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Liebe ist gewaltig

Publiziert am 28. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Spannung, Entsetzen und Komik sind eine unmögliche Mischung. In ihrem Roman «Liebe ist gewaltig» schafft es Claudia Schumacher, alle drei Register gleichzeitig zu ziehen. Hauptfigur der Geschichte ist Juli. Sie wächst in einer Familie auf, die unter einem gewalttätigen Vater leidet. Dabei ist der nicht etwa unterbelichtet oder unterprivilegiert. Im Gegenteil: Er ist ein bekannter Anwalt. Auch die Mutter arbeitet als Anwältin. Juli und ihre Geschwister wachsen also gut behütet in einem privilegierten Haus auf. Bloss schlägt ihr Vater sie immer wieder und zwar bis aufs Blut. Eine schreckliche Geschichte. In meinem 110. Buchtipp sage ich Ihnen, warum das Buch trotzdem spannend zu lesen und immer wieder geradezu komisch ist.

Eigentlich hat des die Familie Ehre gut. Beide Eltern sind Anwälte, die Ehres haben ein grosses, schönes Haus und spielen eine Rolle im öffentlichen Leben von Ederfingen in der schwäbischen Provinz. Oder wie Juli es sarkastisch sagt: «Nach aussen waren wir natürlich die totale Musterfamilie.» Doch die Familie, Juli, ihre beiden Brüder Max und Bruno und die Schwester Alex, sie haben ein düsteres Geheimnis: Nur wer dominiert, kann halbwegs vor dem Vater bestehen. Wer Schwäche zeigt, dem droht Gewalt. Denn Papa Ehre schlägt Frau und Kinder oft und heftig. Nie ins Gesicht, das würde man sehen. Immer so, dass ein Rolli die blauen Flecken verdecken kann. Seine Frau hat deshalb Rollis in allen Farben und für jedes Wetter.

Als sie klein ist, ist Juli Papas Liebling. Manchmal führt er sie Besuchern vor wie in einem Zirkus. «Als ich vierzehn war, artete alles in roher Gewalt aus. Papa hat mich durchs Haus gejagt und gedroht, mich umzubringen. Einen Grund gab es nicht, glaube ich. Wobei, doch: Manchmal habe ich gelacht.» (S. 23) Denn im Hause Ehre geht es um Macht.

Claudia Schumacher erzählt die Geschichte im frechen Ton einer Siebzehnjährigen. Das macht das Grauen erträglich, manchmal kann man nicht anders, als über groteske Szenen zu lachen. Oft bleibt einem das Lachen aber auch im Hals stecken. Wir begleiten Juli Ehre durch drei Phasen ihres Lebens: Zu Beginn ist sie 17 und wurde nach einem missglückten Selbstmordversuch gerade von den Eltern in eine Reha-Anstalt gesteckt. Im zweiten Teil ist sie 24, studiert in Berlin Mathematik und verdient sich ihren Lebensunterhalt als professionelle Gamerin. Im dritten Teil ist sie 26, zieht mit einem Partner in die Schweiz und droht, sich in der Normalität des Zürcher Alltags endgültig zu verlieren.

Der Ton des Buchs ist, vor allem zu Beginn, lakonisch, trocken, frech: «Mama und Papa haben mich vor ein paar Wochen aus der Schule genommen. Das Mädchen hat den Geist aufgegeben, aber zum Psychologen hat mich niemand geschickt. Die wissen schon, warum. Mama sagt, wir dürfen keinem was erzählen, sonst verlieren sie ihre Zulassung als Anwälte, und dann wird nichts besser, im Gegenteil. Ich bin manchmal so wütend auf Papa, dass ich ihn mir tot vorstelle. Verreckt im Strassengraben oder so, erwischt von einem zugedröhnten Raser bei Nacht. Oder ich denke: Verprügle mich noch einmal richtig und ich gehe mit den blauen Flecken zum Jugendamt. Dann heule ich und denke: Papa, ich liebe dich! Was stimmt, ich bin sein Kind. Vielleicht hab‘ ich sogar mehr von ihm als von Mama. Das ganze Wollen, Leiden, Brennen. Mama wollte nie was ausser Harmonie und Hübschsein. Dabei vergisst sie nichts, was sie mal gelesen hat, nicht mal den Namen des jüngsten Senators von Swasiland. Zu mir wurde Papa auch erst fies, als ich ihn im Kopfrechnen geschlagen habe. Was ja unlogisch ist: Zuerst bläut er dir ein, dass man im Hause Ehre Grosses erreichen muss, aber wenn er merkt, dass du ihn übertrumpfst, setzt’s was.» (S. 14)

Denn im Hause Ehre geht es um Macht. Für Juli ist das kaum auszuhalten – und für den Leser übrigens auch nicht. Juli flüchtet sich in Games und in die Mathematik. Sie sagt, da gebe es «kein gefühliges Gelaber wie daheim, wo jeder irgendeinen Kack behauptet und auf sein Recht pocht. In der Zahlenwelt herrscht Klarheit, und Recht hat nur einer: der mit der Lösung.» (S. 117) Und das ist in der Regel sie, Juli.

Beim Lesen fragt man sich immer wieder: Warum lassen sich Juli, ihre Geschwister und Mama Ehre die Gewalt des Vaters gefallen? Warum laufen sie ihm nicht davon oder wehren sich? Die Antwort gibt Juli gleich selbst:

«Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus dem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die lässt dich nicht los. Jeder hat gegen jeden was in der Hand. Verstrickungen, Erstickungen: es ist wie Mafia. Eigentlich wollte ich heute Morgen meinen Kopf gegen die Wand schlagen, stattdessen habe ich brav meinen Koffer gepackt.» (S. 204)

In ihrer Familie geht es nicht um Liebe, es geht um Macht. Hat der Sohn Erfolg, sucht Papa den Schulterschluss mit der Tochter. Alle messen sich mit allen, die einen verbünden sich gegen die anderen. Vor allem der Vater definiert sich über Macht. Der Mann ist ein sadistischer Narzisst, der von den anderen Familienmitgliedern Leistung einfordert wie ein Drill Sergeant, auch von seiner Ehefrau. Aber kaum erbringt jemand die Leistung, die er fordert, wird der Papa wütend und schlägt zu. Es ist ein toxisches Umfeld, aus dem sich Juli nur unter riesigen Anstrengungen befreien kann. Fast schafft sie es nicht – das macht das Buch spannend. Man liest es wie ein Thriller und kann es nicht mehr aus der Hand legen. Das ist eindrücklich und geht unter die Haut. Ein grossartiges Buch.

Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig. Roman. DTV, 376 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-423-29015-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423290159

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Basel, 28. Juni 2022, Matthias Zehnder

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