabei an Caspar David Friedrich erinnert, der bei seinem «Wanderer über dem Nebelmeer» und seinem «Mönch am Meer» keine realistischen Landschaften malen wollte, sondern Landschaften der Seele. (S. 79f.)

Um diese Landschaften der Seele geht es Werner Herzog in seinem Buch, nicht um eine Topographie des Faktischen, um die Höhenkurven der journalistischen Welt und die Isobarenwerte der Trends. Es geht um die innere Wahrheit. Michelangelo hat in seiner Pietà Jesus als einen dreiunddreissigjährigen Mann dargestellt, seine Mutter aber als fünfzehnjähriges Mädchen, als Jungfrau Maria. Michelangelo hat mit seiner Skulptur keine realistische Szene in 3D dargestellt, er zeigt die Essenz der beiden Personen. Den von Schmerzen gepeinigten Mann, der gerade vom Kreuz abgenommen worden ist, und seine Mutter, die Jungfrau.

Das ist, in den Worten von Werner Herzog, keine faktische, sondern eine ekstatische Wahrheit, wie er sie auch in seinen Filmen gesucht hat. Zu Beginn von «Fitzcarraldo» kommt Klaus Kinski in einer entlegenen Missionsstation an. Ein Missionar klagt ihm, dass sich die Ureinwohner nur schwer zum Christentum bekehren lassen. Der Missionar sagt: «Wir können sie nicht von der Vorstellung abbringen dass die Wirklichkeit nur eine Illusion ist, hinter der sich die Realität der Träume verbirgt.» Fitzcarraldo antwortet darauf mit einem Satz, den man jederzeit auch Werner Herzog abnehmen würde: «Das interessiert mich. Wissen Sie, ich bin ein Mann der Oper.»

Das ist auch Werner Herzog: Ein Mann der wahren Gefühle. Sein Buch ist eine Meditation über die Wahrheit der Kunst. Es lohnt sich, in seinen Geschichten-Kosmos einzutauchen. Nicht nur, weil Sie dabei Fitzcarraldo begegnen.

Werner Herzog: Die Zukunft der Wahrheit. Hanser, 112 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-446-27943-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279438

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 3. April 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/