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Dschinns

Publiziert am 16. März 2022 von Matthias Zehnder

Dreissig Jahre lang hat Hüseyin Yılmaz in Deutschland geschuftet und gespart, damit er sich in Istanbul eine Wohnung kaufen konnte. Jetzt ist es endlich geschafft: Zum ersten Mal steht er in der eigenen Wohnung – und stirbt. Herzanfall: Zack, tot. Fatma Aydemir erzählt Hüseyins Geschichte aus sechs Perspektiven: Aus der Sicht von ihm selbst, aus der Sicht seiner Kinder Sevda, Peri, Hakan und Ümit sowie aus Sicht seiner Frau Emine. Alle sind sie nach Istanbul gereist, jetzt sind sie vereint in der Wohnung, die Hüseyin gekauft hat, erleben das Begräbnis des Vaters und erzählen ihre Vergangenheit mit ihm in Rückblenden. Es sind Geschichten vom Aufeinanderprallen von Kulturen und Generationen, voller Missverständnisse und Gefangenheiten. In meinem Buchtipp sage ich Ihnen, warum die Geschichten dieser türkisch-deutschen Familie auch uns in der Schweiz etwas angehen. 

Dreissig Jahre lang hat Hüseyin in Deutschland der Zulagen wegen alle Sonntagsdienste, Feiertagsdienste und Überstunden übernommen, um die Familie durchzubringen, um dem kleinen Ümit Fussballschuhe zu kaufen, um die Schulden von Hakan zu begleichen und trotzdem noch etwas zur Seite zu legen zu können. Nie war er sich zu schade für eine Arbeit. Jetzt hat er es geschafft: Er ist neunundfünfzig Jahre alt und Eigentümer einer geräumigen Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in Istanbul. Wenn in ein paar Jahren der kleine Ümit die Schule beendet und  Hüseyin endlich Deutschland, dieses kalte, herzlose Land, verlassen kann, dann gibt es diese Wohnung hier in Istanbul mit seinem Namen auf dem Klingelschild. Hüseyin! Er hat endlich einen Ort gefunden, den er sein Zuhause nennen kann. Und dann stirbt er in seiner neuen Wohnung. Einfach so. Ein scharfes Stechen im linken Arm, der Brustkorb wird immer enger, Herzanfall, tot.

Fatma Aydemir baut aus dem Tod des Patriarchen Hüseyin eine Familien-Tragödie: Ehefrau Emine und die Kinder, die beiden Töcter Sevda und Peri und die Söhne Hakan und Ümit versammeln sich um das Totenbett des verstorbenen Vaters. Jeder bringt seine eigene Geschichte mit, jeder seine eigene Perspektive auf den «Baba». Fatma Aydemir erzählt die Familiengeschichte deshalb aus sechs verschiedenen Blickrichtungen: Zuerst aus der Sicht des Vaters, dann folgen vier Kapitel, je eins aus der Perspektive eines der vier Kinder, zum Schluss die Sicht von Mama Emine. Dabei wechselt jeweils nicht nur die Perspektive, sondern auch die Sprache: Fatma Aydemir findet für jede ihrer Figuren einen eigenen Ton. Es sind Geschichten voller Missverständnisse, die Fatma Aydemir erzählt. Ab und zu blitzen dabei Sätze im Buch auf, die man sich dick und rot unterstreicht. Etwa diese Feststellung von Hüseyin: «Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin. Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit.»

Nicht nur Hüseyin ist in Deutschland einsam. Ümit, der jüngste Sohn, verliebt sich in einen Mitschüler und muss zur Konversionstherapie bei einem Psychologen antraben. Der versucht ihm einzureden, dass er in Wirklichkeit nicht homosexuell sei, sondern Probleme mit seinem Vater habe.

Die älteste Tochter, Sevda, holen die Eltern erst nach Deutschland, als sie schon 16 ist und eigentlich im kurdischen Heimatdorf mit einem Lehrer hätte verheiratet werden sollen. Doch Sevda weigert sich. Sie will zu den Eltern nach Deutschland und da arbeiten. Und lernen. Durch ihre Augen sehen wir Deutschland aus der Perspektive einer jungen Türkin.  

«Tatsächlich aber bemerkte Sevda selbst auch Dinge in Deutschland, die sie an Karlidag erinnerten: Es war ständig kalt, nachts herrschte Totenstille, und wenn Sevda und ihre Mutter auf dem Weg zum Einkauf anderen Menschen begegnet sind, wurden sie so neugierig angestarrt, als seien sie ein Rätsel, das gelöst werden musste. Nur dass die Menschen hier einander niemals grüssten.

Und sie bauten hier auch nichts in ihren Gärten an. Da war nur Gras, das regelmässig auf dieselbe Höhe getrimmt wurde und eingerahmt war von einem winzigen Zaun, der aus lauter kleinen X-en bestand. Der Sinn dieser Zäune, die einem höchstens bis zum Bauchnabel reichten, erschloss sich Sevda nicht. Weder schützten sind vor Einbrechern, noch waren sie hoch genug, um Wölfe oder Bären auszusperren. Sie schienen bloss dazu da, Anfang und Ende der Grundstücke zu markieren, damit Hakan und seine kleinen Freunde bloss nicht auf die Idee kommen, auf Gras zu spielen, für das ihre Eltern nicht bezahlt hatten.» (S. 95f.)

Peri, eigentlich Perihan, ist die Aufmüpfige in der Familie. Sie studiert Germanistik und ist wohl am ehesten das Alter Ego der Autorin im Roman. Nach der Beerdigung fragt Ümit sie, was ein Dschinn ist. Sie erklärt ihm, dass die Leute, wenn sie von einem Dschinn reden, Dinge meinen, die sie nicht erklären können. 

«‹Dschinns sind alles, was wir komisch finden, anders, unnatürlich. Wenn jemand nicht dem entspricht, was die meisten Menschen als normal empfinden, heisst es schnell: Der und der ist von einem Dschinn besessen.›
‹Weil Dschinns böse sind?›, fragt Ümit.
‹Das denken die Leute dann, aber eigentlich ist es gar nicht so. Dschinns sind weder gut noch böse … Wenn man nach dem Koran geht. Sie können beides sein oder nichts davon. Wie Menschen eben.› (S. 185)

Peri erinnert sich an Nietzsche, dessen fröhlicher Wissenschaft sie selbst beinahe verfallen war. Nietzsche hat einen Dschinn gehabt und der Dschinn hat am Ende von ihm Besitz ergriffen. Nietzsche wurde von seinen eigenen Ideen aufgefressen.

Alle in dieser Geschichte haben ihren Dschinn. Baba Hüseyn hatte seinen Dschinn, den er sich mit seinem Fleiss vom Hals zu halten versuchte. Der Dschinn hielt ihn immer beschäftigt, damit er sich nie mit seiner kurdischen Vergangenheit beschäftigen musste. Ümit hat seinen Dschinn, der ihn plagt und herausfordert und ihn fragt, wen er nun liebt. Sevda hat ihren Dschinn, sie sucht Anerkennung im deutschen Mittelmass und schuftet deshalb von früh bis spät. Sie hat es zu einer eigenen Pizzeria gebracht und dennoch plagt sie immer noch ihr Dschinn. 

Hakan hat seinen Dschinn. Der Bruder, er ist besessen von der endlosen Show seines Lebens. Er spielt ununterbrochen eine Rolle und weiss schon selbst nicht mehr, wer er eigentlich ist. Vermutlich glaubt er seine Geschichten mittlerweile selbst. Und Mutter Emine hat auch ihren Dschinn. Peri muss immerzu an ein hoffnungslos verheddertes Wollknäuel denken, wenn sie ihre Mutter sieht.

Die Familie ist gefangen von ihren Geistern, weil niemand auszusprechen wagt, was ihn wirklich beschäftigt.

«Die Stille des Raums saust in seinen Ohren wie eine bedrohliche Sirene, wie ein Feueralarm, wie der Lärm eines rollenden Panzers. Hakan kennt diese Stille. In dieser Familie wird niemals laut gestritten. In dieser Familie kämpft man immer so: mit bedeutungsvollen Blicken und abgewandten Augen, mit lauter Dingen, die nie ausgesprochen werden und darum umso schwerer in der Luft liegen, weil alle wissen, wovon das Nicht-gesagte erzählt und gegen wen es sich richtet. Schweigen ist die Waffe von Hakans Mutter, und war ebenso die Waffe seines Vaters. Schweigen ist der Soundtrack seiner Kindheit, wird Hakan klar.» (S. 281)

Es sind diese Dschinns, die dem Buch den Titel gegeben haben und die wir auch in der Schweiz nur zu gut kennen. Es ist dieses Schweigen, das auch wir Schweizer nur zu gut beherrschen. Deshalb hat dieses Buch über eine kurdisch-türkisch-deutsche Familie auch uns viel zu sagen. Und darüber hinaus ist schlicht ein Buch, das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Fatma Aydemir: Dschinns. Roman. Hanser, 368 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-26914-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446269149

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 16. März 2022, Matthias Zehnder

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