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Das Institut
Thyl Osterholz hat sein Studium als Biologe mit Diplom beendet. Weil er nicht so recht weiss, was er mit seinem Bio-Studium anfangen soll, bewirbt er sich 1975 zur Überbrückung auf Empfehlung hin beim «Institut für Soziales», einer Denkfabrik ausserhalb der Stadt. Institutsleiter Lavetz lädt ihn zum Gespräch ein und sagt am Ende: «Wir haben zwar keine Arbeit für Sie, aber fangen Sie am nächsten Montag an.» So beginnt der neue Roman von Christian Haller. Im «Institut für Soziales», in dem Thyl Osterholz seinen Aushilfsjob antritt, ist unschwer das Gottlieb Duttweiler-Institut erkennbar. Im Untergeschoss des modernen Gebäudes lernt Thyl Ben Seymour kennen, der inmitten von Türmen aus Zeitungen und Zeitschriften und Sedimenten von Briefen und Prospekten den Themen künftiger Tagungen nachspürt und im Rauch seiner Zigarre Trends erschnüffelt. Ben ist in der Lage, einem Thema Bedeutung zu geben und es zu einer überlebenswichtigen Sache zu machen. Thyl ist fasziniert – und wird immer tiefer hineingezogen in die Arbeit am Institut, aber auch in die Intrigen, die Machtkämpfe, das Werben um Kunden und Sponsoren. Er verheddert sich mehr und mehr im grossen Widersprich des Instituts: Einerseits soll es im Sinne seines Gründers Wirtschafts- und Konsumkritik betreiben, andererseits genau diese Wirtschaft ansprechen und ihr als Trendforscherin dienen. Mehr und mehr kann Thyl Osterholz nicht mehr unbefangen über Macht nachdenken, weil er täglich Zeuge wird, wie die Macht grob, rücksichtslos und intrigant ausgeübt wird. In meinem 224. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum der Roman von Christian Haller auch dann spannend zu lesen ist, wenn Sie die Bezüge zum realen Institut nicht kennen.
Gottlieb Duttweiler ist in der Schweiz so etwas wie ein Wirtschafts-Heiliger: 1888 in Zürich geboren, sorgte er ab 1925 für eine Revolution des Detailhandels. In den 1920er-Jahren war der Handel mit Lebensmitteln von Kartellen geprägt. Duttweiler sprengte die Absprachen, indem er die Ware mit Verkaufswagen in die Dörfer fuhr und direkt ab Lastwagen verkaufte. Später positionierte er sich mit seinen Läden zwischen den teuren Detailhändlern und dem En-Gros-Handel, also dem Grosshandel. Seine Firma nannte er deshalb Migros. Weil die etablierten Unternehmen Duttweiler und seine Migros schikanierten und boykottierten, stieg er in die Politik ein und gründete eine eigene Partei, den «Landesring der Unabhängigen». Duttweiler sass für die Partei im National- und im Ständerat und politisierte als Kantonsrat im Zürcher Kantonsparlament.
Die Werbung für seine Läden verbreitete er zunächst auf Flugblättern. Daraus entstand die Wochenzeitung «Die Tat», die ab 1939 als Tageszeitung verbreitet wurde. 1942 gründete er die Wochenzeitung «Wir Brückenbauer», das heutige «Migros Magazin». Duttweilers Mission war eine soziale Marktwirtschaft. Weil er verhindern wollte, dass aus seiner Migros ein normales Grossunternehmen wurde, teile er die Aktiengesellschaft in regionale Genossenschaften auf und verschenkte sein Unternehmen so an die Kundinnen und Kunden. 1973, lange bevor es das Wort Corporate Social Responsibility überhaupt gab, gründete er das «Migros-Kulturprozent»: Ein Prozent des jährlichen Umsatzes der Migros sollte künftig für kulturelle und soziale Zwecke eingesetzt werden. Um seiner Kritik am Kapitalismus ein Forum zu geben, gründete er 1962 das Gottlieb Duttweiler Institut. Dieses GDI gilt heute als ältester Think Tank der Schweiz.
Gottlieb Duttweiler wollte an Stelle des Kapitals den Menschen in den Mittelpunkt der Wirtschaft stellen. Am GDI sollten deshalb Handel, Ernährung und Gesundheit sowie aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen erforscht und diskutiert werden. Oder, wie es das GDI heute formuliert: Ziel sei ein Institut, «in dem das freie Denken über die Zukunft der Welt im Mittelpunkt steht, das zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt und Menschen vor den Profit stellt.» Und weiter: «Am GDI wecken wir Mut und stillen Neugier. Wir inspirieren und befähigen Menschen und Organisationen, ihre Branchen zu gestalten und den Blick in die Zukunft positiv zu erleben.»
Dieses Gottlieb Duttweiler Institut steht im Zentrum des Romans von Christian Haller. Er nennt es natürlich nicht so und das Geschehen lässt sich auch auf andere, ähnliche Institutionen anwenden. Das «Institut für Soziales» wird bei Christian Haller von einem Mann namens Lavetz geleitet, in dem unschwer Hans A. Pestalozzi erkennbar ist. Wie der richtige Pestalozzi war der fiktive Lavetz der persönliche Sekretär des Unternehmensgründers. Im Buch heisst die Duttweiler-Gründer-Figur Alois Baltensperger, kurz «Al Balt». Lavetz avanciert nach dem Tod des Gründers zum Vizedirektor des Unternehmens und übernimmt dann die Leitung des «Instituts». Wie Hans A. Pestalozzi macht er das Institut zu einem international anerkannten Think Tank für Führungskräfte und lockt mit seinen internationalen Kongressen Unternehmensführer, Wissenschaftler, Philosophen und Politiker als Gäste aus der ganzen Welt nach Rüschlikon. Ganz im Sinne des Gründers sollen hier die Schwachstellen der Wachstums- und Konsumgesellschaft aufgespürt und aufgedeckt werden.
Daraus ergeben sich rasch zwei Konfliktlinien. Einerseits wird das Institut zum antikapitalistischen Stachel im Fleisch des Handelskonzerns, andererseits muss sich das Institut selbst nach kapitalistischen Kriterien organisieren, sprich: es bearbeitet den internationalen Markt für Kongresse und richtet sich mit seinem Themenangebot dabei nach der Nachfrage der Manager und Unternehmensführer. Im richtigen Leben stichelte und stach Hans A. Pestalozzi immer heftiger gegen den Konzern, den Handel und seine Gesetze. Berühmt wurde sein Buch «Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion», ein damals visionäres Buch über die sozialen und ökologischen Kosten der Wirtschaft. 1979 werden die Widersprüche zu gross: Hans A. Pestalozzi wird fristlos entlassen.
Genauso ergeht es im Buch Institutsleiter Lavetz. Allerdings lässt uns Christian Haller vorher einen tiefen Blick in die Widersprüchlichkeit des Instituts werfen. Als tumber Tor, der die Welt der internationalen Kongresse zunächst naiv erlebt, dient Haller dabei Thyl Osterholz. Er jobbt im Institut als Aushilfskraft, macht aber rasch Karriere und organisiert schon bald eigene Kongresse. Die Arbeit mit Wissenschaftlern, Denkern und Unternehmern aus der ganzen Welt fasziniert ihn. Er beobachtet aber auch die Intrigen am Institut und die Machtkämpfe von Institutsleiter Lavetz mit dem Handelsunternehmen. Wilfors heisst es im Buch, das erinnert wenigstens lautlich an Migros. Thyl Osterholz ist sich bewusst, auf was er sich einlässt. Er ist überzeugt, dass er sich aus allem heraushalten und Beobachter bleiben kann.
«Andererseits finde ich die Unruhen und Spannungen am Institut belastend. Zuerst waren es Projekte, die begonnen und nicht zu Ende gebracht wurden, dann war von einer Neuausrichtung des Instituts und einem ‹Forum Humanum› die Rede, und nun beabsichtigt Lavetz offenbar, Ben loszuwerden. Doch weshalb er das will, und warum das Institut umgestaltet werden soll, verstehe ich nicht.»
«Es ist am Institut schon immer unruhig gewesen», sagte Sabine, doch den Grund kenne sie diesmal nicht. «Die Spannungen haben ziemlich genau angefangen, als du ans Institut kamst …»
« … und als Aushilfe Zettel mit Stichworten ausfüllte.»
«Deshalb dachten wir, du seist als Hilfe für Ben eingestellt worden. Doch dann hast du Projekte betreut, und das förderte Gerüchte, vor allem nach dem Gerede von der »Blutauffrischung«, du könntest Ben ablösen.»
Ben sei nicht ersetzbar, sagte ich. «Schau dir diesen Kongress an! Eine Spitzenbesetzung an Referenten, hochrangige Teilnehmer, ein volles Auditorium.»
«Lavetz wird ihn deshalb auch kaum entlassen können», sagte Sabine, «zumal Ben zu lange am Institut ist, um ohne schwerwiegende Verfehlung gekündigt zu werden.» Und nach einem langen Blick auf den See sagte sie: «Ich kann dir nicht sagen, ob etwas hinter all dem steckt, worüber geredet wird. Die Empfindlichkeiten sind gegenseitig groß, wie es die Egos sind. Du wirst gemerkt haben, dass du es mit narzisstischen Menschen zu tun hast. Sie sind faszinierend und charmant, doch nur so lange du ihrem Ich dienst. Komm ihnen in die Quere, und es ist mit Charme und Wohlwollen vorbei.» (Seite 100f.)
Schon früh im Buch macht Haller klar, dass Thyl Osterholz nicht Zuschauer bleiben kann, sondern selbst übers Ohr gehauen werden wird. Auf seiner ersten Auslandreise, einem Trip nach London, begegnet er auf der Strasse einem Trickbetrüger, der mit einem Kartenspiel einen englischen Arbeiter ausnimmt. Osterholz stellt sich dazu und durchschaut den Trick sofort. «Ich verstehe nicht, wie jemand auf diesen Trick hereinfallen kann», sagt er zum Mann, der neben ihm steht. Kopfschüttelnd verfolgen die beiden den Betrug. Der Arbeiter tut Osterholz leid. Er hilft ihm – und der Arbeiter gewinnt tatsächlich seinen Einsatz zurück. Der Arbeiter und die Umstehenden freuen sich und rufen «Zeig es ihm!» Osterholz hat Robin-Hood-Gefühle: Er will den Trickbetrüger ausnehmen – und verliert seine ganze Barschaft dabei.
Er erzählt es niemandem und schämt sich vor seiner Freundin Isabelle:
Von meinem Londoner Erlebnis erzählte ich Isabelle kein Wort. Den Spott konnte ich mir ersparen, und ich wusste zu gut, was sie sagen würde: Ich sei auf die Geschichte vom armen, betrogenen Arbeiter hereingefallen, habe darin eine noble Rolle spielen wollen, ein Muster, das sie bestens kenne. Das mochte stimmen, doch schockiert hatte mich, dass es so einfach gewesen war, mich zu täuschen, ich trotz des Wissens, dass es um einen Betrug ging, mich betrügen ließ. Ich hatte als Junge geschworen, es solle mir nie wie meinem Vater ergehen, der durch Machenschaften sein ganzes Geld verloren hatte. Jetzt hatte mein jugendlicher Vorsatz einen heftigen Stoß erlitten: mich zu betrügen schien einfacher zu sein, als ich mir das jemals hatte träumen lassen. (Seite 41)
Im Institut passiert ihm genau das: Obwohl er um die Widersprüche des Instituts weiss, fällt er genau darauf herein. Er erlebt am eigenen Leib, dass soziale Marktwirtschaft ein innerer Widerspruch ist. Ein Widerspruch übrigens, der sich heute am Gebaren der Migros deutlich zeigt: Mit den Ideen von Gottlieb Duttweiler hat die kalte Arithmetik des Konzerns kaum mehr etwas zu tun. Während Thyl Osterholz sich in die Machtkämpfe am Institut verstrickt, hat seine Freundin Isabelle ihren Beruf als Physiotherapeutin aufgegeben und damit begonnen, als Theatertechnikerin zu arbeiten. Sie kritisiert Thyl, weil der trotz der «widerlichen Machenschaften» am Institut an seiner Arbeit festhält. Isabelle hat neue Freunde gefunden, mit denen sie sich regelmässig zu Diskussionen trifft. Ihr gefällt der offene Austausch über Theater, Philosophie und Gesellschaft. Thyl begleitet sie an eines der Treffen.
Ich verstand, weshalb Isabelle sich in dem Kreis wohlfühlte. Es waren kluge Frauen und Männer, die hier zusammenkamen, diskutierten, stritten und mit Witz und Schlagfertigkeit argumentierten. Die Atmosphäre war gelöst und heiter. Ein wenig beneidete ich Isabelle, die freudig begrüßt wurde, sich in dem Kreis aufgenommen fühlte, während ich fremd blieb. Obwohl man mir offen und neugierig begegnete, würde ich nicht dazugehören, und das lag nicht an Isabelles neuen Freunden. Es lag an mir. Sie erschienen mir leicht, frisch und unbelastet, im Gegensatz zu mir. Politische Theorien waren für mich keine abstrakten Sprachlandschaften, durch die ich wie durch großzügig angelegte Parks gehen und vom Baum der Erkenntnis pflücken konnte. Ich saß in Lavetz‘ Büro, hörte und sah zu, wie Macht nicht subtil, sondern grob und rücksichtslos ausgeübt wurde. (Seite 182f.)
Thyl versucht, sich durch den Umgang mit der Macht nicht korrumpieren zu lassen. Aber wie es in London nicht gelang, sich vom Betrüger nicht betrügen zu lassen, kann er sich den Intrigen am Institut nicht entziehen. Christian Haller zeigt auf diese Weise die Widersprüchlichkeit der Wirtschaftskritik. Das Buch ist dabei kein Hommage an Hans A. Pestalozzi, dafür zeichnet Haller Institutsleiter Lavetz zu ambivalent. Auch Lavetz kritisiert die Macht und die Wirtschaft nicht nur, er bedient sich auch ihrer Mechanismen – und spielt auch im Persönlichen, gerade im Umgang mit Frauen, seine Macht auch aus. Dass er fristlos entlassen wird und danach als publizistischer Robin Hood Wirtschaft und Gesellschaft kritisiert, ist kein Ausstieg aus diesem System, sondern nur eine neue Rolle darin.
Christian Haller ist mit seinem Roman ein spannendes Stück Literatur über Macht und Wirtschaft, Narzissmus und Naivität gelungen, das sich auch dann spannend liest, wenn man vom GDI, Hans A. Pesatalozzi und dem Migros-Frühling keine Ahnung hat. Denn die Mechanismen, die Haller offenlegt, sind universell.
Christian Haller: Das Institut. Luchterhand, 272 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-630-87776-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783630877761
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Basel, 02.10.2024, Matthias Zehnder
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