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Atom
1927 treffen sich in Berlin an der Friedrich-Wilhelms-Universität drei Studenten in den Vorlesungen von Albert Einstein: Alexander Scherschewsky aus Russland, Hedi von Treyden aus Deutschland und der Engländer Simon Batley. Die drei begeistern sich für fortgeschrittene Mathematik und Physik – und für den Bau von Raketen. Die lebensfrohe Hedi ist das Zentrum des Trios, Sascha und Simon umkreisen sie und buhlen um ihre Gunst. Und nicht nur das: Beide arbeiten auch als Spione für ihre Heimatländer. Alexander Borisowitsch Scherschewsky, eine historische Figur übrigens, informiert den russischen Geheimdienst über die Fortschritte der Deutschen – Simon informiert die Engländer darüber, was Scherschewsky nach Moskau berichtet. Es ist der Anfang eines Romans, der Spionagethriller, Geschichtslektion und moralisches Lehrstück zugleich ist. Als Scherschewsky nach Moskau abgezogen wird, ruft auch der MI6 ihren Studenten aus Berlin zurück nach London. Der muss sich ohne Abschied von Hedi trennen und kehrt dem Dienst frustriert den Rücken. Jahre später, mittlerweile regieren in Deutschland die Nazis, holt ihn sein damaliger Führungsoffizier zurück. Der promovierte Physiker Batley soll den englischen Geheimdienst wissenschaftlich unterstützen. Er soll herausfinden, an welchen neuartigen Waffen die Deutschen arbeiten: Raketen, Düsenflugzeuge und die Atombombe. Steffen Kopetzky geht es in seinem Roman aber nicht nur um eine spannende Geschichtslektion und um einen süffigen Spionagethriller, in dem übrigens Ian Fleming himself einen Auftritt hat. Im Zentrum stehen moralische Fragen darüber, wie die Amerikaner deutsche Wissenschaftler und ihr Wissen abgegriffen haben. In meinem 250. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum das uns auch heute eine Lektion lehren könnte.
Wer sich auch nur ein bisschen für Raumfahrt interessiert, kennt Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun: Unter seiner Leitung hat die NASA die Saturn-Rakete entwickelt und gebaut, mit der die Amerikaner 1969 auf dem Mond gelandet sind. 25 Jahre vorher stand Wernher von Braun in den Diensten von Nazideutschland: Der Raketenpionier hatte für Hitler die «Wunderwaffe» V2 entwickelt, eine Rakete, mit der die Nazis London und andere Städte beschossen. Wernher von Braun war nicht einfach einer der Physiker des deutschen Raketenprogramms, er war ihr Kopf und wusste genau, dass für seine Raketen Tausende von Zwangsarbeitern schufteten – viele von ihnen wurden umgebracht oder sie schufteten sich zu Tode. Ein führender Nazi-Wissenschaftler konnte also nicht nur unbehelligt in den USA arbeiten, er nahm da auch noch eine führende Rolle ein. Steffen Kopetzky erzählt in seinem Buch, wie es dazu kommen konnte.

Den Anfang nimmt die Geschichte in der Weimarer Republik, in Berlin, mit unseren drei Studierenden Hedi, Sascha und Simon. Alle drei studieren nicht nur Physik bei Albert Einstein, sie beschäftigen sich auch mit einem Thema, das damals mehr Fiction als Science war: mit Raketen. Das Thema lag schon einige Jahre in der Luft: 1923 hatte der deutsch-ungarische Physiker Hermann Oberth seine Diplomarbeit zum Raketenbau veröffentlicht. Titel: «Die Rakete zu den Planetenräumen». Oberth hatte schon 1917 eine mit Ethanol und Sauerstoff betriebene Rakete entworfen. In seinem Buch beschrieb er visionär die Grundlagen zur Raketentechnik und Weltraumfahrt, inklusive aller wesentlichen Elemente zum Bau von mit Flüssigtreibstoff angetriebenen Gross- und Mehrstufenraketen.
Oberth hatte einen Verein für Raumschiffahrt gegründet. Da werkelte er gemeinsam mit anderen begeisterten Technikern in seiner Freizeit an kleinen Raketen. 1928 wurde ein junger Ingenieur Mitglied des Vereins und ging Oberth beim Bau der ersten Raketen zur Hand: Wernher von Braun. Eine der Raketen von Oberth fand Eingang in die Filmgeschichte: Fritz Lang benutzte sie 1929 für seinen Film «Frau im Mond». Es ist geradezu erschreckend, wie präzise Fritz Lang sich das Aussehen und den Start der Rakete vorstellte. An dieser Film-Rakete baute auch der russische Raketenwissenschaftler Alexander Borisowitsch Scherschewsky genannt Sascha mit.
Tatsächlich sollte von Oberth auch eine echte Rakete gebaut werden, die die Ufa zur Werbung für den Film starten wollte. Auch an dieser arbeitete Sascha mit, besonders in der Entwicklung des Triebwerks. Um diese Projekte herum kam es zu so etwas wie einer Kristallbildung. Oberth, Sascha und andere konstruierten die Rakete, die bald die unterschiedlichsten Menschen anzog. Es ging zwar nur um eine Auftragsarbeit für eine Filmfirma, einen Werbegag, aber Oberth war fest entschlossen, eine technisch riskante, echte Rakete zu bauen, kein Theatermodell, das nur so tat, als würde es in den Himmel fliegen. Sondern tatsächlich den Archäopteryx des Aggregats mit Flüssigbrennstoff. Zu dieser Zeit tauchte auch erstmals Wernher von Braun auf, ein technikbegeisterter Gymnasiast aus erzkonservativem Hause.
Bei der Premiere im Ufa-Palast hatte Scully nachgeholfen und drei Karten besorgt, sodass Sascha, der sich während der Arbeit für die Ufa mit Oberth zerstritten hatte, Hedi und Simon gemeinsam hingehen konnten. Auch Albert Einstein war unter den Ehrengästen.
Dass die echte Rakete wegen technischer Probleme nicht starten konnte, spielte gar keine Rolle. Sie alle hatten die schwarz-weiße Rakete in Langs Film gesehen, sie wussten den Prototyp in Kummersdorf – und nun begann die Vision, Wirklichkeit zu werden, als stünden sie schon mit einem Fuß im Kosmos.
Für die meisten Kinobesucher mochte «Die Frau im Mond» einfach nur ein weiterer Unterhaltungsfilm gewesen sein, einer der letzten Stummfilme zudem, der bald von anderen, neueren Produktionen abgelöst worden war. Für die Raketenenthusiasten aber blieb er ein visionäres Erlebnis, auf das sie immer wieder zurückkamen. (Seite 97f.)
Die Filmrakete wird also zum «Archäopteryx» der Raumfahrt. Der ist die Übergangsform zwischen den Dinosauriern und unseren Vögeln – er ist also der Ur-Vogel. Aus der kleinen Gruppe begeisterter Studenten, die an dieser Filmrakete bastelten, entstand die deutsche Raketenforschung, die im Zweiten Weltkrieg zur V2 führte, zur Rakete, mit der die Deutschen London beschossen. Der Geheimdienst hatte also den richtigen Riecher, als er Simon Batley der Rakete wegen nach Berlin schickte. Allerdings verliebt sich Batley da in die Athmosphärenphysikerin Hedi und will nach seiner Abberufung aus der Stadt nichts mehr mit dem MI6 zu tun haben.
Doch der MI6 lässt nicht locker: Als die Nazis an die Macht kommen und neue Waffentechniken erforschen, holt der MI6 Simon Batley zurück. Als wissenschaftlicher Berater soll er Abhörprotokolle durchforsten und dem Geheimdienst die wissenschaftlich-technische Arbeit der Deutschen entschlüsseln. Das ist keine Fiktion: Die Engländer haben tatsächlich Wissenschaftler mit solchen Aufgaben beauftragt. Simon fasst seinen Auftrag in einem Plan zusammen:
1.) Gewissheit über die Entwicklung neuer Waffen und die Weiterentwicklung existierender Waffen anderer Länder erlangen
2.) Feinde über unsere Waffen täuschen
3.) Den Feind über den Erfolg beim Einsatz seiner Waffen täuschen
4.) Spionage und Gegenspionage (inklusive Decodierung) mit technisch-physikalischem Wissen unterstützen
5.) Wissenschaftliche und technische Informationsbeschaffung zwischen den verschiedenen Diensten aller Gattungen koordinieren (Seite 48)
Im Fokus der Engländer stehen zwei Themen: die Raketentechnik und die Atombombe. Während die Atombombe eher ein Gerücht ist, wissen die Engländer sicher, dass die deutschen Raketen entwickeln. Simone Bately war ja in Berlin selber dabei und seither haben Wernher von Braun, Hedi und die anderen Wissenschaftler gewaltige Fortschritte gemacht. Aber warum? Wozu sollten die deutschen Militärs so viel Geld, Zeit und Aufwand in die Entwicklung von Raketen stecken? Denn um ein paar Hundert Kilo gewöhnlichen Sprengstoff zu transportieren, ist so eine Rakete eigentlich viel zu aufwendig und zu teuer. Es sei denn, die Rakete würde dazu verwendet, nuklearen Sprengstoff zu transportieren. Kombiniert mit der Atombombe könnte die Rakete zur perfekten Waffe werden wie aus einem Science-Fiction-Roman.
Es war unklar, ob so ein Konstrukt überhaupt jemals möglich sein würde. Niemand wusste, wie schwer und groß eine Uranbombe wäre. Es gab nur die Vermutung, keine Belege, dass jemand auf deutscher Seite an so etwas dachte –aber war es nicht ein Gesetz der wissenschaftlichen Entwicklung, dass etwas, das Simon hier in den Sinn kam, auch andernorts gedacht wurde? Und wenn das so war, quälte er sich weiter, hatte er jetzt durch seine Gedankengänge unwillkürlich einen Schöpfungsakt vollzogen? Die Sache als Idee selbst in die Welt gerufen? Eine wahnhafte Vorstellung, die ihn dennoch nicht mehr loslassen wollte, als würden seine Gedanken Wellen auslösen, die weit entfernt eine Reaktion hervorriefen, Wirklichkeit formten. Er sah Bilder des Atommodells, das wie beim Billardspiel mit Neutronen beschossen wurde, um auseinanderzustieben, wobei weitere Kugeln auf andere Atome stießen, die zerstoben, neue Kugeln freigaben und so fort, bis die ganze Welt in einem tosenden Strudel unterging. Als der Tag zu dämmern begann, fühlte er sich zerschlagen und war dennoch froh, dass er aufstehen konnte. Auf dem Weg zum Dienst sah er die Straßen voller Leute, Autos, Pferde und Fahrräder. Menschen aus hundert Nationen wuselten durcheinander. Ein einziges Chaos. Ein Chaos, das es zu beschützen galt. (Seite 72)
Steffen Kopetzky wirft an dieser Stelle eine spannende Frage auf: Warum ist die Atombombe entstanden? Die Amerikaner haben die Bombe in einem verzweifelten Wettlauf mit den Deutschen gebaut. Sie waren überzeugt, dass derjenige, der es zuerst schafft, eine funktionierende Atombombe zu konstruieren, den Krieg gewinnen wird. Und sie glaubten, die Deutschen seien schon weit voraus. Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die Deutschen zwar erstaunliche Erfolge in der Raketentechnik erzielten, aber weit entfernt davon waren, eine Atombombe zu bauen. Es ist deshalb kein Zufall, dass Simon im Roman fürchtet, dass er durch seine Gedankengänge unwillkürlich einen Schöpfungsakt vollzogen hat und durch sein Denken die Sache als Idee selbst in die Welt gerufen hat. Das stimmt: Die Bombe wurde aus Angst vor der Bombe gebaut.
In seinem Buch zeichnet Steffen Kopetzky auch nach, wie skrupellos sich die Amerikaner die deutschen Wissenschaftler samt ihrem Wissen unter den Nagel rissen. Simone Bately erhält den Auftrag, nicht mehr nur die Deutschen zu überwachen, sondern auch die Amerikaner. Die Engländer trauen ihren Verbündeten nicht mehr. Im Gespräch mit seinem Führungsoffizier öffnen sich Abgründe:
«Wir haben schon seit Anbeginn unsere Leute in den USA, auch in den Institutionen und bei der Industrie. Das ist ja eine Selbstverständlichkeit. Nun ist es für C aber von besonderer Bedeutung zu wissen, wie der Stand bei der kriegswichtigen Forschung der USA wirklich ist. Was sie so alles vorhaben.» «Der Broadway bespitzelt die Amerikaner, aber falls es auffliegt, dann weiß niemand etwas davon.» «Sie wissen doch –unsere Beziehung zu den Amis ist von Vertrauen und Verständnis geprägt. Wir vertrauen ihnen nicht. Und sie verstehen uns nicht.» «Um was geht es also?» «Derzeit um Ihren Sportsfreund. Major Sharp.» «Sie überwachen Sharp?» «So gut, wie es mir unter derart verschwiegenen Umständen möglich ist. Wenn ich ehrlich bin, hat er mich eigentlich erst so richtig auf die Idee gebracht. Wir müssen ihm beinahe dankbar sein.» (Seite 197)
Das ist ja bis heute so: Die Beziehung zu den Amis ist von Vertrauen und Verständnis geprägt. Wir vertrauen ihnen nicht. Und sie verstehen uns nicht. Schön gesagt. Aber die Engländer haben allen Grund, den Amerikanern zu misstrauen. In der grossangelegten Aktion «Operation Overcast» suchten die Amerikaner noch zu Kriegszeiten gezielt nach deutschen Wissenschaftlern, um sich ihres Wissens bemächtigen zu können. Am 2. Mai 1945 stellte sich von Braun zusammen mit anderen Wissenschaftlern aus seinem Team den US-Streitkräften im Tirol. Im Rahmen der «Operation Overcast» sammelte die US Army im grossen Stil Wissenschaftler, Dokumente und Prototypen ein und verschiffte sie in die USA. Darunter befanden sich nicht nur die Raketenwissenschaftler rund um Wernher von Braun, sondern auch ein ganzer Eisenbahnzug mit V2-Raketen in allen Baustufen. Mit Erfolg: Die deutschen Wissenschaftler bauen nach dem Krieg in den USA die Weltraumfahrt auf. Dass von Braun in Deutschland Menschen geschunden und dafür gesorgt hat, dass Zwangsarbeiter sich zu Tode schufteten, darüber wurde der Mantel des Schweigens gelegt.

Zur Ehrenrettung der deutschen Wissenschaftler sei gesagt, dass viele von ihnen freiwillig ins Exil gingen oder vertrieben wurden. Daran erinnert eine andere Stelle im Buch, als Simon Bately die Geheimdienstzentrale Bletchley Park besucht, das Zentrum für die Entschlüsselung der deutschen Funksprüche, wo der britische Mathematiker Alan Turin die erste Rechenmaschine der Welt baute. Simon also besucht diesen Bletchley Park:
Beeindruckend waren die Frauen alle, die hier saßen und abhörten – starke Frauen, unermüdlich und pflichtbewusst. Geflohen, vertrieben, aus ihrer Heimat verjagt. Beim Weitergehen dachte er an Berlin, an die Monate nach der Machtübernahme, als klar wurde, dass sich auch an den Universitäten alles ändern und die Wissenschaftslandschaft Deutschlands korrumpiert werden würde, die so einzigartig innerhalb von Jahrzehnten herangewachsen war. Als die SA die heiligen Hörsäle der Friedrich-Wilhelms-Universität stürmte, Vorlesungen unterbrach, Bücher aus den Regalen riss und schließlich einen der großen Geister und den sicherlich populärsten Vertreter der deutschen Wissenschaft, Albert Einstein, von einer Auslandsreise nicht mehr zurückkehren ließ. Und Einstein war nur der Anfang. Viele der Wissenschaftler lebten nun in Großbritannien und halfen dem Land, sich gegen Deutschland zu verteidigen. Wie irre musste eine Regierung sein, die wegen eines absurden rassistischen Irrglaubens seine besten und gebildetsten Bürger aus dem Land stieß? Es war bekannt, dass Hitler die Relativitätstheorie nur deshalb ablehnte, weil Einstein Jude war; nicht etwa, weil er sie nicht verstand, dazu waren ohnehin nur die wenigsten in der Lage. Aber es gab keine «jüdische Physik» und keine «deutsche», die Naturgesetze waren fundamental. Woher diese Widervernunft, und auch noch in Deutschland, dem Land der Aufklärung? Dieses Rätsel verfolgte Simon seit Jahren – woher rührte diese Selbstzerstörung, die den meisten Deutschen nicht auffiel, die ganz im Gegenteil davon überzeugt waren, glorreichen Zeiten, dem Höhepunkt von tausend Jahren Geschichte entgegenzugehen?
(Seite 42)
An einem Satz in diesem Abschnitt bin ich hängen geblieben: Beim Weitergehen dachte er an Berlin, an die Monate nach der Machtübernahme, als klar wurde, dass sich auch an den Universitäten alles ändern und die Wissenschaftslandschaft Deutschlands korrumpiert werden würde, die so einzigartig innerhalb von Jahrzehnten herangewachsen war. Der Satz erinnert mich an das, was gerade in den USA passiert. Woher diese Widervernunft fragt man sich auch heute.
Simon Batley ist eine erfundene Figur. Die Geschichte um ihn herum ist es nicht. Deshalb gibt Steffen Kopetzky mit seinem spannenden Buch ganz schön zu denken.
Steffen Kopetzky: Atom. Roman. Rowohlt, 416 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-7371-0152-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783737101523
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 10.04.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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