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Letzter Tipp: Atom
Die Nacht
Wir leben ja nicht gerade in hellen und freundlichen Zeiten – warum soll ich da einen Thriller lesen und erst noch einen, der «Die Nacht» heisst? Die Serie von Marc Raabe dreht sich um Art Mayer und Nele Tschaikowski, Ermittler beim Bundeskriminalamt in Berlin. Im letzten Roman war Nele im siebten Monat schwanger. Wie es ihr wohl im neuen Buch geht? Ich kann ja mal reinschauen. Kleine Warnung, die nicht auf der Packungsbeilage steht: Tun Sie das nicht. Marc Raabe versteht es, Sie mit knappen Worten in die Falle zu locken und eh Sie sich versehen, ist eine Stunde verflogen, Sie haben Hundert Seiten gelesen und Sie kommen zu sich, weil Ihnen der Hintern weh tut. Schuld ist die Stuhlkante, auf die Sie sich nur schnell setzen wollten. So etwa ging es jedenfalls mir. Art Mayer und Nele Tschaikowski ermitteln auch in «Die Nacht» in Sachen Mord. Allerdings nicht offiziell. Nele ist im Mutterschutz. Ihr Sohn Lasse ist inzwischen sieben Monate alt. Sie überlässt ihn recht unprätentiös Partner Roman und macht sich mit Art Mayer auf die Suche nach Dana, einer jungen Frau, die mit ihrer Mutter und ihrer Tochter im Stockwerk unter Art wohnt. Oder besser: wohnte. Denn Dana ist verschwunden. Danas achtjährige Tochter Milla sucht öfter mal Zuflucht bei Art Mayer, wenn sie nicht mehr klar kommt, weil die Grossmutter dement ist. Art hat die kleine, altkluge Milla ins Herz geschlossen. Ihretwegen sucht er nach Dana. Als die Spuren, die er verfolgt, sich mit einer Mordermittlung des BKA überkreuzen, lässt er sich nicht davon abhalten, dass sein Vorgesetzter ihn von diesen Ermittlungen ausschliesst. In meinem 251. Buchtipp sage ich Ihnen, was der neue Thriller von Art Raabe zu einem echten Stuhlkantenbuch macht, das man nicht mehr weglegen kann.
In der klassischen Kriminalliteratur gibt es, ganz grob gesagt, drei Archetypen von Ermittlern. Da ist zunächst einmal der rechtschaffene Kommissar. Er ermittelt gesetzestreu und methodisch innerhalb des Systems. Er glaubt an Recht und Ordnung und ist loyal gegenüber dem Staat, der Polizei und den Institutionen. Er arbeitet nach Vorschrift, aber mit Herz. Er hat viel Pflichtgefühl und einen eigenen moralischen Kompass. Zu dieser Kategorie gehören zum Beispiel Kommissar Maigret von Georges Simenon oder Peter Hunkeler von Hansjörg Schneider.

Das Gegenstück zum gutmütigen Kommissar Maigret ist der Hardboiled-Detektiv. Meist ein gebrochener Einzelgänger, ein zynischer, oft desillusionierter Ermittler mit harter Schale. Er hat oft Alkoholprobleme, er hat zerbrochene Beziehungen hinter sich und leidet an der Welt. Er glaubt eher ans Faustrecht als an die Paragraphen, hat zwar auch einen moralischen Kompass, der tickt aber ganz anders als Gesetz und Ordnung es vorschreiben. Der Prototyp dieses Ermittlers ist natürlich Philip Marlowe von Raymond Chandler. In diese Kategorie gehören auch Sam Spade von Dashiell Hammett und Harry Hole von Jo Nesbø. Eine ironische Brechung hat Lawrence Block mit der Figur von Matthew Scudder erfunden: Er ist zwar auch Alkoholiker, aber Mitglied der Anonymen Alkoholiker.
Und dann gibt es noch die Outlaws unter den Ermittlern. Philip Marlow oder Matthew Scudder sind ja immerhin Detektive mit Lizenz. Lisbeth Salander von Stieg Larsson dagegen arbeitet ganz ausserhalb des Systems. Sie ist Hackerin und Missbrauchsopfer. Ihr Antrieb ist Selbstjustiz und Rache. Sie ist misstrauisch gegenüber allen Autoritäten und stellt radikal die Frage nach moralischer Gerechtigkeit. Die Geschichten faszinieren durch ihre Ambivalenz. Neben Lisbeth Salander gehören wohl der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher von Lee Child und Dexter Morgan von Jeff Lindsay zu dieser Gruppe.
Stellen Sie sich die drei Ermittlertypen als drei Kreise vor, die sich überlappen. Im Zentrum findet sich eine Schnittfläche, die Elemente aller Typen enthält. Da würde ich Art Mayer ansiedeln, den BKA-Ermittler von Marc Raabe. Er ist zwar Kommissar und rechtschaffen noch dazu, aber rebellisch und eigensinnig. Wie ein Hardboiled-Detektiv handelt er gerne allein, nach seinen eigenen Prinzipien – nicht unbedingt nach den Regeln der Polizei. Er leidet unter einem Trauma aus seiner Jugend, das ihn antreibt und gleichzeitig an der Realität zweifeln lässt. Er kann hart und unberechenbar sein, wenn Worte nicht mehr ausreichen, schlägt er auch einmal zu. Er ist robust, leidet aber unter einem starken Diabetes. Im dümmsten Moment schlägt sein Handy lautstark Alarm, dass sein Zuckerspiegel sich im roten Bereich befindet. Dann muss er notfallmässig Traubenzucker kauen oder sich eine Insulinspritze setzen. Das zeigt, dass er nicht nur psychisch, sondern auch körperlich verletzlich ist. Er ist in der Lage, zu lieben, dumm nur, dass seine grosse Liebe mit dem Bundeskanzler verheiratet ist. Das vergrössert sein Misstrauen gegenüberPolitik, Justiz und Medien. Das also ist Art Mayer. Nach «Der Morgen» und «Die Dämmerung» ermittelt Art Mayer bereits zum dritten Mal in Sachen Mord – und mehr.
Sein Sidekick ist Nele Tschaikowski. Sie ist so etwas wie sein Anker in die Institution, die vernünftige Hälfte des Ermittlerduos. Allerdings ist Nele grad im Mutterschutz: Sohn Lasse ist sieben Monate alt. Ihr Partner Roman will sie dazu bringen, den Polizeiberuf an den Nagel zu hängen und ganz nach Hause an den Herd und das Kinderbett zurückzukehren. Das macht Nele wütend und emotional: Sie liefert zu Beginn des Romans Sohn Lasse bei Roman ab und stürzt sich mit Art in die Ermittlungen. Auch sie entwickelt also Outlaw-Tendenzen, sie bleibt aber die Vernünftige im Bund – oder ist sie nur naiv?
Die beiden ermitteln also ausserhalb der Polizeistrukturen. Und das, wie sich noch erweisen wird, aus gutem Grund. Mehr sei hier nicht verraten. Der folgende Ausschnitt gibt dabei einen guten Einblick in die Art und Weise, wie Art und Nele funktionieren – und wie Marc Raabe schreibt. Die Szene spielt sich in Arts Wohnung ab. Art und Nele besprechen den Fall und tragen zusammen, was sie wissen:
Nele lehnte sich im Stuhl zurück. Ihr Blick ging durch den Bildschirm des Laptops hindurch ins Leere. «Die Teamsitzungen fehlen mir», sagte sie. «Ich verliere langsam die Übersicht.» Art nickte und stand auf. Er war immer noch etwas energielos und warf einen Blick auf seine Diabetes-App. 89, steigend. Der Wert war in Ordnung. Manchmal dauerte es einfach etwas länger, bis man aus dem Gefühl der Schwäche wieder herausfand. Er zog eine Schublade in der Küchenzeile auf, holte einen Block Post-its und mehrere Filzstifte heraus, dann ging er zur gegenüberliegenden Wand. In die Mitte klebte er einen Zettel und schrieb dana darauf. Darunter einen weiteren Zettel, auf den er wohnwagen schrieb, dann zog er mit einem roten Filzstift eine Verbindungslinie. Rechts daneben klebte er einen Zettel, auf den er motorradfahrer schrieb, mit einem roten Fragezeichen dahinter und ohne Verbindungslinie. Links von dana platzierte er richter dressel, zog von dort eine Linie zwischen wohnwagen und dressel und eine Linie zwischen dressel und dana. Mitten auf diese Verbindungslinie klebte er einen weiteren Zettel foto 5 jugendliche, darunter schrieb er kleiner: dressel, sammy, dana und zwei Fragezeichen. «Das Thema sexuelle Vorlieben von Dressel fehlt noch», meinte Nele. Art nickte und schrieb es klein unter dressel. «Christine Karasch», ergänzte Nele. «Und die Hinweise, die sie uns gestern gegeben hat.» Art klebte danas mutter schräg oberhalb von dana, zog eine rote Linie zu ihrer Tochter, dann schrieb er unter danas mutter den Begriff schachtel und die Namen karasch und bauer. Auf die Linie zwischen dana und ihrer Mutter klebte er einen Zettel, auf den er kleiner junge schrieb. Er trat zurück, betrachtete das Gesamtbild. «Zwei Dinge fehlen noch.» Er klebte einen weiteren Zettel ohne Verbindungslinie etwas abseits: 3 tote / skelettiert, darunter schrieb er: junge Frau, junger Mann, Mann ca. 50. Einen letzten Zettel mit cäsar, rechte drohungen klebte er oberhalb von richter dressel mit einer einzelnen roten Verbindungslinie zu ihm. Nele starrte auf das Gebilde mit den Linien. «Malst du immer einfach so auf deine Wände?» «Wenn’s nötig ist», sagte Art. «Einmal streichen, und alles ist weg.» (Seite 202)
Die Szene fasst gut zusammen, um was es im Buch geht: Art und Nele finden bei ihrer Suche nach Dana einen toten Mann in einem Campingwagen – und Fotos, die auf eine Verbindung zu Dana hinweisen. Weil es sich beim Toten um einen Richter handelt, kommt der ganz grosse Polizeiapparat in Bewegung – und Art wird von den Ermittlungen ausgeschlossen. Das macht ihn nicht nur wütend, sondern auch misstrauisch – zu recht, wie sich weisen wird. Wie in den beiden ersten Romanen rund um Art Mayer und Nele Tschaikowski dreht sich die Story um psychisch verletzte Menschen mit Traumata, die tief in der Vergangenheit liegen, in der Gegenwart aber zu Verheerungen führen – und um Verknüpfungen mit Politik und Verwaltung.

Die Szene zeigt auch schön, wie Marc Raabe schreibt. Marc Raabe sagt nicht, dass Art körperlich am Limit ist. Er zeigt es, indem er Art auf seine Diabetes-App blicken lässt. Raabe sagt nicht, dass Art über Grenzen geht und extrem zielgerichtet durchzieht, was er im Kopf hat. Raabe zeigt es, indem er Art die Verbindungslinien zwischen den Zetteln direkt auf die Wand in seiner Wohnung malen lässt. Das kann man ja irgendwann überstreichen, Hauptsache, jetzt nützt es den beiden. Das macht das Buch von Raabe lesenswert: Er sagt nicht, er zeigt. Sein Roman liest sich manchmal wie das Skript eines Films – eines Films, der, wenigstens bisher, nur im Kopf von uns Lesenden zu sehen ist. In meinem Kopf ist beim Lesen dabei ganz schön was abgegangen.
Marc Raabe: Die Nacht. Thriller. Ullstein, 464 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-86493-261-8
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783864932618
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 15.04.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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