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Die Tote im Luganer See

Publiziert am 4. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Meine Sommerserie beginnt im Tessin, der Sehnsuchtsregion der Schweiz. Genauer gesagt: Im kleinen Bergdorf Montagnola, das in aller Welt bekannt ist als Wohnort von Hermann Hesse. In der zweiten Folge der Tessin-Krimis rund um Übersetzerin Moira Rusconi geht es aber nicht um Literatur, sondern um Musik: Die Sängerin Livia, in den 60er-Jahren ein Star, wird tot im Luganersee aufgefunden. War es ein Unfall? Selbstmord einer Diva, die mit dem Alter nicht zurechtkam? Oder gar Mord? In meinem 161. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise ins Tessin lohnt.

Moira Rusconi, Übersetzerin aus Frankfurt, ist wieder zu Besuch bei ihrem Vater Ambrogio im Tessin. Zusammen mit ihrer Tochter geniesst sie die Ferien im verwinkelten Haus ihres Vaters in Montagnola. Das schöne Wetter lockt sie nach Lugano, an den Lido. Doch lange kann siesich nicht am Schwimmen im See freuen: Ruderer finden eine Leiche im Wasser. Es handelt sich um eine zierliche, alte Frau. Moira alarmiert die Polizei und hilft spontan ihrer Freundin, Chiara, die als Inspektorin bei der Tessiner Kriminalpolizei  arbeitet: We im ersten Band übersetzt Moira die Aussagen von Zeugen, macht sich ihre Gedanken dabei – und mischt sich, zum Ärger der männlichen Polizisten, in die Ermittlungen ein.

Die Rolle der beigezogenen Übersetzerin eignet sich hervorragend dafür, die Geschichte zu erzählen: Sie nimmt stellvertretend für den Leser die Aussenperspektive ein, hat aber überall Zutritt und versteht  Einheimische und Touristen gleichermassen. Und das nicht nur bei den polizeilichen Ermittlungen, die nach und nach das Leben der toten Sängerin aufrollen, sondern auch im Dorf Montagnola, wo Papa Ambrogio hilft, die Osteria «Il Mulino» auf Vordermann zu bringen, sich mit seiner Ex-Frau versöhnt, was ihm prompt Krach mit seiner Freundin einträgt, was wiederum Moira nicht gefällt, weil es sich dabei um die leitende Staatsanwältin handelt. Ja, das Tessin ist klein.

Klein und bis heute ein Sehnsuchtsort, auch und gerade für Deutsche. Mascha Vassena versteht es, die Balance zwischen Sehnsucht und Realität zu halten. Die Lektüre ihres Buchs vermittelt gut, warum die italienischsprachige Schweiz von Touristen so geliebt wird. Moira und ihre Tochter baden im Luganersee, sie klettern im Maggiatal, sie fahren zum Sushi-Essen auf die andere Seite der Grenze ins italienische Ponte Tresa und sie kochen zu Hause bei Papa Ambrodgio Spaghetti Carbonara. Mascha Vassena belässt es aber nicht dabei, sie erzählt auch von den Problemen, mit denen das Tessin zu kämpfen hat. Als Moira zusammen mit ihrer Freundin, Ispettore Chiara Moretti, am Abend auf der Autobahn den Stau Richtung Italien sieht, führt sie zum Beispiel mit wenigen Zeilen ein ins Problem der italienischen Grenzgänger:

«Auf der Autobahn herrschte der übliche Stau in Richtung Italien. ‹Der reinste Exodus›, bemerkte Chiara. ‹Jeden Morgen und jeden Abend fahren 75000 frontalieri über die Grenze, und es werden immer mehr. Der pure Wahnsinn.›
‹Wenn ich in Italien zu Hause wäre, würde ich auch in der Schweiz arbeiten wollen›, antwortete Moira. ‹Und das Tessin braucht die Arbeitskräfte, sonst gäbe es nicht so viele Pendler.›
‹Im Gegensatz zu vielen Tessinern habe ich nichts gegen die frontalieri›, sagte Chiara. ‹Mir gehen nur die Staus und die schlechte Luftqualität auf die Nerven.›» (S. 277)

Wer will, erfährt im Krimi also auch einiges über die Probleme des Kantons Tessin. Die Informationen sind aber eingebettet in einen äusserst ferientauglichen Roman mit allen Zutaten, die ein Buch für den Strand haben muss: die Liebesgeschichte, von der man nicht weiss, ob sie gut ausgeht, die Katzen und das kleine Schweinchen, die Freundschaft schliessen, Tochter Luna, die langsam selbstständig wird, Grossmutter Nelly, die zusammen mit Luna einen Instagram-Account pflegt und die Freundin von Ex-Mann Ambrodgio vergrault. Kurz: beste Unterhaltung aus dem Tessin. Ganz am Rande bloss eine Bitte an den Verlag: Berndeutsch mag für deutschen Ohren exotisch klingen – aber es gibt Regeln dafür, wie der Dialekt verschriftlicht wird. Also: bitte entweder richtig Schweizerdeutsch schreiben, oder gar nicht. Davon abgesehen schmeckt der Roman wie eine gute Polenta: wärmt den Bauch und das Herz – und macht zufrieden.

Mascha Vassena: Die Tote im Luganer See. Moira Rusconi ermittelt. Ein Tessin-Krimi. Eichborn, 352 Seiten, 25.90 Franken; ISBN: 978-3-8479-0134-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783847901341

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 4. Juli 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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