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10 Uhr 50, Grunewald

Publiziert am 22. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Walther Rathenau war Industrieller, Schriftsteller und Politiker. Und er war Jude. Am 24. Juni 1922, also vor genau hundert Jahren, haben junge Rechtsextreme Rathenau auf offener Strasse erschossen. In seinem Roman «10 Uhr 50, Grunewald», der den Todeszeitpunkt von Rathenau im Titel trägt, schildert Stephan Abarbanell auf packende und einfühlsame Weise das Leben von Walther Rathenau. Die letzte Autofahrt von seiner Villa in Grunewald ins Auswärtige Amt in der Wilhelmstrasse bildet dabei die Rahmenhandlung. Rathenau erinnert sich während der Fahrt an sein Leben. Dabei kommt seine Zerrissenheit zwischen Kunst, Wirtschaft und Politik und seine Suche nach einer Identität als Jude in Deutschland packend zum Ausdruck. In meinem 109. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich das Buch nicht nur Menschen warm und dringend ans Herz lege, die sich für Geschichte und Politik interessieren. 

Nach dem Ersten Weltkrieg, von 1918 bis 1933, bestand in Deutschland zum ersten Mal eine parlamentarische Demokratie: die Weimarer Republik. In ihren Anfangsjahren bis 1923 war die junge Republik von zahlreichen Krisen geschüttelt: Der verlorene Krieg lastete dumpf auf dem Land, es kam zu einer Hyperinflation und zu zahlreichen Umsturzversuchen. Einer dieser Umsturzversuche gipfelte in der Ermordung von Aussenminister Walther Rathenau durch rechtsnationale Kreise. Wir erinnern uns heute an Walther Rathenau vor allem als den ermordeten, jüdischen Minister.

Stephan Abarbanell erschliesst uns in seinem wunderbaren historischen Roman den Menschen Walther Rathenau. Der stammte aus einer Industriellenfamile. Walther Rathenau war der älteste Sohn der Familie. Er wuchs in grossindustriellem Milieu auf und gehörte zur Elite Deutschlands. Trotzdem war es als Jude ein Bürger zweiter Klasse und wurde zum Beispiel nicht zur Offiziersprüfung zugelassen.

Sein Vater Emil hatte 1882 die Rechte zur wirtschaftlichen Nutzung der Patente von Thomas Alpha Edison in Deutschland. Er gründete eine Firma: die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, kurz: AEG. Diese Firma entwickelte sich zum führenden Elektrokonzern in Deutschland. 

Der Vater hatte an das elektrische Licht geglaubt. «Nein, Vater glaubte nicht, er wusste, oder er wusste nicht. Sein Denken war wie an einen Schalter gebunden, Licht oder Dunkelheit. Ein–Aus. Ja–Nein.
Alle Schattenwelten dazwischen, die ihn, den älteren der beiden Söhne, nie losgelassen hatten, Glaube, Zweifel, Prophetie oder Höhen erklimmende Philosophie, waren diesem verschlossen geblieben. Vielleicht auch die Angst, anders, nur geduldet zu sein. Oder hatte diese Angst, da sie dennoch in ihm auf und ab schritt, in ein ihn rettendes Erfolgsstreben verwandelt, dem sich alles, Gefühle, Gedanken, Träume unterzuordnen hatte? Auch die seiner Kinder.» (S. 137)

Darin zeichnet sich schon das Drama von Walther Rathenau ab. Er wollte Künstler sein, Schriftsteller, Publizist, aber er konnte dem Familienbetrieb nicht entkommen. Als Walther eine Sammlung von Aufsätzen, die in verschiedenen Zeitungen erschienen sind, in Buchform publiziert, kommt es zum Konflikt mit seinem Vater: Er, Walther, müsse wählen zwischen seiner Schriftstellerei und der Firma. Und zwar weil er Jude sei.

«Wie viel Zeit musste vergehen, dass wir zu dem wurden, was wir heute sind. Auch ich kenne die Angst, ich habe nie darüber gesprochen. Du weist, das Sprechen über diese Dinge fällt mir schwer.» Er schien nach Worten zu suchen. «Unsere Rolle ist es, etwas zu leisten und den Mund zu halten. So viel zu leisten, dass uns keiner mehr fragt, wer wir sind. Mein ganzes Leben habe ich dafür gearbeitet.» Er machte eine Pause. Dann richtete er sich wieder auf und sprach weiter: «Du bist noch immer ein Teil der Firma, auch in deiner neuen Position. Und es ist meine Aufgabe, die Firma, die Familie und dich zu schützen.»
«Was hast Du vor?»
«Ich habe unseren Einkauf angewiesen, die ganze Auflage deines Buches zu erwerben.»
«Erwerben?»
«Du hast mich sehr wohl verstanden, die Bücher aufzukaufen, komplett.» (S.119)

Für den Sohn ist das Buch sein Leben, es hätte ihn stolz machen sollen, seinen Ruf als Schriftsteller und zeitkritischen Denker festigen. Der Vater sieht darin einen Schandfleck für die Familie und kauft es auf. 

Später im Leben spitzen sich die Konflikte noch zu. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs sah Rathenau rasch, dass die deutsche Wirtschaft diesen Krieg nicht überleben wird, dass sie das Land nicht mit den kriegsnotwendigen Gütern versorgen kann. Er schrieb an den Kriegsminister und empfahl die rasche Errichtung eines Ams zur zentralen Bewirtschaftung kriegswichtiger Rohstoffe. Der nahm die Idee auf und übertrug die Aufgabe – Walther Rathenau. Allerdings wurde rasch klar, dass er, der Jude, im Kaiserreich kaum weitere Aufstiegsmöglichkeiten hatte. Rathenau zog sich deshalb nach acht Monaten wieder zurück in die Firma AEG. Erst 1921 wurde er seiner Erfahrungen wegen zum Wiederaufbauminister und 1922 zum Aussenminister berufen.

Er war 55 Jahre alt und immer noch Junggeselle. Er pflegte zwar über Jahre hinweg eine enge Beziehung zu Lili Deutsch, die pikanterweise mit jenem Mann verheiratet war, dem Vater Rathenau testamentarisch die Leitung der Firma überantwortet hatte. Stephan Abarbanell suggeriert im Buch, dass sich Rathenau wohl eher zu Männern hingezogen fühlte, eine Neigung, die auszuleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur gesellschaftlich unmöglich, sondern auch strafrechtlich verboten war. So oder so hatte Walther Rathenau zeitlebens damit zu kämpfen, dass er nicht einer war war wie sein Vater, sondern viele. 

«Während das Auto dahinglitt, spürte er, dass er mit der Aufzählung all seiner inneren Widersprüche kaum jemanden von der Integrität seines Ichs würde überzeugen können. Gab es doch in seinem Inneren zwei oder gar noch mehr Bezirke des Ichs. Oder musste er sich das Ich gar als etwas Fluides, Wandelbares, nicht auf immer Festgelegtes vorstellen? Auch das Geschlecht ist nur ein Angebot, Walther, hatte Amos Roth einmal zu ihm gesagt. Nicht mehr. Und was war mit dem Krieg? Konnte er diese Frage abwählen? Wie gern hätte er es getan.» (S. 153)

Auch Politik sieht Rathenau als Kunst. Er sieht diese Kunst des Politischen als sein Weg. Er glaubt an die Poesie des Machbaren, an die Symmetrie der Interessen zwischen Staaten, so heterogen sie auch sein mochten, und an die Lösung von Konflikten durch Wahrnehmungsbereitschaft und Diskurs. Doch die Siegermächte England, Frankreich und die USA beharren auf ihren Positionen. Also schleisst er in Rapallo bei Genua ein Abkommen mit Lenins Russland, das Deutschland wieder auf die internationale Bühne befördert. Danach sieht er sich in Berlin erbitterten Anfeindungen ausgesetzt.  Er realisiert, dass Politik keine Kunst ist, sondern bloss den Schmierstoff bildet zwischen den Machtblöcken und ihren fest zementierten Interessen. 

Wenig später erschiessen junge Rechtsnationale Rathenau in seinem Wagen. Die Polizei hatte ihn gewarnt, dennoch liess sich Rathenau im Cabriolet zur Arbeit fahren und er verzichtete auf Polizeischutz. Die jungen Rechten, die ihn ermordeten, sahen in ihm einen Vertreter des internationalen Judentums und warfen ihm vor, dass er mit den Siegermächten zusammenarbeite und Deutschland ihnen ausliefere. Sie merkten nicht, dass Rathenau Deutschland mit seiner Politik im Gegenteil aus er Umklammerung der Siegermächte befreit hatte.

Bei aller Politik ist Stephan Abarbanells Roman über Walther Rathenau kein politisches Buch, sondern eine feinsinnige, biographische Skizze über einen Mann, der nach seiner Rolle, seiner Identität und seiner Aufgabe sucht. Rathenau standen zu Beginn seines Lebens alle Türen offen in der Industrie, der Kunst und der Politik, im Judentum und in Deutschland. Zum Ende seines Lebens fühlte er sich zwischen diesen Welten zermalmt, weil er sich nicht entscheiden konnte, welcher Welt er zugehörig war. 

Stephan Abarbanell: 10 Uhr 50, Grunewald. Blessing Verlag, 256 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-89667-729-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783896677297

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Basel, 22. Juni 2022, Matthias Zehnder

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