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Fast wie ein Bruder
Dieses Buch erregte in Basel Politik und Öffentlichkeit, lange bevor es geschrieben war. Stein des Anstosses war ein Fördergesuch von Autor Alain Claude Sulzer. Der Fachausschuss Literatur der beiden Basel wollte vor einem Jahr dem Autor Fördergelder zusprechen. Die Abteilungsleiterinnen Kultur von Basel und Baselland teilten Alain Claude Sulzer aber brieflich mit, dass die Verwendung des Worts «Zigeuner» am Anfang des Buchs problematisch sei und baten Sulzer, darzulegen, was seine Überlegungen beim Gebrauch des Wortes im Roman sind. Das empfand Sulzer als gesinnungsethischen Übergriff und zog sein Fördergesuch zurück. Weit herum empörten sich Schreibende über den Vorgang. Jetzt ist der Roman erschienen und wird prompt als «Zigeunerroman» apostrophiert. Ich habe den Roman gelesen und muss sagen: Die Bedenken der Kulturförderer gehen gleich aus drei Gründen komplett am Text vorbei. Erstens spielen die Szenen, in denen das Wort fällt, in den 70er-Jahren. Sulzer bildet also lediglich einen zeitgenössischen Sprachgebrauch ab. Zweitens setzt Sulzer das Wort dabei aber sehr bewusst ein: Es fällt wie Hammerschläge immer dann, wenn im Roman die Gesellschaft ausgrenzt und diskriminiert. Es wird geradezu als Chiffre für die Diskriminierung und Ausgrenzung verwendet. Und drittens … aber das wäre schon zu viel verraten. Warum ich das Buch dringend zur Lektüre empfehle, ja als einen der besten Romane bezeichne, die ich dieses Jahr gelesen habe, verrate ich Ihnen diese Woche in meinem 219. Buchtipp.
Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman die Geschichte von zwei Jungen, die Tür an Tür in einem Mehrfamilienhaus miteinander aufwachsen, fast wie Brüder. Beide sind Einzelkinder. Die Eltern wohnen im selben Haus auf derselben Etage, die eine Familie links, die andere rechts. Auch die Eltern kommen gut miteinander aus. Sie entfernen sogar die Trennwand auf dem Balkon. Von da aus können die beiden Jungen die Liebespaare beobachten, die im Schutz der dichten Kleingartenhecke knutschen. Der eine der beiden Jungen ist der Ich-Erzähler. Er bleibt namenlos. Der andere Junge heisst Frank Reimers.
Alles idyllisch also? Nicht ganz. Zum einen wohnen zwei Stockwerke unter den beiden befreundeten Familien die – jetzt kommt das «Z-Wort» – Zigeuner. Der Erzähler führt sie so ein, wie Sinti und Roma in den 70er-Jahren wahrgenommen wurden: Die Schuhe stapeln sich unordentlich vor der Wohnungstür, es ist ein Kommen und Gehen, eine nach damaligen, bürgerlichen Massstäben unordentliche Grossfamilie. Der andere Einbruch in die Idylle ist der Tod der beiden Mütter: Sie sterben nahezu zeitgleich an Krebs. Der Erzähler berichtet zwar kurz vorher, im Boden der Schrebergärten sei später Gift gefunden worden, er bringt die Krebserkrankung der beiden Frauen aber nicht in einen Zusammenhang damit. Und doch zeichnet er ein starkes Bild: Auf der einen Seite stehen diese so genannten Zigeuner, die ihre Strassenschuhe vor der Wohnungstüre ausziehen und damit verhindern, dass sie den Schmutz in ihre Wohnung tragen. Auf der anderen Seite die bürgerliche Gesellschaft, die für Recht und Ordnung steht, aber den Boden der Kleingärtner vergiftet und zwei Mütter an Krebs sterben lässt. Alain Claude Sulzer sagt das nicht explizit. Aber er zeigt es uns in starken Bildern.
Als Frank fünfzehn ist, besucht er eine grosse Werkschau des Malers Sigmar Polke in der Düsseldorfer Kunsthalle. Dieser Besuch verändert ihn: Jetzt hat er ein Ziel vor Augen. Frank will Maler werden. Seine Umgebung kann das nicht nachvollziehen und versteht auch sein Malen und Zeichnen nicht. Von nun an zeichnet Frank unentwegt und überall, zu Hause, im Freien, in der Schule, und als er während des Unterrichts erwischt wird, versuchte er erst gar nicht, seine Zeichnung zu verbergen. Der Lehrer bezeichnet sie als «Schmiererei», doch Frank lässt sich nicht beirren. Der Erzähler sagt, Frank sei ihm weit voraus gewesen. Er selbst hat zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, wie seine Zukunft aussehen sollte. Er hat weder ausgefallene Wünsche noch besondere Vorstellungen.
Auch wenn Frank und der Erzähler in diesem Punkt ganz unterschiedlich sind, bleiben sie fast Brüder: Sie reden über ihre Wünsche und Träume – und über die Bilder, die Frank malt und die auch der Erzähler nicht versteht. Dann kommt die Wende. Frank wird beim Sex mit einem Mann erwischt. Und zwar auf die schlimmstmögliche Weise.
Frank hat sich in Matteo verliebt, einen jungen Roma aus dem zweiten Stock. Als Franks Vater ausser Haus ist, ziehen sich die beiden in die elterliche Wohnung zurück. Bis das ganze Haus von lautem Klopfen und Schreien im Treppenhaus aufgeschreckt wird: Die «Zigeuner» aus dem zweiten Stock schlagen mit Fäusten und Schuhen auf die Türe ein und rufen nach Matteo. Als Frank schliesslich, einen Arm um Matteo gelegt, die Türe öffnet, sieht er sich in Unterhosen allen Bewohnern des ganzen Hauses gegenüber. Die Roma packen Matteo am Nacken und reissen ihn gewaltsam aus Franks Armen. Frank sieht Matteo nie wieder, der junge Mann wird von seiner Familie wohl an einen andern Ort gebracht. Und Frank? Verliert seinen Ruf und seinen Halt.
Frank war der Stoff, an dem man seine schmutzigen Vorstellungen abwischen konnte. Im Zentrum standen der Schwanz und das Sperma. Klingt unfein, ist unfein, aber genauso war es – Frank konnte sich von diesem Makel nicht befreien. Verständnis war nicht zu erwarten, um ehrlich zu sein, auch nicht von mir, zumindest anfangs nicht, mein Vorurteil beruhte auf dem Unwissen und den Vorstellungen der Erwachsenen. Wenn ich nachzuvollziehen suchte, was in Frank vorgegangen war, versank ich unversehens in einem bleiernen Sumpf aus Ekel und Ignoranz. Im Grunde unterschied ich mich kaum von jenen, die sich ein Urteil über Frank erlaubten, ohne ihn zu kennen. Ich kannte ihn aber. Sein Verhalten war mir unbegreiflich … (Seite 38)
Die Gesellschaft reagiert also kalt, abweisend, ja gewalttätig auf die Beziehung der beiden jungen Männer. Ganz besonders die Roma. Liebe und Zärtlichkeit gibt es nur zwischen Frank und Matteo. Diese Passagen des Romans von Alain Claude Sulzer haben mich an die Romane von Alexander Ziegler erinnert, die ich als Teenager gelesen habe. Zum Beispiel «Die Zärtlichen». Auch Ziegler schildert in seinen Romanen, wie die Gesellschaft kalt, hart und brutal reagiert. Zärtlichkeit, Sorgfalt und Sinnlichkeit sind ihr fremd – das gibt es nur in jenen Beziehungen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden.
Die Ausgrenzung im Roman von Alain Claude Sulzer geht aber noch weiter. Frank entfremdet sich mit der Zeit von seinem Jugendfreund, bald halten sie nur noch telefonisch Kontakt. Frank lebt in New York als Kunstmaler, geniesst in vollen Zügen jene Freiheit, die eine Grossstadt in den 80er Jahren einem homosexuellen Künstler bietet. Frank lebt und malt zügellos, wild und frei.
Der Erzähler ist das Gegenteil von Frank. Eigentlich will er Lehrer werden, bricht sein Pädagogikstudium aber ab und fasst über ein Praktikum Fuss im Werbefilm. Während Frank die Wahrheit seiner Leidenschaften lebt, assistiert der Erzähler jenen Männern, die uns Illusionen verkaufen und das Bild der Waren in der Konsumwelt bestimmen. Und nicht nur das: Während Frank seine Schaffenskraft aus sich herausbrechen lässt, beschreibt der Erzähler seine Arbeit als «funktionieren»:
Man hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich fristlos entlassen würde, sollte ich den von mir erwarteten Anforderungen nicht genügen, mit anderen Worten: Wenn ich nicht ausführte, wozu man mich aufforderte, konnte man mich vor die Tür setzen. Dennoch stellten sich weder Ernüchterung noch Enttäuschung ein. Dieser Job bot mir genau die Abwechslung, die der Schulalltag mir verweigert hätte, im Übrigen hatte ich kein Problem damit, einfach zu funktionieren. Täglich rechnete ich mit Dingen, auf die ich nicht vorbereitet war, ohne dass allzu viel Verantwortung auf meinen Schultern lag. Es genügte, wenn ich das, was man mir auftrug, zur Zufriedenheit jener erfüllte, die mir gegenüber eher die Stelle älterer Brüder als von Vorgesetzten einnahmen. Seite 53)
Das ist der grosse Gegensatz im Buch: Frank ist frei, ein Künstler, brotlos aber voller Schaffenskraft. Er bleibt, das betont der Erzähler, dabei ehrlich. Er macht niemandem etwas vor. Er hat absolut gar keinen Erfolg mit seinen Bildern, bleibt sich aber treu. Der Erzähler ist das Gegenteil: Er arbeitet für die Branche der Illusionen. Er funktioniert in der Maschinerie der Werbefilmwirtschaft, bringt es zu etwas und macht Karriere. Und macht sich dabei selbst vor, dass er glücklich ist.
Aber es kommt, wie es kommen muss: Ikarus verbrennt sich die Flügel. In den 80er-Jahren ist es nicht die Sonne, die den hochfliegenden jungen Männern die Flügel verbrennt, sondern das HI-Virus, das sie von Innen verzehrt. Aids grassiert und trifft auch Frank. Die beiden Männer, die beinahe Brüder waren, treffen sich in Deutschland wieder, als Frank im Sterbehospiz liegt. Der Erzähler besucht Frank regelmässig, sie sprechen miteinander, bis es nicht mehr geht. Und trotzdem bleiben sie sich fremd.
Frank macht seinen Jugendfreund, der ihm fast ein Bruder war, zu seinem Erben. Der Erzähler reist mit den Bildern, die Frank gemalt hat, zurück in sein Haus in Frankreich und verstaut sie in einer Remise. Aber er schaut sie sich nicht an. Kein einziges. Er verstaut sie – und vergisst sie. Bis es zu einer weiteren grossen Wendung kommt, über die ich hier nicht zu viel verraten will.
Am Ende des Buchs wird der Erzähler mit einem Bild konfrontiert, das Frank von ihm gemalt hat. «Brother» hat er darunter geschrieben. Es zeigt den Erzähler nackt, in voller Grösse, wie er sich selbst befriedigt. Das Bild konfrontiert damit den Erzähler mit seinem eigenen Leben, das letztlich auf Selbstbefriedigung basiert. Und es führt ihm die Liebe vor Augen, die Frank für ihn empfunden hat. Es war eine jugendliche Liebe, wie man sie gegenüber einem Bruder empfindet, die mit dem Erwachen der Sexualität wohl zu einem für Frank ambivalenten Gefühl wurde. Mit dem Bild des nackten Freundes, der sich selbst befriedigt, brachte Frank wohl auch zum Ausdruck, dass sein Freund für ihn auf dieser Ebene unerreichbar war.
Das Bild zeigt auch, dass Frank am Erwachsenwerden zerbrochen ist. Bevor die Sexualität in sein Leben einbrach wie ein Raubtier, waren zärtliche und enge Beziehungen zu Jungen für ihn das Natürlichste der Welt, auch und gerade die Beziehung zu seinem Beinahe-Bruder.
Und was hat das alles mit dem Wort «Zigeuner» zu tun? Könnte der Roman nicht ohne das schäbige Wort auskommen? Nein, kann er nicht. Alain Claude Sulzer demaskiert mit der Verwendung des verächtlichen Worts das Denken der Gesellschaft in den 70er Jahren – und das Denken des Erzählers. Denn wir lesen das Wort ja aus seiner Feder. Er könnte andere Wörter verwenden. Macht er aber nicht, weil er sich auf die Seite der bürgerlichen Gesellschaft geschlagen hat, auf die Seite des Funktionierens, der scheinbaren Ordnung und damit der Illusion. Auch damit stösst er Frank, der einen dieser «Zigeuner» zärtlich liebt, von sich und in den Abgrund. Die aufgeladene Diskussion über das Wort vor einem Jahr hat mir vor Augen geführt, dass wir, auch wenn wir heute andere Wörter verwenden und Wörter mit Z und N verbieten, in Sachen Toleranz und Wahrheit keinen Schritt weitergekommen sind.
Das alles muss Sie bei der Lektüre des Romans aber in keiner Weise belasten. Das Buch ist ein sorgfältig geschriebener und packender Roman über das Erwachsenwerden – und über die Wahrheit.
Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder. Galiani Berlin, 192 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-86971-294-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783869712949
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Basel, 29. August 2024, Matthias Zehnder
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