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Stille Sainte-Victoire

Publiziert am 20. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise zum Montagne Sainte-Victoire. Das ist der Berg im Süden der Provence, den Paul Cézanne von seinem Atelier aus sah und deshalb siebenundachtzig Mal malte. Deshalb ist der Berg heute so berühmt. Im Krimi von Cay Rademacher sind es aber nicht Kunstinteressierte, die sich am Berg tummeln, sondern Paläontologen: Auf dem berühmten Berg graben sie Dinosaurierfossilien aus. Das ist kein krudes Hobby, sondern ein fabelhaftes Geschäft: Ein Dino-Skelett kann Millionen einbringen. Als der Zwillingsbruder des Chef-Paläontologen ermordet aufgefunden wird – es hat ihm jemand einen Dino-Zahn in die Brust gerammt – vermutet Capitaine Roger Blanc deshalb, dass es um Geld und Gier geht. Oder geht es doch um den langweiligen Zwillingsbruder, der als Bauingenieur den Staudamm von Bimont untersucht? In meinem 163. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise zum Mont Sainte-Victoire lohnt.

Der Mont Sainte Victoire ist ein karges Kalksandsteingebirge östlich von Aix-en-Provence. Von hier stammt der Kunstmaler Paul Cézanne. Mit seinen Gemälden hat er den Berg unsterblich gemacht: Siebenundachtzig Mal hat er ihn gemalt. Entsprechend beliebt ist der karge Fels bei Touristen.

Seit gut 20 Jahren ist der Berg auch für seine Dinosaurier bekannt: Das Gebiet zwischen Sainte-Victoire, Velaux und dem Fluss Arc gilt als Eldorado der Paläontologie.  Im Jahr 2012 haben Paläontologen hier eine bisher unbekannte Saurierart ausgegraben. Ein Pflanzenfresser, der vor rund 75 Millionen Jahren lebte und zwölf Meter lang wurde. Mehr als zehn Jahre lang arbeiteten die Forscher im Geheimen an der Ausgrabung der Knochen. Seitdem ist der Berg von Cézanne auch ein bisschen Jurrassic Park.

Diese Themenwelt greift Cay Rademacher in «Stille Sainte-Victoire» auf. Ausgangspunkt der Geschichte ist der Mord an einem Bauingenieur: Jemand hat dem Mann mit voller Wucht einen spitzen Stein in die Brust gerammt. Und zwar nicht irgendeinen Stein, sondern den versteinerten  Fangzahn eines Sauriers.

Bei dem Toten handelt es sich um Roland Dallest, einen gewissenhaften Bauingenieur aus Lyon, der im Auftrag der Société du Canal de Provence den Staudamm von Biment untersucht. Der Damm ist bereits achtzig Jahre alt: Der Stausee versorgt einen Drittel der Bevölkerung von Aix und Marseille mit Trinkwasser und fast achttausend Hektar landwirtschaftliche Fläche mit Wasser für die Bewässerung. Würde der Damm brechen, könnte eine Flutwelle entstehen, die anfangs mehr als zwanzig Meter hoch wäre und sich von der Südflanke der Sainte-Victoire über zwei Autobahnen hinweg bis in den Étang de Berre wälzen würde. Deshalb untersucht der Ingenieur den Damm.

Allerdings stellt sich die Frage, ob Roland Dallest wirklich das Ziel des Mordanschlags war. Denn er hat einen Zwillingsbruder, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, auch wenn dieser Bruder ein ganz anderer Typ ist. Christian Dallest ist nämlich ein berühmter Paläontologe, der häufig im Fernsehen auftritt und die gefundenen Saurier für Millionen vermarktet. Gegen die sengende Sonne auf dem Mont Sainte-Victoire trägt er einen Hut à la Indiana Jones.

Als der Ingenieur Roland Dallest ermordet wurde, trug er präzise einen solchen Hut: Kurz zuvor hatte er seinen Bruder auf der Ausgrabungsstätte besucht und der hat ihm einen seiner Hüte ausgeliehen. Hat der Mörder also die beiden Brüder miteinander verwechselt? Wollte er den versteinerten Saurierzahn eigentlich dem berühmten Paläontologen in die Brust rammen?

Roger Blanc, Capitaine der Gendarmerie in Gadet, ermittelt in alle Richtungen. Zusammen mit seinem Team untersucht er die Ausgrabungen auf der Sainte-Victoire. Sehr zum Vorteil von uns Lesern: So erfahren wir alles über die versteinerten Dinosaurier auf dem Berg von Cézanne. Und über den Staudamm.

Bereits zum zehnten Mal schickt Cay Rademacher Roger Blanc auf die Piste. Wer die früheren Bände kennt, begegnet also vertrautem Personal. Zum Beispiel Lieutenant Marius Tonon, der seit kurzem keinen Alkohol mehr trinkt, Sous-Lieutenant und Computerspezialistin Fabienne Souillard, die lieber mit ihrer Ducati auf Verbrecherjagd ginge, statt in den Streifenwagen zu sitzen, und natürlich Roger Blancs Nachbarin Paulette, die längst mehr ist als nur eine Nachbarin.

Auch wer noch nie einen Band der Reihe rund um Roger Blanc gelesen hat, wird sich in der Geschichte gut zurechtfinden: Wie immer bei Cay Rademacher erfährt man viel über das Leben in der Provence, über Land und Leute, ihre Probleme, die Politik und den Alltag. Und über Dinosaurier.  Das Buch zu lesen kann eine Reise in die Provence natürlich nicht ersetzen, aber nach der Lektüre fühlt es sich doch ein wenig an, als wäre man im Urlaub gewesen.

Cay Rademacher: Stille Sainte-Victoire. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Dumont Buchverlag, 384 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-8321-8187-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832181871

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 20. Juli 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

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