Marie-Christine Schindler: «Unternehmen können noch viel lernen von den Medien»

Publiziert am 26. Januar 2022 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Marie-Christine Schindler, Beraterin für Online-PR und strategische Kommunikation. Sie sagt, auch wenn der Charme der Pionierzeit verloren gegangen sei, bleibe «Twitter für mich bis heute ein Seismograph für News». Erst ein Buch gebe ihr aber «den roten Faden, Tiefgang und die nötige Ruhe, mich mit einem Thema zu beschäftigen». Die Coronakrise habe einen «beeindruckenden Schub für Datenjournalismus und Visualisierungen mit interaktiven Infografiken» gebracht. In der automatisierten Personalisierung sieht sie eine Chance bezüglich Ansprache der Menschen: «Die Aufmerksamkeit von Menschen holt man, indem man sie möglichst nahe bei sich selber abholt.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Das Radio mit «HeuteMorgen» auf SRF, zudem verschiedene Newsletter von «Tages-Anzeiger» über «NZZ» bis hin zur «Republik». Gerne auch «Ron Orp» für «Good Vibes» in den Tag. 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Twitter nutze ich seit bald 13 Jahren. Auch wenn der Charme der Pionierzeit verloren gegangen ist, bleibt Twitter für mich bis heute ein Seismograph für News. Instagram bedeutet für mich Freizeit, Facebook eher berufliche Pflicht. Auch nicht missen möchte ich LinkedIn.  

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Es dominiert ihn thematisch bis zur Übersättigung. Mein Schutz: Keine Push-Meldungen! Corona hat mir aber auch Entdeckungen gebracht, nämlich einen beeindruckenden Schub für Datenjournalismus und Visualisierungen mit interaktiven Infografiken. Aufgefallen sind mir der Corona Simulator der «Washington Post» oder auch das Scrollytelling in «El Paìs». Unternehmen können noch viel lernen, auch von «Tages-Anzeiger», «NZZ» und SRF.  

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Früher gab es mehr Vielfalt im Blätterwald – die Medienkonzentration beobachte ich mit Besorgnis. Früher hatten Journalist:innen auch mehr Zeit, um sich wirklich in ein Thema einzuarbeiten. Die Digitalisierung hat aber auch sehr viele gute Entwicklungen gebracht und Raum für die Entwicklung von Nischen geschaffen. So gesehen: weder … noch.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall. Warum wohl werden heute selbst Videos untertitelt und transkribiert? 😉

Was soll man heute unbedingt lesen?

Bücher. Ich lese von Snack-Content über Long Reads alles Mögliche im Internet. Erst ein Buch gibt mir den roten Faden, Tiefgang und die nötige Ruhe, mich mit einem Thema zu beschäftigen oder einfach abzuschalten. 

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Klar, das erledigt sich meist von selbst. Die Konkurrenz ist zu gross. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In zahlreichen Podcasts, aber auch über News-Aggregatoren aus meinem Netzwerk. 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ist das wichtig? Für mich zählen die Inhalte, ich lese, wenn immer möglich, digital. Das macht mich zeitlich und örtlich unabhängig. 

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Zusammengenommen sind sie eine Herausforderung für Journalistinnen und Journalisten, einen guten Job zu machen, der Vertrauen verdient.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Lange Zeit war das «Rendez-vous» am Mittag ein Fixpunkt im Tagesablauf. Live gerät aber zunehmend ins Hintertreffen, viele Sendungen höre ich nach. Fernsehen spielt in meinem Leben keine Rolle, ich schaue ich gezielt on Demand.   

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Auf jeden Fall, wenn immer es geht. Den Lieblingspodcast gibt es nicht, das variiert mit den Interessen. Ich mag aber gerne «Was mit Medien» von Daniel Fiene und Herrn Pähler, «Politbüro» des «Tages-Anzeigers», «Im Gespräch» von Roger de Weck» in der «Republik»  und «’ne gute Stunde mit Eva Schulz» von Deutschland 3000.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ein College-Student soll einmal gesagt haben: «If the News is that important, it will reach me». Ob er schlau oder faul war, kann ich nicht beurteilen. Junge Menschen informieren sich nach ihren aktuellen Interessen und über Kanäle und Formate, die ihnen zusagen. Das ist ihr gutes Recht. Wir müssen sie also da abholen, wo sie stehen. Darum geht das Bundesamt für Gesundheit auf TikTok und SRF unternimmt grosse Anstrengungen, um die Jungend in alternativen Kanälen ausserhalb des linearen Fernsehens zu erreichen. Für unsere demokratische Gesellschaft wünsche ich mir natürlich eine differenzierte Auseinandersetzung mit Themen, denke aber, dass sich da alle Altersgruppen «an der Nase nehmen» müssen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Teilweise, ja. Standardard-Texte aus den Bereichen Wetter, Börse und Sport werden schon heute von Robotern geschrieben. Die Aufmerksamkeit von Menschen holt man, indem man sie möglichst nahe bei sich selber abholt. Eine Ansprache nach Geschlecht, Region, Bildungsstand ist ein Weg dazu. Das umzusetzen, führt zu einer unglaublichen Menge an personalisierten Texten, dafür braucht es eine Automatisierung. Sobald es um Analyse und Einordnung geht, wird es, denke ich, noch eine ganze Weile gehen, bis Roboter übernehmen können. Aber auch hier können sie eine Vorarbeit leisten, um persönliche Biases der Schreibenden aufzudecken und die Perspektive zu erweitern. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Der Journalismus entfaltet sich, allerdings gehen die Werbeeinnahmen heute grösstenteils an internationale Tech-Konzerne. Die Medaille hat also zwei Seiten. 

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Mehr denn je und ich bin auch bereit, dafür zu bezahlen und tue das schon heute. Nicht nur für Zeitungen, auch für Newsletter.  

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Immer wenn ich aufmerksam zuhöre. Indem ich mitschreibe, mache ich das Gehörte fest. Meine Notizen scanne ich meist ein, sie bleiben mir also erhalten. Interessanterweise kann ich sie in dieser Form auch besser lesen. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für die Abonnementenzahlen von «New York Times» und «Washington Post» war er auf jeden Fall einen Segen. 😉

Wem glaubst Du?

Ehrlichen Menschen im Wissen: Es ist alles eine Sache der Perspektive.

Dein letztes Wort?

Danke für deine Aufmerksamkeit. Sie ist ein knappes Gut. 

Marie-Christine Schindler

Marie-Christine Schindler ist Beraterin (Senior Consultant) bei der Agentur mcschindler.com gmbh. Sie ist Gründerin und Inhaberin der Agentur in Zürich und berät Unternehmen und Organisationen zu Online-PR und strategischer Kommunikation. Sie ist Blogautorin, Fachhochschul-Dozentin und Co-Autorin des Bestellers «PR im Social Web». Seit einigen Jahren erforscht und entwickelt Sie das Thema Newsroom. 

https://www.mcschindler.com/ 

Basel, 26. Januar 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: Boris Baldinger

Seit Ende 2018 sind über 150 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/ 

Wenn Sie kein Fragebogeninterview verpassen möchten,  abonnieren Sie einfach meinen Newsletter. Das kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen «Medienmenschen» sowie den aktuellen Wochenkommentar, einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:

www.matthiaszehnder.ch/abo/

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.