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Tick Tack

Publiziert am 14. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Vielleicht kennen Sie das: Alle reden von Tiktok und Instagram, Sie reden mit, haben aber eigentlich keine Ahnung. Kunststück: Sind ja auch neue Phänomene und man ist nicht mehr 15 und hat nicht mehr tagelang Zeit, damit herumzudödeln. Wenn Sie wissen möchten, was da abgeht, wie sich das anfühlt, wie stark die reale und die virtuelle Welt für junge Menschen miteinander verflochten sind, ja miteinander verschmelzen, und wie das funktioniert mit Verschwörungstheorien und Radikalisierung, dann sollten Sie dieses Buch lesen: Julia von Lucadou erzählt darin mit beissendem Humor die Geschichte der 15jährigen Almette, die sich aus Frustration über die Scheinheiligkeit der Welt ins Digitale flüchtet, weil sich das echter anfühlt. In meinem 108. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum trotz vieler englischer Ausdrücke, trotz digitalen Stunts und neuer Technik die Nöte der Teenagerin doch die ewig gleichen sind – allerdings mit ganz neuen Risiken und Nebenwerkungen.

Mette heisst eigentlich Almette und das ist schon ein Schämer: Vorbild für den Namen war nämlich kein Filmstar und keine Musikerin, sondern ein bekannter Frischkäse. Selbstironisch nennt sie sich auf Instagram deshalb «Saycheese» – jedes Kapitel im Buch ist mit ihrem Profilbild und der Zahl ihrer Follower und Likes überschrieben. Diese Angaben spielen im Buch unterschwellig eine wichtige Rolle. Almette, die sich lieber Mette nennt, ist 15 und geht auf ein Elitegymnasium. Mit der Schule hat sie keine Probleme, nur in der Schule: Sie kämpft mit Übergewicht und sehnt sich nach Anerkennung und Bestätigung, das klappt aber im realen, sozialen Leben nicht so richtig. Deshalb ist sie aktiv auf TikTok und scannt ihr ganzes Leben auf Tauglichkeit für die chinesische Kurzfilmplattform ab. Doch mit den Followern auf TikTok will es auch nicht richtig klappen, auch hier bleibt die Bestätigung aus.

Ihre Familie sieht sie, sagen wir: pragmatisch: Der Vater: «Der war mein ganzes Leben der grösste Chauvi. Meine Mutter war immer allein für mich verantwortlich, von Anfang an, obwohl sie den Doktortitel hat. Er hat ab und zu mal ne Windel gewechselt und mich einen Abend in der Woche ins Bett gebracht und sich dabei wahnsinnig altruistisch gefühlt. Dann hat er vor zwei Jahren einen ZEIT-Artikel gelesen und ist jetzt Feminist. Und du glaubst, damit ist alles wieder gut, Papi? Welt gerettet? Du bist wie diese Thermomix-Hipster, die, seit Greta ihnen ein schlechtes Gewissen macht, jeden Tag stolz mit ihrem holländischen Lastenrad in den Unverpacktladen radeln und ihren drei Kindern auf dem Weg die Augen zu halten, wenn Ihnen jemand mit Alditüte entgegenkommen. Das ist die schlimmste Sorte, weil sie tief im innersten davon überzeugt sind, dass sie gute Menschen sind.» (S. 30) 

Online und in ihren Notizen ist Mette eloquent und geistreich. Diese elaborierten Fertigkeiten in der digitalen Welt kontrastieren fast schon komisch mit den unterentwickelten Fähigkeiten in der Realität. Ich-Erzählerin Almette kommentiert das durchaus selbstironisch. Zum Beispiel erhält sie regelmässig «Dick-Pics», Männer schicken ihr also Bilder ihres erigierten Penisses. Zum Beispiel SweeterDieter74.

«Ich speichere das Bild im Dickpic-Ordner meiner Fake-Taschenrechner-App. Man weiss nie, wozu das noch gut ist. Vielleicht entpuppt sich einer der Penisfotografierer irgendwann mal als Politiker. Faszinierend, dass Männer in wichtigen politischen Positionen sich immer wieder in Internet-Penisbild-Affären verwickeln, die so leicht zu vermeiden wären. Generell wäre es mir lieber, ich hätte noch nicht so viele erigierte Penisse gesehen, bevor ich zum ersten Mal Sex, geschweige denn meinen ersten Kuss hatte. Aber ich habe mich damit abgefunden, dass ungebetene Schwellkörperfotos zum Leben einer Frau dazugehören wie Orangenhaut und der Tod.» (S. 39

Doch bei Lichte besehen ist ihre Klugheit bloss altklug und ihre Abgebrühtheit entpuppt sich als vorgespielt. In Wahrheit ist Mette schüchtern und verletzlich. Nachdem sie Freundin Yagmur auf der Damentoilette in der Schule beim Knutschen mit einem anderen Mädchen ertappt hat, wirft sich Mette vor die U-Bahn. Jedenfalls legt sie sich aufs Gleis, das vom herannahenden Zug schon zittert. Sie hat ihr Vorhaben auf TikTok angekündigt, aber niemand hat reagiert, geschweige denn, sie aufzuhalten versucht. In letzter Sekunde wird sie von einem Passanten gerettet. Was ihr Fame auf Tiktok, jede Menge neuer Follower und eine Therapie bei einer neuen Therapeutin einbringt. Es ist schon ihre dritte Therapeutin. Immerhin ist es ein Upgrade: Sie hat einen Doktortitel und auch schon die Jungs von AnnenMayKantereit betreut. Die Beschreibung der Sitzungen mit der Therapeutin gehören zum Lustigsten im Buch.

Vor allem aber bringt ihr der Selbstmordversuch die Bekanntschaft von Jo ein, einem zehn Jahre älteren Hacker. Jo ist der Halbbruder einer Schulkollegin von Mette. Er ist schlau und hat den Durchblick. Er sieht hinter die Fassade des Mainstreams. Er mag Mette. Hat sie endlich einen Verbündeten gefunden? Oder ist er einfach nur ein frustrierter Junge, der voll auf Verschwörungstheorien abgeht? 

Julia von Lucadou schafft es in ihrem Buch perfekt, den Slang der Jugendlichen, ihre analogen Nöte und ihre digitalen Sehnsüchte abzubilden. Bei aller Teenager-Verzweiflung ist das Buch wunderbar unterhaltend, ja lustig geschrieben. Mit beissendem Humor beschreibt Julia von Lucadou, wie Mette zum Schein die Spiele einer Welt mitmacht, deren Verlogenheit sie immer mehr frustriert. Bis Hacker Jo ihr scheinbar einen Ausweg anbietet und Mette in ein Spiel verwickelt, das sie nicht mehr durchschaut. Das «Tick Tack» aus dem Titel wird Ticken einer Zeitbombe.

Julia von Lucadou: Tick Tack. Hanser, 256 Seiten, 26.80 Franken; ISBN 978-3-446-27234-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446272347

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 14. Juni 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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