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Tell

Publiziert am 1. März 2022 von Matthias Zehnder

Wilhelm Tell ist in der Schweiz schon vor langer Zeit zum Denkmal erstarrt. Dafür gesorgt hat ausgerechnet die sprachmächtige Erfindung der Nationalsage durch Friedrich Schiller. Er hat seinem Tell Sätze in den Mund gelegt wie: «Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.» Oder: «Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.» «Ein rechter Schütze hilft sich selbst.» Und natürlich: «Früh übt sich, was ein Meister werden will.» Es sind Sätze, die längst zu Versatzstücken der deutschen Sprache geworden sind. Der Wilhelm Tell als Figur ist hinter seinen Denkmälern längst verschwunden. Das ändert jetzt Joachim B. Schmidt: Er hat die Geschichte um den Tell aus der Innerschweiz  radikal neu geschrieben. Entstanden ist ein Kaleidoskop von knapp 100 Szenen, das in ganz neuen Farben schillert. In meinem Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, ob sich die Lektüre des neuen Wilhelm Tell lohnt. 

Der Diogenes-Verlag nennt die neu erzählte Tell-Geschichte einen «Blockbuster in Buchform». Es sei ein ein «Pageturner, der an moderne Netflix-Serien» erinnere. Mir ist das nicht nur zu grossspurig, mir scheint, es ist auch falsch. Blockbuster zeichnen sich meist durch holzschnitthafte Heldengeschichten aus. Gerade das ist der «Tell» von Joachim B. Schmidt nicht. Das war und ist vielmehr das Problem von Friedrich Schillers «Wilhelm Tell»: Den Tell, der Schiller zeichnet, der würde auch in einer Marvel-Comic-Verfilmung oder einer HBO-Serie eine gute Falle machen. Mutig, kräftig und immer einen krassen Spruch auf den Lippen. 

Der Tell, den Joachim B. Schmidt zeichnet, ist dagegen fast schon ein Antiheld. Maulfaul, mürrisch, lieber in den Felsen am Wilderern als unter Menschen. Er knurrt nur, wenn er angesprochen wird. Unvorstellbar, dass er Verse von sich gibt, wie Schillers Tell nur so herumwirft. «Wohl aus des Vogts Gewalt errett sich Euch, aus Sturmes Nöten muss ein andrer helfen». So hat 1804 Netflix getönt.

Joachim B. Schmidt braucht für seine Tell-Geschichte keine grossen Worte. Er erzählt sie in fast 100 kurzen bis sehr kurzen Szenen, die jeweils aus der Perspektive von einer der Figuren erzählt sind. Der einzige, der dabei kaum zu Wort kommt, ist Tell selbst. Im Fokus steht zunächst seine Familie. Wobei Schmidt da einen Kniff anwendet: Tell ist nicht der Vater, sondern der Onkel von Walter. Tell selbst ist ein mürrischer Querkopf und Wilderer. Tells Bruder Peter ist im Gebirge verschollen. Tell hat ihn lange gesucht, aber nicht gefunden. Nach dem mutmasslichen Tod von Peter ist Tell auf den elterlichen Hof zurückgekehrt und hat wortlos den Platz seines Bruders in der Familie eingenommen. 

Zu Beginn der Geschichte lernen wir die Sicht von Hedwig kennen, von Walter, von Grossmutter Marie, die auf einem kleinen Bergbauernbauernhof zuoberst im Tal wirtschaften, aber auch von Gessler. Der ist kein herrischer Vogt wie bei Schiller, sondern ein feinsinniger Mann, der in der Fremde, fern von Frau und Kindern, seinen Dienst ableistet und darunter leidet. Begleitet wird er von Harras, einem groben, gewalttätigen Soldaten, der Gessler verachtet. Seine Soldaten kommen vor, andere Bauern, Vater Taufer, der Pfarrer im Dorf.

Rasch wird klar: Uri ist besetzt von einer habsburgischen Soldateska, die nach Belieben raubt, vergewaltigt und tötet. Gessler ist zu schwach, Harras und seinen Männern Einhalt zu gebieten. Die Idee mit dem Hut auf der Stange stammt denn auch nicht von Gessler, sondern von Harras. 

Gessler denkt: «Ich habe es gewusst. Der Hut auf der Stange ist eine völlig absurde Idee, unmöglich. Wieso nur habe ich mich von Harras so leichtfertig überreden lassen? Das habe hier Tradition, hat er behauptet. Das mache der Landvogt immer so. Alle meine Vorgänger hätten das gemacht, und es verschaffe mir den nötigen Respekt. So ein Schwachsinn. Ich hätte es wissen müssen. Dabei habe ich mich nur auf dem Markt blicken lassen und dieses Volk begutachten wollen, nichts weiter. Lächeln, den Kindern zuwinken und jetzt das. … Harass zeigt auf den Missetäter und grinst erwartungsvoll. Ich erkenne ihn sofort. Da steht, so Gott will, der der Bauer von neulich. Der Bart, dass zerzauste, fettige Haare und die schwarzen Augen. Diesen feindseligen flackernden Blick werde ich nie vergessen. Die alten sind kolossal, aber die Welt, in der wir uns bewegen, ist winzig klein.» S. 154

Tell ist also kein Held, sondern nur ein eigensinniger Bergbauer und Gessler ist kein Bösewicht, sondern nur ein gelangweilter Vogt. Dass die beiden auf dem Dorfplatz vor dem Hut aufeinanderprallen, liegt nicht an ihnen, sondern an den Soldaten. Die Aggression geht nur von den Besatzern aus. Sie lösen die ganze Geschichte aus und sorgen ungewollt für die maximal grösste Kollision der Figuren.

Ich habe dieses Buch in den ersten Tagen der Besetzung der Ukraine durch Russland gelesen. So einfach die Geschichte ist, so sehr geht die sinnlose Brutalität der Besatzer unter die Haut. Ich nehme an, die Soldaten verhalten sich noch heute so, ganz egal, ob es Habsburger oder Russen sind, weil sie gegenüber einer hilflosen Zivilbevölkerung Macht haben und diese Macht ausüben wollen.

Tell ist im Buch kein Nationengründer, sondern ein Widerstandskämpfer wider Willen, ein Eigenbrötler, ein mürrischer Wilderer, der weint, als seine Mutter stirbt. Joachim B. Schmidt hat ihn damit vom Denkmal geholt und zu einer lebendigen Figur gemacht. Ein Blockbuster ist es nicht geworden, sondern eher ein eigensinniger Arthouse-Film. Das ist auch viel passender.

Joachim B. Schmidt: Tell. Roman. Diogenes, 288 Seiten, 31 Franken; ISBN 978-3-257-07200-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072006

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 1. März 2022, Matthias Zehnder

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