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Die Abschaffung des Todes
Unser Gehirn ist etwas mehr als ein Kilogramm schwer. Das sind nur etwa zwei Prozent des ganzen Körpergewichts. Allerdings braucht das Gehirn etwa 20 Prozent der gesamten Energie des Körpers. Dies deshalb, weil Milliarden von Nervenzellen ständig miteinander in Kontakt sind. Sie nutzen dafür chemische Neurotransmitter und elektrische Signale. Diese Signale lassen sich messen und abgreifen. Genau daran arbeitet die von Elon Musk gegründete Firma Neuralink: Sie will es mit Hilfe einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer ermöglichen, Informationen direkt aus dem Gehirn zu senden und zu empfangen. Das könnte es ermöglichen, Prothesen und andere Geräte durch Gedanken zu steuern. Elon Musk hat auch schon darüber gesprochen, dass er das menschliche Bewusstsein erweitern und eine Symbiose mit künstlicher Intelligenz schaffen möchte. Das soll die kognitiven Fähigkeiten des Menschen steigern. Elon Musik sieht darin den nächsten Schritt in der menschlichen Evolution. Andreas Eschbach geht in seinem neuen Roman noch einen Schritt weiter: Wissenschaftler entwickeln eine Möglichkeit, Neuronen elektronisch nachzubilden. Theoretisch sollte das möglich sein – und es lässt sich mit der Zeit auch so skalieren, dass sich das ganze Gehirn in einem Computer nachbauen lässt. Wenn man jetzt eine Schnittstelle wie die von Neuralink an ein Gehirn anlegt, sollte es möglich sein, den Inhalt des Gehirns in einen Computer zu transferieren. Und das bedeutet, dass sich das menschliche Bewusstsein von seinem sterblichen Körper trennen und unsterblich machen lässt. Aber ist es wirklich so einfach? In meinem 225. Buchtipp sage ich Ihnen, wie Andreas Eschbach daraus eine spannende Geschichte rund um das Bewusstsein, die Sterblichkeit und das Gehirn gebaut hat und was das Buch auch abgesehen von dieser Story lesenswert macht.
Beginnen wir mit der Rahmenhandlung des Romans. Die Hauptfigur der Geschichte von Andreas Eschbach ist James Henry Windover. Er ist Journalist, Unternehmer und Herausgeber von The Windover View, einer höchst exklusiven Tageszeitung, die jeden Tag elektronisch auf speziell eingerichteten Tablet-Computern erscheint. Die Zeitung hat nur gerade 49 Abonnenten, die zahlen aber jeweils eine Million Euro im Jahr für The Windover View. Die Zeitung bietet, was man sonst nirgendwo bekommt: einen nüchternen, leidenschaftslosen und einzigartig präzisen Überblick über den Zustand der Welt. Die Zeitung buhlt nicht um die Aufmerksamkeit ihrer Leserinnen und Leser mit Sensationen und Schlagzeilen, mit Prominews und Berichten über Unfälle und Verbrechen. Es gibt keine Kreuzworträtsel, keine Comics, kein Tageshoroskop, keinen Sportteil, keine Kochrezepte, keine Umfragen. Und es gibt keine Werbung. Nur Fakten, auf den Punkt gebracht mit sorgfältig ermittelten Zahlen und schnörkellosen Analysen. Die Zeitung ist mit anderen Worten das, wovon informationshungrige Menschen träumen.

James Henry Windover ist Chefredaktor und Herausgeber der Zeitung. Er übernimmt im Roman von Andreas Eschbach die Rolle des «Everyman», des unwissenden Helden, durch dessen Augen wir Leser in die Geschichte eintauchen. Wie jeder rechte Held erhält auch James Windover zu Beginn der Geschichte einen Auftrag. Und zwar von Anahit Kevorkian, einer britischen Milliardärin. Anahit ist Mitte fünfzig und sitzt seit einem schweren Verkehrsunfall vor über zwanzig Jahren im Rollstuhl. Sie ist klug und direkt bis grantig. Auf sie geht die Idee von The Windover View zurück und sie hat James Windover auch mit der dafür nötigen Anschubfinanzierung ausgestattet. Wenn Anahit einen Wunsch äussert, ist das für James deshalb ein Auftrag, den er nicht ablehnen kann. Der Auftrag von Anahit lautet, nach Kalifornien zu fliegen und herauszufinden, was hinter einer Firma namens Youvatar steckt.
Das ist eine clevere Erfindung von Andreas Eschbach. Zum einen erinnert Youvatar natürlich an YouTube, der Name könnte für «You Avatar» stehen. Und in einem gewissen Sinn stimmt das sogar. Es stellt sich aber heraus, dass Youvatar schlicht ein Kofferwort für die Namen der drei Gründer ist: Young, Watson und Arnesen. Natürlich sind Firma und Namen fiktiv, die Anklänge an reale Figuren sind aber sehr deutlich. Paul Young ist Investor im Silicon Valley. Eschbach hat ihn nach Peter Thiel geformt, dem deutsch-amerikanischen Investor, der als Mitbegründer von PayPal und früher Investor in Facebook bekannt und vor allem sehr reich geworden ist. Heute ist Peter Thiel ebenso bekannt wie umstritten als libertärer Unterstützer von Donald Trump und als Gründer von Palantir. Das ist ein Datenanalyse-Unternehmen, das sich auf die Überwachung und Auswertung von grossen Datenmengen vor allem für staatliche Institutionen spezialisiert hat. Auch Palantir kommt, wenn auch mit anderem Namen, im Roman vor.
Dieser nach Peter Thiel modellierte Paul Young ist der Angel-Investor von Youvatar. Watson und Arnesen sind die beiden wissenschaftlichen Köpfe. Der Name Arnesen erinnert vielleicht etwas an Marc Andreessen, den Erfinder des Webbrowsers. Im Buch ist Arnesen ein genialer Nano-Wissenschaftler. Watson steht im Buch für die Genetikerin Victoria Watson. Der Name erinnert aber natürlich an Thomas J. Watson, den Gründer der Firma IBM, und an das IBM-Projekt «Watson». Das ist die Künstliche Intelligenz von IBM, die 2011 in der amerikanischen Quizshow «Jeopardy!» antrat und die menschlichen Champions der Show besiegte. Watson ist quasi der Enkel von Deep Blue, jenem Rechner, der den Schachweltmeister Gary Kasparov besiegte.
Young, Watson und Arnesen haben also Youvatar gegründet. Was die Firma vorhat, bleibt zunächst ein Geheimnis. Klar ist nur, dass sie Milliardäre auf der ganzen Welt zu einer Präsentation ins Silicon Valley eingeladen hat. Anahit Kevorkian ist höchst interessiert am Projekt von Youvatar. Sie fragt James Windover, was es sein könnte:
«Es ist natürlich nur eine Vermutung. Aber was könnte man erreichen, wenn man Genetik und Nanotechnik miteinander kombiniert?» «Puh», meinte ich. »Da dürften die Möglichkeiten endlos sein.» «Ja, aber was davon verspräche, so lukrativ zu sein, dass ein Peter Young einsteigt?» «Das», gab ich zu, «schränkt die Bandbreite schon etwas ein.» Sie führte die Fingerspitzen ihrer Hände zusammen und sagte ahnungsvoll: «Mir fallen zwei Möglichkeiten ein, mit denen sich jeweils unermesslich viel Geld verdienen ließe … und die mir beide sehr gefallen. Die eine wäre, den Alterungsprozess des Körpers zu stoppen oder sogar wieder rückgängig zu machen – also eine Verjüngungskur. Reichlich utopisch, zugegeben. Die andere, eher in Reichweite: die Heilung von Querschnittslähmung. Nanoroboter, die durchtrennte Nervenbahnen im Rückenmark wieder verbinden, und Gentechnik, die sie dazu anregt, zusammenzuwachsen und zu funktionieren wie vorher. Und die Lahmen erheben sich und gehen wieder. Wie klingt das für Sie?»
Mir war, ich gestehe es, ein Schauer über den Rücken gelaufen, als sie das gesagt hatte. Sie hatte recht, erkannte ich. Die Kombination der Talente hinter dieser Firma mochte tatsächlich geradezu Phantastisches in den Bereich des Machbaren rücken. «Absolut plausibel», sagte ich. «Und ich schätze, die zweite Möglichkeit gefällt Ihnen noch viel mehr als mir.» «Darauf können Sie einen lassen», erwiderte sie. »Und deshalb möchte ich, dass Sie an meiner Stelle zu diesem Investorentreffen gehen, sich alles ganz genau anschauen und mir hinterher raten, ob ich in diese Firma investieren soll oder nicht.»
Mir fiel fast die Tasse aus der Hand. «Ich?» «Sie. Ja.» «Warum denn das?» «Weil ich zu befangen wäre!» Sie schnaubte. «Das ist mir heute früh beim Aufwachen klar geworden. Deswegen habe ich Sie doch gleich hergebeten! Mir könnten die alles versprechen, ich würde es glauben. Ich brauche jemand, der einen neutralen Standpunkt hat. Der imstande ist, die Sache nüchtern zu betrachten. Also Sie. Es ist dasselbe wie bei Ihrer Zeitung. Wir haben viel darüber gesprochen, erinnern Sie sich? Darüber, wie man überhaupt so etwas wie einen einigermaßen objektiven Standpunkt, eine objektive Sicht auf die Dinge gewinnen kann?»
Ich nickte langsam. Natürlich erinnerte ich mich, gut sogar. «Man muss sich beim Berichten über eine Sache darüber klar sein, was man sich wünscht, dass es wahr wäre. Nur dann hat man eine Chance, zu berichten, ohne dass der Bericht durch diesen Wunsch gefärbt wird.» «Genau. Und mein Wunsch ist so stark, dass ich ihn schon in die bloße Kombination dieser drei Leute hineinprojiziere!». (Seite 33f.)
Die Milliardärin schickt also James Windover nach Kalifornien. Er soll sich an ihrer Stelle über das Projekt informieren und ihr berichten – damit sie entscheiden kann, ob Sie einige Milliarden ihres Vermögens in Youvatar investieren soll oder nicht.
Beim Projekt geht es, das verrät schon der Titel des Buchs, weder um das Heilen von Querschnittlähmung, noch um den Alterungsprozess. Es geht um die «Abschaffung des Todes». Young, Watson und Arnesen wollen dafür aber nicht den menschlichen Körper unsterblich machen, sie wollen ihn unnötig machen, indem sie das Gehirn samt aller Erinnerungen, der Persönlichkeit und der kognitiven Prozesse, also inklusive Bewusstsein, auf einen Computer übertragen. Dieses «Mind Uploading» ist keine Erfindung von Eschbach, das ist eine umstrittene Idee aus der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Künstlicher Intelligenz und Informatik.
Die Grundidee ist einfach: Wenn es möglich ist, das Gehirn und seine Funktionsweise komplett abzubilden und die neuronalen Strukturen und Prozesse digital zu emulieren, dann sollte es möglich sein, ein funktionierendes Gehirn auf einen Computer zu übertragen. Wenn es gelingen würde, eine exakte Kopie des Gehirns mit einem Upload auf einen Computer zu befördern und jede Synapse, jeden Neuronenkreis und jede neuronale Aktivität exakt zu simulieren, dann sollte auf einer physikalischen Ebene kein Unterschied mehr bestehen zwischen dem realen Gehirn und der Kopie im Rechner. Das Gehirn könnte dann in der virtuellen Umgebung weiter «leben» – es wäre unsterblich. Der Tod wäre abgeschafft.
Allerdings sind die technologischen Herausforderungen riesig, deshalb bittet die Firma Youvatar so viele Milliardäre nach Kalifornien. Das menschliche Gehirn enthält etwa 86 Milliarden Neuronen, die miteinander vernetzt sind und über Billiarden von Synapsen miteinander kommunizieren. Diese extreme Komplexität müsste vollständig erfasst und verstanden werden, um eine funktionierende Emulation des Gehirns auf einem Rechner zu ermöglichen. Gegenwärtig sind Computer weit davon entfernt, die dafür nötige Rechenleistung aufzubringen. Aber die Leistung von Computern steigt exponentiell, vielleicht wird das in naher Zukunft ja machbar.
Der Roman von Andreas Eschbach dreht sich nicht um diese technische Ebene, sondern um ein anderes Thema, das damit verbunden ist. Es ist eines der grössten Rätsel der Gegenwart. Selbst wenn die Computerleistung dafür vorhanden wäre und es möglich wäre, Synapsen und Neuronen zu übertragen, stellt sich die Frage, ob das Hochladen von neuronalen Strukturen wirklich das Bewusstsein mit einschliesst oder ob dabei nur eine funktionale Simulation eines Gehirns entstünde. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, was das Bewusstsein, was dieses Ich in unserem Kopf ist.
Das ist, gelinde gesagt, eine schwierige Frage. Neurologie und Computerwissenschaften haben zwar grosse Fortschritte darin gemacht, das Gehirn zu verstehen, es bleibt aber beim Verständnis für die «Hardware». Was das Bewusstsein ist, das bleibt rätselhaft. Es ist also klar, was passiert, wenn ich mich zum Beispiel in den Finger schneide und die Nerven «Schmerz» ans Hirn leiten. Es ist aber nach wie vor unklar, was es heisst, diesen Schmerz zu erleben, was das Gefühl von Schmerz ausmacht und vor allem, wie dieses «Ich» entsteht, das den Schmerz erlebt.
Vollends unklar ist, ob es, die technische Machbarkeit einmal vorausgesetzt, gelingen könnte, dieses «Ich» auf einen Computer zu übertragen. Und was dann passiert. Würde das «Ich», also dieses Bewusstsein, es bemerken, dass es nicht mehr in einem Kopf sondern in einem Prozessor steckt? Könnte man die Daten kopieren – und damit ein Bewusstsein duplizieren?
In seinem Roman hat Andreas Eschbach diese Fragen in eine spannende Geschichte verpackt, von der ich nicht zu viel verraten möchte. Er erläutert das Problem des Bewusstseins zum Beispiel anhand einer Geschichte, die ein Schriftsteller namens Ferdurci dem recherchierenden James Windover erzählt:
«Als Kind», sagte Ferdurci schließlich, «wollte ich verstehen, wie das mit dem Sehen funktioniert. Ich habe in der Bücherei ein Buch gefunden, in dem es erklärt wurde: dass die Augen wie Kameras gebaut sind, dass die Linsen darin elastisch sind und sich von den Muskeln darum herum auf verschiedene Entfernungen scharf stellen lassen, dass sie ein umgekehrtes Bild auf die Netzhaut werfen, die aus Stäbchen und Zäpfchen besteht, die jeweils einen Lichtpunkt wahrnehmen, so ähnlich, wie das bei einem Fernsehapparat ist. Dass wir einen blinden Fleck an der Stelle haben, an der alle Nervenfasern des Auges zusammenlaufen und zum Sehnerv werden, der ins Gehirn geht … » Er hob die freie Hand in einer Geste der Enttäuschung. «Bloß, wie es dann weiterging, das stand da nicht mehr. Das Buch erklärte, wie die Augen funktionieren, aber nicht, wie das Sehen funktioniert.»
Ich nickte nur. So ähnlich war es mir auch ergangen. Womöglich hatten wir dasselbe Buch gelesen.
«Eine Weile hatte ich die Vorstellung, es gebe im Gehirn eine Art Fernsehapparat, der das Bild zeigt, das die Augen sehen, und dass jemand davorsitzt und es betrachtet. Aber dann wurde mir klar, dass ich damit die Frage nur verlagert hatte, denn wie das Sehen bei diesem Jemand funktionierte, wusste ich dadurch ja immer noch nicht.» Er stellte seine Kaffeetasse ab. «Ich glaube, das war der Moment, in dem ich der Philosophie verfallen bin.»
… «Die Neurologie», fuhr er fort, »verlagert die Frage im Grunde genauso. Sie sagt, es gebe im Gehirn ein Sehzentrum, das die Signale, die von den Augen kommen, verarbeitet. Aber wie geht das vor sich? Bis dahin haben wir eine Kette von, sagen wir, im Grunde mechanischen Vorgängen. Auch wenn sie größtenteils chemischer Natur sind. Licht fällt auf eine Sinneszelle im Auge – die Sinneszelle gibt ein Signal ab. Das Signal kommt an einem Neuron an – das gibt, vielleicht, auch ein Signal weiter. Und immer so fort. Eine Kette von einander mechanisch auslösenden Vorgängen, wie eine Kette von Dominosteinen. Doch wo in dieser Kette ist der Punkt, an dem die bloße Verarbeitung von Signalen umschlägt in Bewusstwerdung? An welcher Stelle passiert es, dass da jemand ist, der sieht? Das weiß niemand. Das ist die große, ungelöste Frage. Die Hirnforscher sagen einfach, na ja, irgendwo im Gehirn muss es passieren, wo denn sonst? Unübersichtlich genug ist es ja weiß Gott, dass sich diese Stelle darin verstecken kann.» (Seite 495 f.)
Das ist ein wunderbares Bild für eine der grössten Fragen der Philosophie: Wer sitzt in unserem Gehirn an diesem Fernsehapparat und verwandelt die Signale der Augen in Sehen? Wer ist das Ich, das sieht – und wie kommt es zustande? Andreas Eschbach ist es gelungen, diese Frage in eine spannende Story zu verpacken und auch Leserinnen und Leser zum Denken zu bringen, die sich noch nie damit beschäftigt haben.

Mich persönlich hat die Rahmenhandlung des Romans fast ebenso interessiert wie die eigentliche Geschichte. Ich meine natürlich die Zeitung, die James Windover herausgibt. Die Zeitung, die sich auf nüchterne Sachinformation beschränkt und keine Emotionen beharkt, keine Sensationen veröffentlicht und niemanden unterhalten will. Eschbach erzählt, wie James Windover mit Anahit Kevorkian die erste Idee zur Zeitung diskutiert und ihr sagt, dass es nicht funktionieren werde.
«Wieso nicht?», fragte sie, und damals wusste ich noch nicht, dass das eine Frage ist, die Anahit Kevorkian grundsätzlich stellt, wenn sie auf die Behauptung stößt, etwas sei unmöglich. Und zwar meist so lange, bis sie eine andere Antwort findet.
«Weil», legte ich ihr das Fazit meiner damaligen Überlegungen dar, «es keinen Markt dafür gibt. Normale Zeitungsleser gestehen sich das nicht ein, aber sie suchen in ihrem Blatt in erster Linie Unterhaltung. In zweiter Linie wollen sie ihre Vorurteile bestätigt sehen, und in dritter Linie wollen sie das Gefühl haben, am Zeitgeschehen teilzuhaben – aber nur ungefähr so wie jemand, der am Straßenrand anhält, um sich einen Unfall auf der Fahrbahn gegenüber anzuschauen. Die meisten Dinge, von denen sie lesen, gehen sie eigentlich nichts an, haben oft wenig Einfluss auf ihr Leben, und vor allem haben sie keinen Einfluss auf diese Dinge. Im Grunde nützt es ihnen nichts, darüber Bescheid zu wissen.» (Seite 60)
Das ist gut gesagt und, das sage ich Ihnen als ehemaliger Chefredaktor einer Zeitung, leider schrecklich wahr: Die meisten Zeitungsleser lesen Zeitung wie jemand, der am Straßenrand anhält, um sich einen Unfall auf der Fahrbahn gegenüber anzuschauen. Anahit Kevorkian kann sich die sachliche Zeitung, von der sie träumt, ganz einfach selbst finanzieren, weil sie Milliardärin ist. Das schafft aber eine grosse Abhängigkeit. Marta, die Geschäftspartnerin von James Windover, möchte deshalb das Businessmodell verändern. Statt 49 Milliardäre, die jedes Jahr eine Million Euro für ihr Abo bezahlen, hätte sie lieber eine halbe Million Abonnenten, die hundert Euro im Jahr bezahlen müssen. James Windover winkt ab: Es gebe dafür keinen Markt. Marta regt sich auf:
«Wieso bist du dir da so sicher? Wir sind eine englischsprachige Zeitung. Über das Internet können wir die ganze Welt erreichen. Rund 1,3 Milliarden Menschen sprechen Englisch, für mehr als vierhundert Millionen ist es die Muttersprache – und da sollen sich nicht eine halbe Million finden, die für weniger als zehn Dollar pro Monat ungeschminkte Nachrichten lesen wollen?»
Ich ließ mich in ihren Besuchersessel fallen. «Darauf kann ich nur Gustave Le Bon zitieren, den Begründer der Massenpsychologie. ‹Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet›, hat er schon 1895 geschrieben. ‹Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.›» (Seite 77)
Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet – wie wahr. Abgesehen vom eigentlichen Thema des Romans, dem Thriller rund um die Frage, ob sich das Bewusstsein in einen Computer uploaden lässt, hat mich diese Rahmenhandlung interessiert und fasziniert. Und natürlich würde ich mir für meine Arbeit auch eine Financière im Stil von Anahit Kevorkian wünschen. Andreas Eschbach ist mit James Windover und seiner sachlichen Zeitung für Milliardäre eine spannende Figur gelungen, die mich ein wenig an die Helden von Jules Verne erinnert hat, zum Beispiel an den fabelhaften Phineas Fogg oder an Pierre Aronnax. Die Figur von James Windover ist geradezu darauf angelegt, weitere Abenteuer zu bestehen. Aber vorerst begnügen wir uns gerne mit diesem einen.
Andreas Eschbach: Die Abschaffung des Todes. Die Unsterblichkeit ist nur ein paar Milliarden Dollar entfernt. Bastei Lübbe, 656 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-7577-0051-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783757700515
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Basel, 09.10.2024, Matthias Zehnder
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