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Bleich wie der Mond
Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise nach Capri, der zauberhaften Insel vor Neapel im Tyrrhenischen Meer. Im Krimi von Luca Ventura hat hier Nino Castaldo eine kleine Dependance eröffnet. Nino Castaldo ist der unbestrittene König der Mozzarella-Macher: Mit blosser Hand zaubert er aus Büffelmilch kulinarische Preziosen. Doch damit ist es vorbei: Jetzt liegt er bleich und tot in einer Wanne in seiner Käserei. Ein Fall für die Kriminalpolizei in Neapel. Eigentlich. Aber die hat natürlich keine Ahnung vom Leben auf der Insel. Deshalb nehmen sich Enrico Rizzi und Antonia Cirillo von der Polizeiwache auf Capri der Sache an. Doch die Geschichte erweist sich als kompliziert. In meinem 162. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarisch-kulinarische Reise nach Capri lohnt.
«Neapel sehen und sterben», sagt man. Auf der Insel Capri im Golf von Neapel dreht man den Satz um und sagt «Capri sehen und leben». Die Insel ist atemberaubend schön, fast schon kitschig erheben sich ihre weissen Felsen aus dem tiefblauen Tyrrhenischen Meer. Schon früh haben Künstler die Insel entdeckt. Rainer Maria Rilke und Maxim Gorki waren hier, Monika Mann hat hier gelebt, Francis Bacon und Oskar Kokoschka haben auf Capri gemalt.
Aber natürlich ist Capri nicht nur Ferienparadies und Sehnsuchtsort. Knapp 15’000 Menschen leben auf der Insel, nicht wenige von ihnen vom Weinbau und von den berühmten Zitronen von Capri. Nach der Insel ist ein Salat benannt, der Insalata Caprese. Das Rezept ist einfach: Tomaten und Mozzarella in Scheiben schneiden und abwechselnd auf einem Teller anrichten, je mit einem Basilikumblatt belegen, mit Olivenöl beträufeln und mit Salz und Pfeffer würzen. Dass der Tomaten-Mozzarella-Salat nach der Insel Capri benannt ist, weist darauf hin, wie wichtig der Mozzarella hier ist.
Sein Geschmack ist leicht salzig und leicht säuerlich, mit einem Hauch von Frische: Der Mozzarella di bufala gilt als «regina bianca indiscussa della tavola», als unbestrittene weisse Königin auf dem Esstisch. Mozzarella di bufala ist sogar durch eine Ursprungsbezeichnung geschützt, eine Denominazione di origine protetta DOP. Für die Campania, die Region rund um Neapel, ist Mozzarella das, was der Wein für Bordeaux ist. Oder Senf für Dijon.
Wenn also in Luca Venturas Roman Nino Castaldo der unbestrittene König der Mozzarella-Macher ist, dann ist der Titel «König» keine Floskel. Mit seinen Händen verwandelt Nino Castaldo die Büffelmilch in kulinarische Kostbarkeiten. Bleich wie der Mond in einer Vollmondnacht glänzt der Mozzarella auf der Oberfläche, innen ist er porös und samtig weich. Jetzt ist es allerdings Nino Castaldo selbst, der bleich ist wie er Mond: Er liegt tot in einem Bottich in seiner Käserei in Anacapri. Der Morgen dämmert erst, als Enrico Rizzi, Agente der Polizei auf Capri, den Tod des Mozzarella-Königs feststellt – und dann wird es auch gleich wieder Nacht für den Polizisten: Er wird niedergeschlagen und bricht bewusstlos neben dem Bottich zusammen.
Mehr Gewalt kommt nicht vor im Krimi von Luca Ventura. «Bleich wie der Mond» ist der perfekte Wohlfühlkrimi für den Sommer. Spannend ist er trotzdem. Die Geschichte, die Enrico Rizzi und Antonia Cirillo, seine Kollegin von der Polizei auf Capri, rund um den toten Käser im Bottich entwirren, ist ganz schön kompliziert. Sie führt die beiden Polizeibeamten aufs Festland nach Neapel in die grosse Mozzarella-Produktionsanlage der Familie Castaldo, und nach Paestum auf den Büffelhof des Milchlieferanten. Da weiden seit Jahrhunderten Wasserbüffel zwischen den Ruinen römischer Tempel und geben jene Milch, die zu Mozzarella verarbeitet wird. Natürlich überschreiten die beiden Polizisten aus Capri damit ihre Kompetenzen massiv, denn eigentlich sollten sie nur auf der Insel nach dem Rechten sehen. Für Mordermittlungen, zumal auf dem Festland, ist die Kriminalpolizei in Neapel zuständig. Doch das kümmert die beiden Insulaner wenig. Sie sind überzeugt, dass nur Capresi die Verwirrungen um den Mozzarellakönig und seine Familie verstehen können.
Ganz nebenbei erfährt man bei der Lektüre viel über das alltägliche Leben auf der Insel, über die Produktion von Mozzarella, das Verhältnis der Insulaner zu den arroganten Städtern und wie es sich anfühlt, in einer Postkartenidylle zu leben. Man fühlt sich also schon beim Lesen wie in den Ferien.
Luca Ventura: Bleich wie der Mond. Der Capri-Krimi. Diogenes Verlag, 304 Seiten, 21 Franken; ISBN: 978-3-257-30095-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257300956
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Basel, 11. Juli 2022, Matthias Zehnder
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