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Wild Herbeigesehntes

Publiziert am 17. April 2024 von Matthias Zehnder

Das ist mein 200. Buchtipp. Im Februar 2020, als zu Beginn der Corona-Krise alle Buchhandlungen schliessen mussten, habe ich damit begonnen. Bereits 199 mal habe ich Ihnen seither ein Buch zur Lektüre empfohlen, das «ebenso intelligent wie unterhaltend» ist. Es sind Bücher, die es ermöglichen, in Geschichten abzutauchen und geistig Abenteuer zu erleben. Geschichten, die Spannung versprechen, das aber auf «intelligente» Art und Weise. Das ist natürlich eine persönliche Wertung. Ich meine damit Bücher, die mich überraschen, erhellen und erfreuen. Die Sprache ist mir dabei besonders wichtig. Sprache ist so viel mehr als grammatikalisch korrekt formulierte Sätze à la ChatGPT. Sprache kann poetisch sein und viel mehr ausdrücken, als die Worte sagen. Sprache kann klingen und wie Musik in mir Nachklingen. Solche Bücher suche ich jede Woche. Ich habe mir deshalb lange überlegt, was für ein Buch ich Ihnen als meinen 200. Buchtipp ans Herz legen könnte. Meine Wahl ist auf einen Band mit frühen Erzählungen des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer gefallen. Warum ich das Buch gewählt habe, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 200. Buchtipp.

Erzählungen und Romane erzählen Geschichten und erschaffen damit Welten. Dabei können sie ganz unterschiedlich vorgehen. Sie können zum Beispiel eine vergangene Realität abbilden. So gehen historische Romane vor: Als Leserin, als Leser reisen Sie auf dem Zeitstrahl zurück. Oder die Romane zeichnen eine künftige Realität. Als Leserin, als Leser reisen Sie auf dem Zeitstrahl vorwärts in eine mögliche Zukunft. So gehen Science Fiction-Romane vor. Dann gibt es Romane, die eine alternative Realität schaffen. Wenn Sie einen Fantasy-Roman lesen, bewegen Sie sich in einer anderen Welt, also auf einem alternativen Zeitstrahl. Die Geschichte bleibt aber in sich logisch. Surreale Erzählungen verabschieden sich auch von der Logik, wie wir sie kennen: Sie zeichnen surreale oder absurde Welten.

Die Erzählungen von Urs Widmer passen nicht in dieses Schema. Eigentlich bilden sie die Realität ab. Urs Widmer beschreibt, oft in ganz knappen Worten, was er sieht. Seinen Garten, eine Strasse, das Quartier, in dem er aufgewachsen ist, die Arbeit. Doch die Realität ist brüchig. Eh man sichs versieht, öffnen sich im harmlosen Vorgarten Abgründe. Das Unheimliche und das Phantastische sind immer nur einen Gedanken weit weg. Besonders gut zu sehen ist das in seiner berühmtesten Erzählung, «Der blaue Siphon», aber eben auch in seinen frühen Erzählungen, die in diesem Band versammelt sind.

In der Erzählung «Das Normale und die Sehnsucht» fragt Urs Widmer:

In welchem Mass ist die Wirklichkeit das, was wir denken, es sei die Wirklichkeit? Wie reagieren wir darauf, dass wir, obwohl diese Wirklichkeit wie eine nasse Seife nicht recht zu fassen ist, mit der Notwendigkeit ausgerüstet sind, uns an das Geflecht der Spielregeln anzupassen, das wir bei unserm Erscheinen auf der Welt vorfinden? Ist unsre individuelle Entwicklung nur ein Anpassungsprozess? Wie gern, wie ungern geben wir mehr und mehr die privaten Bedeutungen unserer Kinderwörter zugunsten des gemeinsamen Nenners auf, auf den sich die vielen vor uns schon geeinigt hatten? Ist die Sprache ein Anker, mit dem wir uns in der Aussenwelt festhalten? Geben wir mit dem Annehmen von Sprache vor allem auch zu erkennen, dass wir bereit sind, die Realität und deren Spielregeln zu akzeptieren? Sind die elementarsten Gedanken, Sehnsüchte, Gefühle ausserhalb der Sprache angesiedelt? Kollidieren die Sehnsüchte mit der Wirklichkeit?

In diesem Abschnitt steckt alles, was Sie wissen müssen, wenn Sie Urs Widmer lesen. Diese Wirklichkeit, die wie eine nasse Seife nicht recht zu fassen ist. Entwicklung als Anpassungsprozess. Die geheimen Bedeutungen unserer Kinderwörter, die wir zu Gunsten des gemeinsamen Nenners aufgeben. Die Sprache als Anker, mit dem wir uns in der Aussenwelt festhalten. Gedanken, Sehnsüchte und Gefühle, die ausserhalb der Sprache angesiedelt sind. Und dann vor allem: der Konflikt zwischen Sehnsüchten und Wirklichkeit.

Besuch bei Urs Widmer. Bild: Heiner Schmitt, 2008

Widmers Schreibklause in Zürich.

Urs Widmer ist 1938 in Basel geboren und vor ziemlich genau zehn Jahren in Zürich gestorben. Da, in seinem kleinen Arbeitshaus, habe ich ihn im Jahr 2008 besucht und mit ihm über sein Schreiben gesprochen. Max Frisch hat einmal gesagt: «Der Wahrheit kann nur die Fiktion gerecht werden.» Ich habe Urs Widmer gefragt, ob er dem zustimme. Widmer sagte mir damals: «Er hat recht. Das ist die Aufgabe der Literatur – wenn man das Wort ‹Wahrheit› brauchen will. Ich würde lieber ‹Wirklichkeit› sagen. Aus dem unstrukturierten Chaos etwas so auszuwählen, dass es Struktur hat – das ist das, was einen beim Lesen glücklich macht. Das geht nur über die Fiktion.» Für Urs Widmer war Fiktion also nicht Flucht, sondern Ordnung – und damit Rettung.

Widmer schrieb Theaterstücke, Erzählungen und Romane. Er sagte mir: «Bei der Prosa und beim Theater bin ich wie ein Quartalssäufer. Ich schreibe Prosa und erhole mich beimTheater. Und umgekehrt. Ich weiss nur, was ich nicht kann: Es ist mir noch nie ein gutes Gedicht gelungen. Das ist bedauerlich, aber es ist so.»

Urs Widmer schrieb seine Texte mit der Schreibmaschine. Dann redigierte er sie auf Papier, strich, schnitt aus, klebte neu zusammen und schrieb das überarbeitet Manuskript wieder ab. Diesen Prozess wiederholte er mehrmals. Er behauptete, er schreibe jedes Buch sieben Mal. Ich habe ihn gefragt, ob wir heute in einer Welt voller Blabla, im Zeitalter von SMS, E-Mails und Internet eine andere Sprache brauchen. Widmer sagte mir: «Wir müssen heute vielleicht besonders laut rufen oder gerade besonders leise sein, in einer Welt, die voller Wörter-Lärm ist. Trotzdem glaube ich, dass gerade das Medium Buch, bei dem immer noch ein Einzelner mit einem Einzelnen redet, die Chance hat, die Stille wiederherzustellen. Wenn jemand auf dem Sofa sitzt und ein Buch von mir liest, dann stellt er diese enge Beziehung zu mir her, die sich wenig von der zwischen einem Leser und Gottfried Keller unterscheidet.»

Besuch bei Urs Widmer. Bild: Heiner Schmitt, 2008

Genau das ist es, was ich an den Texten von Urs Widmer liebe: Es stellt sich eine Zweisamkeit mit einem Schriftsteller ein, dem ich mich nahe fühle.

Ein Beispiel für seine Erzählkunst im vorliegenden Band ist «Die Amsel im Regen im Garten» aus dem Jahr 1971. Ein namenloser Ich-Erzähler sitzt an einem regnerischen Tag im Garten seines Hauses und beobachtet eine Amsel, die vergeblich versucht, ihre Jungen zu füttern. Man könnte vielleicht sagen, der kurze Text sei eine Meditation über Einsamkeit, Vergänglichkeit und die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Aber das ist viel zu kompliziert ausgedrückt. Widmer schreibt in einfachen, klaren und kurzen Sätzen. Man liest den Text so, wie man in kleinen Schlucken ein Glas Milch trinkt. Es ist das Selbstverständliche an seinen Texten, das einem als Leser zu schaffen macht. Es ist das Einfache, das bleibt. Die Meditation kommt später.

«Spiegelt die Kunst die triste Tatsache, dass die menschliche Phantasie und die Wirklichkeit auseinanderklaffen?», fragt Widmer in seinem Erzählband. «Könnte jeder kreativ arbeiten, der die Angst überwunden hat?» Er hat diese Angst überwunden. Hat sich freigeschrieben von den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft, die konventionelle Welt sprachlich und erzählerisch durchbrochen. Das schönste Beispiel dafür ist «Der blaue Siphon». In diesem Erzählband ist schon sichtbar, wie Urs Widmer das macht. Es reichen ihm wenige Sätze, um die Oberfläche der sachlichen Welt zu durchstossen und in seiner Phantasie zu landen, in der Geschichte oder von einer Geschichte. Zentral sind dabei Sinneseindrücke. Das Summen der Hornissen im Dachstock, der Geruch der Erde vor dem Regen, das Geräusch, wenn man die Schuhe aus dem Sumpf zieht. Und hinter dieser einfachen Welt der klaren Dinge wartet der Abgrund der Gedanken, Sehnsüchte und Gefühle. Wirklichkeit und Kunst klaffen auseinander. Müssen auseinanderklaffen.

Möchte die Kunst, dass die Wirklichkeit sie einholt? Ist es ihr Ziel, sich selber abzuschaffen? Kann Kunst, weil die Realität stärker ist als die Sehnsüchte, nur sozusagen bewusst scheitern, mindestens so lange die Spielregeln unserer Gesellschaft dem die grössten Erfolge zuerkennen, der, mit welchen Mitteln auch immer, am meisten Dollars, Mark und Franken in sein Sparschwein tut? Wäre die Sehnsucht erfüllt, wenn das Bild der innern Wirklichkeit mit der äußern zur Deckung gebracht würde? Würden, täten, hätten und könnten wir dann endlich?

Würden, täten, hätten und könnten wir? Mindestens in den Büchern von Urs Widmer können wir.

Urs Widmer: Wild Herbeigesehntes. Frühe Erzählungen. Diogenes, 336 Seiten, 35 Franken; ISBN 978-3-257-07301-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257073010

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 17. April 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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