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Täuschend echt
Jahrelang hat er als Werbetexter in einer Agentur gearbeitet und exklusiv für einen Frühstücksflockenproduzenten Müsli-Prosa gedrechselt. Sein Chef hat ihn sogar mit einem speziellen Vertrag an die Agentur und den Müsliproduzenten gebunden. Doch dann kommt es zur dreifachen Katastrophe: Unser Werbetexter entdeckt, dass chattende KI-Sprachprogramme solche Müslitexte viel rascher und geschmeidiger produzieren als er selbst, die Müslifritzen wechseln die Agentur, was ihn prompt den Job kostet, und seine Freundin verlässt ihn. Sie hinterlässt ihm ein leeres Bankkonto und ihr Haustier, passenderweise eine Schlange. So sitzt unser Werbetexter jetzt in seiner Wohnung und hat Arbeitsstelle, Freundin und Stolz verloren. Nur die KI hört ihm weiterhin zu. Also beginnt er, mit dem Programm zu experimentieren. Seiner Nachbarin gegenüber behauptet er, er habe seinen Job als Werbetexter fristlos gekündigt, weil er nicht für einen Rohstoffhändler arbeiten wollte, der in Afrika die Natur zerstöre. Worauf sie ihn mit einem Mäzen zusammenbringt, der bei ihm eine Geschichte über ausgebeutete Menschen in Auftrag gibt. Charles Lewinsky knüpft aus diesem Stoff einen spannenden Roman, der sich um grosse Fragen dreht: Was ist eine echte Geschichte? Was ist echte Sprache? Was ist der Unterschied zwischen menschlicher Kreativität und der ach so fehlerlos produktiven KI? Das Schöne daran ist, dass Lewinsky uns das nicht explizit auf die Nase bindet, sondern in seinem Buch zeigt. In meinem 230. Buchtipp sage ich Ihnen, wie er das genau macht.
Ein Roman hat eine Geschichte: Figuren erleben eine Handlung. Eine solche Geschichte lässt sich erzählen wie ein Protokoll oder wie ein erzählter Film. Zu Literatur wird eine solche Erzählung, wenn die Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt ist, interessant und anregend ist. Wenn Sprache und Form also eine eigene Bedeutung erhalten. Genau das löst Charles Lewinsky in seinem neuen Roman ein … und führt es gleichzeitig vor und ad absurdum.
Die Geschichte dreht sich um einen entlassenen Werbetexter, der ChatGPT entdeckt und damit beginnt, mit der KI Geschichten zu generieren. Weil ihn seine Freundin verlassen und dabei auch noch sein Bankkonto geleert hat, will er zu Beginn die KI dazu bringen, eine Geschichte zu schreiben, in der eine Frau Angst vor einem Mann hat. Nur so zum Spass. Nein, nicht zum Spass. Es ist eine Art literarische Rache, nur mit KI statt mit Literatur. Andere schauen sich Horrorfilme an, unser Werbetexter setzt sich vor den Computer und lässt ihn schreiben. Die Bilder macht er sich selber. Je grausamer der Text ausfällt, desto mehr geniesst er es.
Dabei verstrickt er sich selber immer mehr in das Erfinden von Geschichten. Gegenüber Belle, seiner Nachbarin, behauptet er, er habe seine Stelle verloren, weil er einen Werbeauftrag moralisch nicht habe verantworten können. Belle ist begeistert von so viel Prinzipientreue und macht ihn mit einem vermögenden Freund bekannt. Frank stammt aus alter, vermögender Familie und möchte Menschen, die aufgrund von Klimawandel, Kolonialismus oder Ausbeutung ein schlimmes Schicksal erlitten haben, eine Plattform geben. Der Mann plant eine ganze Weltverbessererbibliothek. Er stellt unseren Werbetexter dafür ein, diese Geschichten zu erzählen. Wahre Geschichten von wirklichen Menschen.
Ich soll, so haben sich Frank und Belle das ausgedacht, das erste Buch der Reihe schreiben. Auf der Basis von Materialien, die sie mir organisieren würden. Mit welchem Thema ich anfangen wolle, sei mir überlassen. Man wolle einem kreativen Menschen nicht die Hand führen.
«Nur auf etwas muss ich bestehen», sagte Frank. «Sie müssen sich bei der Arbeit streng an die Fakten in den Unterlagen halten. Es darf nichts dazuerfunden werden. Absolut nichts. Es geht nur darum, die dokumentierten Tatsachen in wirkungsvollere Worte zu fassen.»
«Und damit kennst du dich ja aus, als erfahrener Werber», meinte Belle.
«Wenn Sie Unterstützung für zusätzliche Recherchen brauchen, ist das kein Problem. Stellen Sie einfach jemanden ein. Ich gebe Ihnen da ganz freie Hand.» (Seite 136)
Ein Traumjob: Das Gehalt ist fürstlich, die Aussichten rosig – was könnte da schiefgehen? Natürlich alles, sonst wäre es die Geschichte nicht wert, erzählt zu werden. Unser Werbetexter scheitert an seiner Aufgabe. Er stellt fest, dass das, was Frank und Belle ihm in ihren Unterlagen geliefert haben, keine Geschichten sind, sondern nur Schicksale. Er verzweifelt daran, dass die Wirklichkeit keine Dramaturgie hat. Seine Müslitexte, die hatten zwar keinen literarischen Wert, aber immerhin eine klare Struktur.
Und, ganz wichtig: Es gab, wie es sich für eine gute Story gehört, einen klar definierten Feind: Der weiße Ritter Müsli im heldischen Kampf gegen die gesammelten Frühstücksbösewichte. Die Verbrecherbande aus Käsestulle, Spiegelei und Schinken mit ihren hinterhältigen Cholesterinattentaten. Das waren Gegenspieler, die man mit all ihren teuflischen Auswirkungen im Detail beschreiben konnte.
In den Broschüren, von denen ich ausgehen soll, bleibt der Feind anonym. Unpersönlich. Die Erderwärmung. Der ansteigende Meeresspiegel. Ein Krieg, ganz weit weg, der die Lebensmittelpreise explodieren lässt. Auch die internationalen Konzerne, die den Regenwald abholzen, um Ölpalmen zu pflanzen, bleiben gesichtslos. (Seite 139)
Franks Auftrag lautet: «Es darf nichts dazuerfunden werden. Absolut nichts. Es geht nur darum, die dokumentierten Tatsachen in wirkungsvollere Worte zu fassen.» Das erweist sich als unlösbarer, innerer Widerspruch. Tatsachen sind noch keine Geschichten. Unser Werbetexter muss den Auftrag also zurückgeben – oder gegen die Bedingung verstossen. Natürlich macht er genau das: Mit viel Hilfe von der KI erfindet er das Schicksal einer afghanischen Frau, die in Deutschland aufwächst, von ihren Eltern aber nach Afghanistan verschleppt und da gegen ihren Willen mit einem älteren Mann verheiratet wird. Er nutzt dabei Teile der Geschichte, die er bereits von der KI hat schreiben lassen.
Und natürlich kommt die erfundene Geschichte viel besser an als die realen Fakten. Frank feiert ihn geradezu als Helden. Als das Buch gedruckt wird kommt es zur grössten anzunehmenden Unwahrscheinlichkeit: Denis Scheck will das Buch in seiner Sendung «Druckfrisch» in der ARD empfehlen. Scheck schwärmt von dem Buch – was seitens Lewinsky gleich ein doppelter Tritt ans Schienbein des ARD-Literaturpapstes ist. Schliesslich hält Scheck am Anfang seiner Sendungen ein Buch in die Kamera und erklärt, warum man es unbedingt lesen sollte. Dabei sagt er am Ende immer: «Vertrauen Sie mir, ich weiss, was ich tue.»
Weiss er offensichtlich nicht: Er empfiehlt den weitgehend von einer KI geschriebenen Erlebnisbericht einer erfundenen Afghanin und fällt damit inhaltlich auf die erfundene Geschichte herein – und sprachlich auf die KI. Die grosse Aufmerksamkeit durch die ARD-Sendung bringt den Werbetexter in Bedrängnis. Denn Literaturpapst Scheck will mit der Afghanin sprechen. Das gibt Charles Lewinsky Gelegenheit, das Credo von Friedrich Dürrenmatt einzulösen: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat». Welche Wendung das ist, sei hier nicht verraten.
Zu Literatur macht die Geschichte aber nicht ihre Handlung, sondern die Art und Weise, wie Lewinsky sie erzählt. Der Roman besteht aus zwei Textebenen: Lewinsky erzählt die Geschichte aus Sicht des Werbetexters im Stil eines stream of consciousness: Wir blicken also quasi ins Gehirn des Werbetexters und folgen mehr oder weniger seinem Bewusstseinsstrom. Die zweite Textebene sind die Texte aus dem Computer. Darunter einige Wikipedia-Einträge und vor allem Texte, die von ChatGPT und Neuroflash generiert worden sind. Diese Textstellen sind jeweils kursiv gedruckt.
Interessant ist schon formal der Kontrast zwischen dem Gedankenstrom der Hauptfigur und den generierten Textstellen. ChatGPT schreibt, das wissen wir mittlerweile, grammatikalisch perfekt und eloquent, aber so spannend wie ein Stück Zellophan: Es sind Sprachhülsen voller Klischees. Im Gegensatz dazu kommt der Bewusstseinsstrom des Werbetexters immer wieder ins Stocken. Er stolpert, setzt neu an, korrigiert sich und kollidiert dabei auch immer wieder mit der Sprache.
Ein Beispiel dafür ist die Erkenntnis, dass ihm das Lügen und Geschichtenerfinden gefällt:
Ich weiß, warum mich dieses Spiel so fasziniert. Warum es mich so aufgeregt macht. So lebendig. So
Geil. Sei ehrlich und schreib es hin. Das Spiel macht mich geil.
Weil es mir Macht verleiht. (Seite 92)
Vor der Erkenntnis, dass ihn das Spiel «geil» macht, klaffen im Buch zwei Abschnitte. Der Schreiber denkt – und das Denken nimmt eine Wendung. Oder als der Werbetexter entlassen wird:
Rausgeschmissen. Anderberg hat mich entlassen. Nachdem ich gerade noch sein bester und tüchtigster Mitarbeiter war. Aus heiterem Himmel auf die Straße gestellt.
Der Himmel war nicht heiter. Es hat gepisst wie die Sau. Passend für eine Beerdigung. (Seite 54)
Man spürt richtig, wie es im Kopf des Texters arbeitet, wie ihm die Sprachhülse «aus heiterem Himmel» sauer aufstösst. Oder:
Ich habe dann bei einem Landgasthof angehalten, um mich nach dem Weg zu erkundigen. Es war schon Mittag, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, um eine Kleinigkeit
Wieso schreibt man automatisch solchen Unsinn hin? Ich bin nicht der Typ, der sich beim Essen mit Kleinigkeiten zufriedengibt. (Seite 212)
Eine weitere solche Stelle:
Damit war ich beim springenden Punkt angekommen, und
Ein seltsamer Ausdruck. Was für ein Punkt springt da eigentlich? (274)
Wie weiland Lord Chandos wird unserem Werbetexter beim Schreiben die Sprache selbst unheimlich, ja sie zerbröselt ihm unter den Händen beim Schrieben. Er hinterfragt stehende Ausdrücke und reibt sich verwundert die Stirn, wenn er mal wieder in eine Klischeefalle getappt ist. Er schaut sich selbst beim Schreiben zu, bricht ab, setzt neu an und verheddert sich. So, wie wir das alle tun. Weil wir Menschen immer wieder Mühe haben, unsere Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Die KI hat dieses Problem nicht, weil sie keine Gedanken und Gefühle hat, sondern nur Worte. Sie türmt schamlos Klischee auf Klischee, wobei: schamlos wohl auch der falsche Ausdruck ist. Die KI basiert auf Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik, deshalb kann sie nur eine Sprache liefern, die bereits abgegriffen ist, weil sie nur aus statistisch zusammengestoppelten Wörtern besteht. Für Müslitexte ist das gut genug. Was den Unterschied zwischen einem generierten Text und Literatur ausmacht das, nein: sagt Lewinsky eben nicht. Er zeigt es. Und das ist grossartig.
Entstanden ist dabei eine wunderbar verzwickte Auseinandersetzung über die Echtheit von Geschichten und die Wirklichkeit von Sprache. Dabei wird klar, dass eine gute Täuschung echte Kunst ist … und ein gutes Kunstwerk immer wahr wirkt.
Charles Lewinsky: Täuschend echt. Roman. Diogenes, 352 Seiten, 35.00 Franken; ISBN 978-3-257-07306-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257073065
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 14.11.2024, Matthias Zehnder
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