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Beifang
Sommer, Ferien, Reisezeit. Wie jeden Sommer entführe ich Sie in meiner literarischen Sommerserie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise nach Triest. Literarische Kommissare scheinen ja manchmal kaum zu altern. Guido Brunetti zum Beispiel, Commissario in Venedig, ermittelt seit über 30 Jahren alterslos in der Lagunenstadt. Commissario Salvo Montalbano wurde in Sizilien nur an weiteren Ermittlungen gehindert, weil sein Erfinder, Andrea Camilleri, verstorben ist. Ganz anders Proteo Laurenti, Commissario in Triest: Er ist, wie sein Autor Veit Heinichen, älter geworden. In der neusten Folge steht er kurz vor der Pensionierung. Schon in der ersten Szene unterschreibt er mürrisch, aber schwungvoll das entsprechende Schreiben des Innenministeriums. Doch das bremst ihn nicht. Im Gegenteil: Mit Vergnügen bringt er bei den Ermittlungen rund um eine namenlose Wasserleiche alle anderen Ämter und Dienste gegen sich auf. Er stürzt sich geradezu in die Arbeit. Das könnte damit zu tun haben, dass er die Leiche selbst gefunden hat. Als Beifang beim Fischen mit Schnorchel und Harpune. Diesmal könnte es aber sein, dass sich Laurenti überschätzt. Denn die Wasserleiche ist nur ein kleines Puzzleteil in einem viel grösseren Spiel. Gekonnt mischt Veit Heinichen aktuelle politische Entwicklungen und viel Detailwissen über Triest zu einem spannenden Regionalkrimi, der sich auch als Reisenachhilfe lesen lässt. In meinem 216. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach Triest lohnt.
Italien hat eine ganze Reihe ebenso schöner, wie interessanter Städte: Turin zum Beispiel, Bologna, Mailand oder Neapel und natürlich das ewige Rom. Eine Stadt geht dabei oft vergessen: Triest, die Stadt an der Adria, direkt an der Grenze zu Slowenien im Nordosten von Italien. Bis 1918 gehörte Triest zu Österreich. Kaiser Franz Joseph I. hatte die Stadt zum Hafen der Donaumonarchie erkoren. Bis heute sieht Triest deshalb aus, wie wenn sich Wien ans Meer verirrt hätte. Die schönste Spur der Österreicher in Triest ist das Castello Miramare, einige Kilometer ausserhalb der Stadt. Das Schloss wurde um 1860 für Erzherzog Ferdinand Maximilian von Österreich, dem Bruder Kaiser Franz Josephs I., erbaut. Später hielt sich Kaiserin Elisabeth, die legendäre «Sissi», mehrfach im Schloss auf.
Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich der Hafen von Triest zum zentralen Umschlagplatz für Kaffee. Was in Wien als Melange in die Tassen kam, wurde über Triest importiert. Heute gilt Triest deshalb als Hauptstadt des Kaffees und ist Sitz von Kaffeeunternehmen wie Illycaffè oder Hausbrandt. Historische Kaffeehäuser wie das Caffè San Marco, Caffè Tommaseo oder das Caffè degli Specchi sind bis heute Treffpunkt von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern. Die bekanntesten Literaten der Stadt sind keine Italiener, sondern ein Ire und ein Deutscher: James Joyce lebte von 1904 bis 1920 mit Unterbrechungen in Triest. Er arbeitete in der Stadt als Englischlehrer und schrieb einen Grossteil seiner wichtigsten Werke da. Rainer Maria Rilke besuchte Triest und das nahegelegene Duino auf Einladung der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe. Die Fürstin bot ihm Unterkunft und Unterstützung an. In Duino bei Triest schrieb Rilke seine «Duineser Elegien». Heute ist der Küstenwanderweg, der «Sentiero Rilke», nach dem deutschen Dichter benannt.
Kulturell begegnen sich in Triest die drei grossen europäischen Kulturkreise: der romanische, der germanische und der slavische Kulturkreis. Für Wien beginnt hier das Mittelmeer, für Europa ist Triest das Tor zum Balkan und umgekehrt für die Länder des Balkans das Tor zum Westen. Seit den 90er Jahren lebt der Schriftsteller Veit Heinichen in der Stadt an der Adria. Er stammt aus dem Schwarzwald und schickt seit vielen Jahren in Triest Commissario Proteo Laurenti auf die Piste. Anders als die Venedig-Krimis seiner amerikanischen Kollegin Donna Leon werden Heinichens Krimis auch auf Italienisch übersetzt und sie wurden in Italien sogar mehrfach prämiert. Für die Leserinnen und Leser sind die Bücher nicht nur spannende Abenteuer, sondern auch Reportagen über die Region Triest. Veit Heinichen versteht es, das Wissenswerte über Triest in den Plot seiner Krimis einzubinden. Die Fakten über die Region sind also nicht blosse Staffage, sondern eng verwoben mit der Handlung. Ich habe Veit Heinichen vor einigen Jahren besucht. Er hat mich durch seine Stadt geführt . Triest ist nicht so atemberaubend schön wie Venedig, dafür aber auch nicht zum Museum erstarrt.
Anders als Kollege Brunetti in Venedig ist Commssario Proteo Laurenti älter geworden. Die Pensionierung rückt näher, die Stadt um ihn herum hat sich verändert.
So viele zuverlässige Allianzen waren in den letzten Jahren weggebrochen. Nicht nur im Berufsleben. Wie viele seiner früheren Freunde oder Kollegen waren gestorben? Und wie viele andere waren inzwischen pensioniert? Freunde, Geschäftsinhaber, Versicherungsagenten, Handwerker, Wirte und Informanten. Über Jahre, als alle noch da waren, war es so einfach gewesen. In egal welchen Belangen reichte es, zum Telefon zu greifen oder sich persönlich auf den Weg zu machen, das Anliegen zu schildern und mindestens Hilfe oder Rat, wenn nicht sogar umgehend eine Lösung zu finden. Auch Proteo Laurenti selbst wurde häufig nach Rat gefragt, den er den richtigen Personen bereitwillig gab. Inzwischen aber waren nicht nur Ladengeschäfte, sondern auch unzählige Bars und Restaurants geschlossen worden oder wurden mittlerweile von Nachfolgern oder neuen Inhabern geführt, deren Stil, gelinde gesagt, anders war. Wo er sich früher blind auf Expertise, Qualität oder Zuverlässigkeit hatte verlassen können, ging er heute häufig mit mehr Fragen, als er gekommen war. Der Commissario behielt seine Klagen in der Regel für sich, er wollte nicht unmodern wirken und nicht in das allgemeine Gejammer einstimmen, dass nichts mehr so sei wie früher. Er zweifelte sogar an denjenigen, die vehement behaupteten, früher wäre alles besser gewesen, und die von Zeiten schwärmten, die sie selbst nur vom Hörensagen kannten. Nostalgikern hatte man es noch nie recht machen können. Nur waren all diese Veränderungen in der Stadt ein Hinweis darauf, dass auch er älter wurde und den Geschmack der nachfolgenden Generationen nicht unbedingt teilte oder verstand. Doch der Bruch war ihm zu abrupt gekommen.
Was allerdings die Zeit nach seiner Pensionierung betraf, machte er sich keine Illusionen. Proteo Laurenti war sich sicher, dass er beim aktuellen politischen Wind keinen Anruf aus dem Innenministerium erhalten würde. Seines Erachtens war der Pragmatismus wieder einmal der Ideologie erlegen, tagtäglich vernahm er realitätsfremde Polemiken, dass die Grenzen dichtzumachen seien. Unüberwindbare Stacheldrahtzäune waren in Europa seit geraumer Zeit wieder in Mode gekommen. Oder es hieß, dass man sich stärker auf die Selbstversorgung und die nationale Wirtschaft zu konzentrieren habe. Als lebte Italien nicht auch vom Exportüberschuss und der internationalen Nachfrage. [ … ]
Im Gegensatz zu den meisten anderen hatte er nie über den Moment seines Rückzugs nachgedacht. Er fühlte sich weder alt noch ausgebrannt. Seiner Meinung nach diente es dem Sozialwesen auf keine Art, Leute mit Erfahrung und Willen zur Arbeit in den Ruhestand auszusortieren. Außer mit Laura hatte er noch mit niemandem über diese anstehende, fundamentale Veränderung geredet. Nicht einmal mit den Kindern und erst recht nicht mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen seines Kommissariats. Er wusste, dass er es bald würde tun müssen, bevor sie es von anderer Stelle oder durch das Gerede auf den Fluren erfuhren. Aber noch wartete er auf den richtigen Zeitpunkt. Und der rückte näher. (Seite 55 f.)
Aber vorerst schiebt er den Gedanken an die Pensionierung weit von sich und stürzt sich in die Ermittlungen. Mit seinem neuster Fall, der Wasserleiche aus der Adria, kommt Laurenti mit anderen italienischen Behörden und Diensten in Konflikt. Ganz in der Nähe des Ortes, wo Laurenti die Leiche aus dem Wasser gefischt hat, ankert nämlich eine russische Segelyacht. Von einer deutschen Werft an der Ostsee nach den Entwürfen eines französischen Stardesigners mit Spezialmaterialien aus halb Europa gebaut. Eine halbe Milliarde soll der Eigner der Yacht dafür ausgegeben haben. Ein Oligarch, einer der reichsten Männer Russlands, mit offiziellem Wohnsitz in der Schweiz. Weil er als Unterstützer von Putin gilt, wurde sein Vermögen im Rahmen der internationalen Sanktionen gegen Russland beschlagnahmt. Auch die Segelyacht vor der Küste von Triest. Der Oligarch hat die Vorwürfe zurückgewiesen und ist mit seiner Familie umgehend von St. Moritz nach Dubai umgezogen. Der Rechtsfall ist hängig. In der Zwischenzeit müssen die Triestiner Steuerzahler für die Instandhaltung der Segelyacht und die Versorgung der zwanzigköpfigen Besatzung aufkommen. Was zu viel Kopfschütteln und Ärger in den Triestiner Bars führt. So mancher dieser Steuerzahler würde die teure Yacht am liebsten in die Luft sprengen.
Genau das passiert in der Nacht, bevor Laurenti beim Fischen auf den unerwünschten Beifang in Form einer Leiche stösst: Von einem Boot aus hat jemand Plastiksprengstoff an der Yacht angebracht und gezündet. Der Anschlag hat ein tüchtiges Loch in die Reling der Yacht gerissen. Ein dilettantischer Versuch, die ungeliebte Yacht zu versenken? Die italienischen Behörden sind in Aufruhr. Die Guardia di Finanza, die Küstenwache, die Carabinieri und der italienische Geheimdienst ermitteln in der Sache. Laurenti ist das egal, solange er sich um seine Wasserleiche kümmern kann – und den ach so wichtigen anderen Diensten ist es egal, was Laurenti treibt, so lange er seine Nase nicht in die russische Yacht steckt. Allerdings findet Laurenti rasch heraus, dass die Wasserleiche und die Yacht einen engen Zusammenhang haben. Was er natürlich für sich behält.
Wie immer verknüpft Veit Heinichen seinen Krimi mit einem zentralen Motiv der Stadt. Diesmal geht es um die Beziehungen von Triest zu Serbien:
Die serbische Gemeinde stellte um die zehn Prozent der Einwohner Triests, offiziell registriert war jedoch nur ein Bruchteil von ihnen. Über die Jahrhunderte hatte es mindestens fünf große Einwanderungswellen aus Serbien nach Triest gegeben. Kaufleute, Bankiers, aber auch Schriftsteller waren gekommen, an einigen Palazzi erklärten emaillierte oder steinerne Tafeln die Bauzeit und den Namen des serbischen Bauherrn. Nicht nur kriegerische oder ideologische Wirren auf dem Balkan hatten für Zuwanderung gesorgt. Einwanderer aus ganz Europa hatten sich die wirtschaftliche Bedeutung dieses Schnittpunkts zwischen Norden und Süden, Osten und Westen zunutze gemacht.
Der Commissario erhob sich und ließ sie allein. Marietta folgte ihm in sein Büro.
«Ich muss ein paar Telefonate führen», sagte er und zog vor ihrer Nase die Tür zu, was er nur selten tat. Normalerweise hörte sie vom Vorzimmer aus all seine Gespräche mit. Und oft genug erinnerte sie ihn später an Termine, die er vereinbart, aber nicht notiert hatte. Oder an andere Details, die er zugesagt hatte. Eine glänzende jahrzehntelange Symbiose, nicht zuletzt behauptete sie, sie würde Proteo Laurenti besser kennen als seine Ehefrau Laura.
Die Generalstaatsanwältin der Republik Kroatien antwortete nach dem zweiten Klingeln. «Wann besuchst du mich in Novigrad? Ich bin ab übermorgen dort und freu mich schon», flüsterte Živa Ravno. (Seite 164f.)
Ja, auch Commissario Laurenti weiss es für sich zu nutzen, dass Triest den Schnittpunkts zwischen Norden und Süden, Osten und Westen bildet: Er pflegt seit Jahren eine Affäre mit der kroatischen Staatsanwältin Živa Ravno. Die beiden erfreuen sich nicht nur an sinnlichen Zusammentreffen, sie arbeiten oft auch informell im kleinen Grenzverkehr zusammen. Die offiziellen Wege über Formulare und die EU dauern Laurenti viel zu lange. Es ist viel einfacher, schnell mit einem Boot überzusetzen und sich direkt mit den Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Die Gegenseite, die Kriminellen, machen das schliesslich auch so. Auf diesem informellen Weg kommt er bei seinen Ermittlungen rasch viel weiter als all die wichtigen Dienste und die Männer mit den Epauletten.
Das Leben könnte also schön sein, wenn, ja: wenn nicht die baldige Pensionierung drohen würde und Ehefrau Laura es sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, in der Stadt eine kleine Villa zu kaufen. Überhaupt, die Familie. Laurentis mittlere Tochter Patrizia schippert seit Wochen samt Tochter an Bord eines Containerschiffs über die Weltmeere, weil sie mit dem Kapitän des Schiffs verheiratet ist und einmal schauen wollte, wie es so ist, über die Weltmeere zu schippern. Livia, die älteste Tochter, hat entgegen allen Ankündigungen ihren deutschen Rechtsanwalt doch nicht geheiratet, sondern ist aus Frankfurt zurückgekehrt. Jetzt arbeitet sie für die Triestiner Hafenbehörde und ist immer noch auf Wohnungssuche. Marco, der Jüngste, ist ein vielversprechender Koch. Er hat bei Amy Scabar seine Ausbildung absolviert – im richtigen Leben übrigens die Lebenspartnerin von Veit Heinichen – und kann sich jetzt die Angebote aussuchen. Auch in Triest hat sich die Lage gedreht, es herrscht Fachkräftemangel. Bloss er, Proteo Laurenti, soll bald nicht mehr gebraucht werden und sich in die Pensionierung verziehen. Ich fühle mit ihm.
Das schöne an den Büchern von Veit Heinichen ist die enge Verquickung von erfundener Kriminalgeschichte und realen Beobachtungen. Auch im Kleinen finden sich immer wieder Beobachtungen der italienischen Realität, die manchmal zum Schmunzeln, oft zum Denken anregen. Etwa die Anmerkungen zur Medienwelt, wenn wieder einmal eine unsägliche Talkshow über den Bildschirm flimmert: Geschwätz und Besserwisserei ersetzten Recherche und fundierte Information. Schön gesagt. Für Veit Heinichens Krimis gilt das Gegenteil.
Veit Heinichen: Beifang. Commissario Laurenti hat noch einiges zu tun. Piper, 304 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-492-07063-8
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492070638
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Basel, 6. August 2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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