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Die Himmelsrichtungen

Publiziert am 16. Oktober 2024 von Matthias Zehnder

Amelia Earhart, 1897 in Kansas in den USA geboren, im Sommer 1937 auf einem Flug über den Pazifischen Ozean verschollen, war eine spannende Frau: Flugpionierin, Aktivistin, Frauenrechtlerin. Eine richtige Heldin. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass sie keine Heldin sein wollte, sondern nur sich selbst. Sie war eine der ersten Frauen, die einen Pilotenschein der Fédération Aéronautique Internationale (FAI) besass. 1922 stellte sie den Frauen-Höhenrekord im Fliegen auf, 1928 flog sie als erste Frau über den Atlantik, allerdings durfte sie nur als Passagierin mitfliegen. Als Pilotin flog sie 1932 als erste Frau alleine über den Atlantik. 1935 flog sie als erste Frau alleine über den Pazifik von Honolulu nach Oakland. Als erster Mensch wollte sie 1937 die Erde am Äquator zu umrunden. Auf dem letzten Teilstück der Weltumrundung verschwand sie spurlos. Spannend ist sie nicht nur dieser Abenteuer wegen, sondern weil sie als selbstbewusste Frau – nein: als selbstbewusster Mensch auftrat. Der deutsche Schriftsteller und Verleger Jo Lendle blickt jetzt in einem Roman auf ihr Leben zurück. Und das wörtlich: Er erzählt die Geschichte von Amelia Earhart rückwärts. Warum das Sinn macht und was das Buch spannend macht, sage ich Ihnen diese Woche in meinem 226. Buchtipp.

 

 

Warum ist ein Buch spannend zu lesen? Was meint diese «Spannung», die da entsteht? Im einfachsten Fall bin ich einfach gespannt, wie sich die Handlung entwickeln wird. Es entsteht das Gefühl einer Erwartung, die Autorin oder der Autor «spannt mich auf die Folter», wie man so schön sagt. Die Folter besteht daraus, dass ich nicht weiss, wie die Geschichte ausgeht. Der Wunsch nach Auflösung treibt mich dazu, weiterzulesen. Wie kann es da sein, dass ein Roman spannend zu lesen ist, der am Ende der Handlung beginnt?

Genau das macht Jo Lendle in seinem Buch über die Flugpionierin Amelia Earhart: Er beginnt mit dem letzten Flug von Ameila: Am 2. Juli 1937 hebt sie von Lae in Neuguinea ab, um den letzten Teil ihrer Erdumrundung in Angriff zu nehmen. Sie will den Pazifik überqueren und von Westen her wieder in die USA zurückkehren. Unterwegs will sie auf der Howlandinsel einen letzten Zwischenstopp einlegen. Doch da kommt sie nie an. Seither gilt Amelia Earhart als verschollen, am 5. Januar 1939 wird sie für tot erklärt. Mit dem letzten Flug beginnt Jo Lendle sein Buch. Amelia macht, was sie immer gemacht hat: Sie fliegt. So lange sie fliegt, ist sie am Leben. Jo Lendle lässt sie sagen: «Die letzte, einzige Gewissheit, die mir bleibt: Wenn ich niemals lande, werde ich nicht gestorben sein.»

Auf den folgenden Seiten tastet sich Jo Lendle Schritt für Schritt durch das Leben dieser aussergewöhnlichen Frau zurück. Jo Lendle hat sich dafür auf Amelia Earharts Schriften und Logbücher, ihre Briefe und ihre Gedichte gestützt. Er hat sich ihre Person und ihr Denken dabei so zu eigen gemacht, dass er das Buch in Ich-Form geschrieben hat. «Im Grunde hat sie dieses Buch geschrieben», sagt er im Nachwort des Romans.

Weil Jo Lendle hinten beginnt, mit ihrem letzten Flug, lesen wir das Buch aber nicht als Biografie. Vielmehr tragen wir Schicht für Schicht ihres Lebens ab, bis wir in ihre Kindheit gelangen. Es ist etwa so, wie wenn Sie in einer Buchhandlung ein interessantes Buch zur Hand nehmen. Sie drehen es um und lesen den Klappentext. Jetzt halten sie das Buch in der linken Hand und blättern mit der rechten Hand von hinten ins Buch. Sie lesen einige Seiten am Ende des Romans. Sie blättern weiter und tasten sich langsam vor, bis sie auf der ersten Seite landen. Und dann das Buch von vorne lesen – wenn die Buchhändlerin Sie nicht schon lange aus dem Laden geschickt hat.

Warum macht diese Art des Erzählers bei Amelia Earhart Sinn? Weil ihr Leben als Flugpionierin und als Heldin und natürlich ihr geheimnisvolles Verschwinden im Pazifik ihr persönliches Leben überstrahlt. Die meisten Menschen kennen Ameila Earhart als Filmheldin, gespielt von Hilary Swank, an der Seite des unvermeidlichen Richard Gere in der Rolle ihres Ehemanns und Verlegers George Putnam.  Die meisten Menschen kennen also nicht Amelia Earhart, sondern eine Hollywood-Version von ihr, das Drama ihres Verschwindens. Kein Wunder, setzt Jo Lendle damit ein.

Im Buch lässt er Amelia sagen: «Mir war es nie darum gegangen, irgendwo anzukommen. Ich wusste selbst nicht, warum. Vielleicht misstraute ich der Idee einer Ankunft. Vielleicht genoss ich auch einfach den Zwischenraum.» (Seite 97)

Das ist der zweite Grund, warum es Sinn macht, die Geschichte von Amelia von hinten zu erzählen: Wir machen uns mit Jo Lendle auf den Weg, Amelia zu entdecken. Schicht für Schicht tragen wir die Legenden ab. Die Hollywood-Heldin, die Rekordhalterin, die Flugpionierin, die Frauenrechtlerin, die Hilfe-Pflegefachfrau, die Schülerin, das Kind. Sie muss ein richtiger Wildfang gewesen sein. Als sie sieben Jahre alt ist, baut sie sich im Garten eine eigene Achterbahn. Als sie zehn Jahre alt ist, sieht sie auf der Iowa State Fair in Des Moines zum ersten Mal ein Flugzeug. Später sagt sie, das Ding aus rostigem Draht und Holz habe sie überhaupt nicht interessiert. Mit 19 schliesst sie die High School ab, weiss aber nicht so recht, wie es weitergehen soll. Sie wechselt ans College, studiert Medizin und freundet sich mit einer anderen Studentin an, mit Louise.

Einmal überredete ich Louise, die riesige Kuppel der Library zu erklimmen, den höchsten Punkt auf dem Campus. Es war gewagt, aber was sollte uns passieren? Wir stiegen durch ein Fenster ins Freie und kletterten hinauf, anfangs steil, aber schon bald wurde es flacher. Wir trugen Zylinder und schauten über die ganze Stadt. Louise machte Fotos von uns. Sie fragte, warum es mich immer in die Höhe ziehe, und ich sagte, meine liebste Himmelsrichtung sei oben. Es kam uns vor wie ein großer Spaß, auch wenn wir nicht genau wussten, was daran lustig sein sollte. Über uns breitete sich der Himmel aus. Weit unten zogen Menschen hin und her, sie liefen an Orte, von denen gerade jemand aufbrach, um dorthin zu gehen, woher sie eben gekommen waren. Von hier oben sah alles vollkommen unnötig aus, jeder hätte bleiben können, wo er war. Louise fragte mich nach meinen Plänen. Ich sagte, ich wolle versuchen, mich nicht von Gewohnheiten einschüchtern zu lassen. Ich hätte jedenfalls nicht die Absicht, an den Schranken meiner zufälligen Gegenwart zu verharren. Wir seien grundlos in eine Zeit und ihre momentanen Regeln geboren. Nicht ihnen fühlte ich mich verpflichtet, sondern nur dem unendlichen Raum der Möglichkeit. Allerdings hätte ich keine Ahnung, was mich darin erwartet. Louise sagte, das sei ihr zu allgemein. Sie zum Beispiel interessiere sich für Geburtenkontrolle. Ich hatte keinen Schimmer, wofür ich mich interessierte. Die Medizin war es nicht wirklich. Ich konnte nicht sagen, was mir fehlte, aber es fehlte stark. (Seite 168 f.)

Die Stelle zeigt die Denkweise von Amelia und wie es Jo Lendle schafft, ihre poetischen Gedankensplitter einzubauen in den Roman. Ihre liebste Himmelsrichtung ist oben. Von hier oben sah alles vollkommen unnötig aus. Und: Ich konnte nicht sagen, was mir fehlte, aber es fehlte stark. Das ist präzis gesagt und macht auch dieses unbestimmte Gefühl gut nachvollziehbar.

Amelia bricht das Medizinstudium ab, als sie in den Weihnachtsferien 1917 bei einem Besuch ihrer Schwester in Toronto verwundete Soldaten sieht. Sie meldet sich beim Roten Kreuz, erhält eine Ausbildung als Krankenschwesterhelferin und arbeitet im Militärspital als freiwillige Helferin. Da begegnet sie wohl auch Militärpiloten, hört ihre Geschichten und entwickelte ein Interesse an der Fliegerei. Ende 1920 steigt sie als Passagierin zum ersten Mal in ein Flugzeug und dann ist es um sie geschehen. Endlich hat sie gefunden, was ihr so stark gefehlt hat: die Freiheit im Fliegen.

Ab 1921 nimmt Amelia Flugstunden bei Neta Snook, einer der wenigen Pilotinnen. Sie jobbt und spart und kauft sich kurz darauf ihr erstes Flugzeug, einen Zweisitzer mit offenem Cockpit. Mit dem kleinen Flugzeug, das sie «The Canary» nennt, stellt sie wenig später einen Höhenweltrekord für Frauen auf. 1928 fliegt sie als erste Frau über den Atlantik. Aber nicht als Pilotin, das traut man ihr nicht zu. Noch nicht. Sie ist Passagierin. Im Buch stellt Jo Lendle aber klar: Ohne den eisernen Willen und die Disziplin von Ameila wären die beiden Piloten noch vor dem Abflug versumpft und hätten es nie über den Atlantik geschafft.

Über den Flug schreibt sie ein Buch. Es erscheint im Verlag von George Putnam, der schon das Buch von Charles Lindbergh herausgebracht hat. Der New Yorker Verleger wird zum Freund und Mentor von Ameila – und er verliebt sich in sie. Ameila will aber selbstständig bleiben. Erst mit seinem sechsten Heiratsantrag hat George Erfolg. 1931 heiratet Amelia ihn eher widerstrebend. Sie wollte lieber fliegen. Die beiden einigten sich auf eine offene Ehe. Im Buch hat Jo Lendle einen Brief von Amelia an George abgedruckt. Sie schreibt:

Lieber G

Es gibt ein paar Dinge, die schriftlich festgehalten werden sollten, bevor wir heiraten. Dinge, die wir schon besprochen haben – die meisten. Du wirst noch einmal meinen Widerwillen gegen die Ehe hören müssen. Ich habe das Gefühl, sie zerstört die Möglichkeiten meiner Arbeit, die mir alles bedeutet. Jetzt gerade erscheint mir der Schritt als das Törichteste, was ich je tun könnte. Ich weiß, es mag Entschädigungen geben. Aber ich wage kaum, nach vorn zu schauen. Ich werde dich in unserem gemeinsamen Leben an keinerlei mittelalterlichen Treuekodex binden, noch werde ich mich an dich gebunden fühlen. Wenn wir aufrichtig miteinander sind, werden sich Schwierigkeiten am ehesten vermeiden lassen, sollten du oder ich ein tiefes ( oder flüchtiges) Interesse an anderen entwickeln.

Bitte lass uns Arbeit oder Spiel des anderen nicht stören.

Und lassen wir die Welt unsere privaten Freuden oder Unstimmigkeiten nicht sehen. Womöglich muss ich mir einen Platz bewahren, an den ich bisweilen gehe, um ich zu sein. Ich kann dir nicht zusichern, die Beschränkungen selbst eines reizvollen Käfigs jederzeit zu ertragen.

Ich muss dir ein grausames Versprechen abverlangen: Du wirst mich in einem Jahr gehen lassen, wenn wir kein Glück miteinander finden. Ich werde versuchen, in jeder Hinsicht mein Bestes zu tun und dir den Teil von mir zu geben, den du kennst und zu wollen scheinst.

A (S. 127)

Amelia will sich nicht einfangen lassen, sie will frei bleiben. Frei bleiben und fliegen. Das beeindruckt die Frauen ihrer Generation. Nach ihrem Flug über den Atlantik beginnt sie, Vorträge und Vorlesungen zu halten. Sie will die amerikanischen Frauen aus ihren Käfigen herausholen. Ihr Credo: An Frauen sollen keine anderen Massstäbe gelegt werden als an Männer.

Am 20. Mai 1932 steigt sie ins Cockpit ihres knallroten Flugzeugs, einer  Lockheed Vega 5B, und überquert als erste Frau am Steuerknüppel den Atlantik. 15 Stunden, nachdem sie in Neufundland gestartet ist, landet sie in Irland. Danach ist Amelia Earhart definitiv ein Star: eine Frau, die nicht nur Glasdecken, sondern den Himmel durchbrochen hat. Es ist nur logisch, dass sie in diesem Himmel bleibt und auf der letzten Etappe ihrer Weltumrundung 1937 verschwindet. Schliesslich ist Ihre liebste Himmelsrichtung oben. Anfang Jahr hat ein amerikanischer Forscher zwar behauptet, er habe das Wrack von Earharts Flugzeug gefunden, tief im pazifischen Meer. Möglich wärs, aber nicht relevant. Wer Amelia suchen will, sollte nicht tauchen, sondern in den Himmel schauen.

Jo Lendle hat hinter den Glamour des Flieger-As, der amerikanischen Vorzeige-Frau, des Stars geschaut, er hat Schicht für Schicht abgetragen, bis in die Kindheit von Amelia. Entstanden ist ein Porträt mit Auszügen aus ihrem Tagebuch und mit einigen Gedichten aus ihrer Hand, eine wunderbar poetische Hommage an eine eigensinnige Frau. Deshalb möchte ich auch hier Amelia das letzte Wort lassen. Im Buch trifft sie Eleanor Roosevelt, die Frau des Präsidenten. Auf ihren Wunsch nimmt sie Eleanor auf einen Rundflug mit, danach übernachten sie in einem Hotel. Gemeinsam rezitieren sie ein Gedicht von Amelia:

Mut ist der Preis, damit das Leben Glück verspricht.
Wer das nicht weiß, der kennt auch die Erlösung nicht,
Wenn er sich traut.

Der kennt noch nicht die bleiche Einsamkeit der Angst,
die Gipfelhöhen, wo du in herber Freude bangst,
beim Flügellaut.

Wie soll das Leben Glück gewähren, wie gleicht es aus
die graue Hässlichkeit – wenn keiner geradeheraus
mehr sich erfrecht,

Die Seele anzugehen? Wer jemals wählt, der zahlt
mit Mut für jeden Tag, der lockend neu erstrahlt,
und nennt’s gerecht.
(Seite 89)

Jo Lendle: Die Himmelsrichtungen. Penguin Verlag, 256 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-328-60379-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783328603795

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Basel, 16. Oktober 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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