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Gesichter
Dieser Roman der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen ist bereits 1968 erschienen. Der Aufbau-Verlag hat ihn jetzt in einer neuen Übersetzung herausgebracht. Genau zur rechten Zeit. Die Geschichte handelt von Lise Mundus. Sie ist eine erfolgreiche Kinderbuch-Schriftstellerin in Dänemark Ende der 60er-Jahre. Ihr letztes Buch wurde sogar mit dem Kinderbuchpreis der dänischen Akademie ausgezeichnet. Bloss: Seit der Preisverleihung hat Lise Mundus keinen einzigen Buchstaben mehr geschrieben. Von aussen gesehen könnte sie glücklich sein. Sie lebt mit einem Mann, drei Kindern und einer Haushälterin in einer grosszügigen Wohnung. Doch Lise entgleitet ihr Leben immer stärker. Sie verlässt das Haus nicht mehr. In den Wasserrohren hört sie Stimmen. Schliesslich weist sie sich selbst in eine psychiatrische Klinik ein. In meinem Buchtipp sage ich Ihnen, warum die deutschsprachige Neuauflage des Romans von Tove Ditlevsen jetzt genau zur rechten Zeit kommt.
Sie passte nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit: Tove Ditlevsen, 1917 in Kopenhagen geboren, stammte aus der Arbeiterschicht. Als sie 14 war, verliess sie die Schule, als sie 17 war, ihr Elternhaus. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Bürogehilfin und schrieb daneben Gedichte. In ihren autobiographischen Romanen schrieb sie offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Vor allem über die Tiefen. Ihre Jugend im Arbeitermilieu, das Scheitern ihrer Ehen, ihre Krisen: Schwangerschaftsabbrüche, Sucht, Entzug, Psychosen, Selbstmordgedanken. 1976 holen sie ihre Dämonen ein: Im Alter von 59 Jahren stirbt Tove Ditlevsen durch eine Überdosis Schlaftabletten. Sie hat zeitlebens an sich gezweifelt. Doch heute gilt Tove Ditlevsen als eine der grossen literarischen Stimmen Dänemarks.
Die Hauptfigur im Roman «Gesichter» heisst Lise Mundus. Es ist ein kaum verhülltes Alter Ego der Schriftstellerin – Mundus war der Mädchenname der Mutter von Tove Ditlevsen. Lise Mundus ist zunehmend verzweifelt. Sie ist zwar äusserlich erfolgreich, ja preisgekrönt. Seit der Preisverleihung hat sie aber keine Zeile mehr zu Papier gebracht. Sie ist verzweifelt. Ihr Alltag und ihre Wahrnehmung entgleiten ihr immer mehr.
Ihr Mann Gert hilft ihr nicht. Er fasst ihren Ruhm als persönliche Beleidigung auf und behauptet, dass er nicht mit einem Stück Literatur ins Bett gehen könne. Er hat deshalb, ganz offen, zahlreiche Affären, unter anderem mit einer Frau namens Grete, die sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben nimmt, aber auch mit Haushälterin Gitte. Die nimmt in der Familie immer mehr den Platz von Lise ein und verdrängt sie. Selbst die Kinder haben vor Gitte mehr Respekt als vor Lise. Lise hört Stimmen, die sie überzeuge, dass Gert und Gitte sie nicht für gut genug halten und sie tot sehen wollen. Die Stimmen, die Lise hört, klingen wie die Stimmen von Gert und Gitte. Lise ist deshalb überzeugt, dass Gert und Gitte sie in den Selbstmord treiben wollen.
Lise will Gert und Gitte überlisten, indem sie ihnen zuvorkommt: Sie nimmt Schlaftabletten, weist sich aber noch rechtzeitig in eine Klinik ein. Drei Wochen bleibt sie in der psychiatrischen Klinik. Die Pflegerinnen und Pfleger sehen aus wie Gert und Gitte. Sie hört deren Stimmen im Kopfkissen. Sie reden ihr ein, dass sie nicht gut genug sei. Lise fällt es immer schwerer, Halluzinationen und reale Welt zu unterscheiden. Sie verstrickt sich in ihren Ängsten, nicht zu genügen und von der Welt entfremdet zu sein.
Dieses Gefühl macht das Buch für mich auch aktuell: Der Krieg in der Ukraine konfrontiert uns mit Ängsten, die Welt ist verrückt und wir von ihr entrückt, wir haben das Gefühl, hilflos zu sein und nicht zu genügen. Tove Ditlevsens packende Schilderung der Psychose von Lise Mundus trifft dieses Gefühl recht genau.
Besonders eindrücklich ist die Schilderung der Gesichter, die dem Roman den Titel gegeben haben. Sie spielen eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung von Lise. Gesichter sind für sie so etwas wie die Masken eines Wesens. Die Menschen können in Ihr Gesicht hinein- und aus ihm herauswachsen. Sie können es weglegen, wenn Sie schlafen gehen. Es gibt Menschen, die tierische Züge haben. Gert zum Beispiel sieht sie plötzlich mit Ohren, die enorm gross sind und mit Haaren überwuchert. Im Krankenhaus haben die Patientinnen Eselsgesichter. Je grösser Lises Angst wird, desto grotesker werden die Gesichter, die sie umgeben.
Tove Ditlevsen schildert die Wahrnehmungen aus der Perspektive von Lise Mundus. Mit Lise haben wir als Leser zunehmend Mühe, zu unterscheiden, was real und was psychotisch ist – denn für Lise sind die Wahrnehmungen ja so oder so real. Aus ihrer Perspektive sieht es vielmehr so aus, als wäre die Welt verrückt. Und genau da trifft das Buch unsere Zeit präzise: Dieses Gefühl, dass die Welt im Wortsinn ver-rückt sei. Und das ist sie ja auch. Oder?
Tove Ditlevsen: Gesichter. Roman. Neu übersetzt von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-351-03938-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351039387
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Basel, 8. März 2022, Matthias Zehnder
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