
Balz Oertli: «Journalismus bleibt Handarbeit, die nicht automatisiert werden kann.»
Das 329. Fragebogeninterview, heute mit Balz Oertli, Journalist beim Recherchekollektiv WAV. Er sagt, er habe einen «eklektischen Medienkonsum», im sei aber aufgefallen, «dass mein eigener Medienkonsum einerseits lokaler wurde, andererseits aber auch viel englischer» – die Eckpfeiler: «tsüri» und «New York Times». «Ich finde, das sagt auch etwas über die Medienlandschaft aus.» Eine klare Antwort hat er auf die Frage, was die steigende Zahl der News-Deprivierten bedeutet: «Dass wir als Gesellschaft die Big Tech Firmen mehr zur Verantwortung ziehen müssten und dass wir als Journalist:innen mehr darüber nachdenken sollten, wer unsere Distributionskanäle besitzt. Spannend ist seine Argumentation, warum es nicht funktionieren wird, Zeitungen durch eine KI produzieren zu lassen. Er glaube, «Tagi»-Verleger Pietro Supino mache «die Rechnung ohne den Wirt». Gegen die Marktmacht von Google komme auch die TX Gruppe nicht an. «Google hat den besseren Algorithmus. Wieso würde ich den ‹Tagi› abonnieren, wenn mir die Google-AI die gleichen «News» gratis gibt?» KI könne sicher helfen «und tut es ja jetzt schon.» Aber «die Währung des Journalismus ist das Vertrauen». Transparenz sei «kein Endzweck, sondern eine Grundbedingung demokratischer Prozesse.» Ob Supino allerdings etwas an den demokratischen Institutionen liege, lasse sich «aus seiner aktuellen Gewinnschröpfung schwer sagen».
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Ich bin SRF-Konsument. Jeden Morgen höre ich «HeuteMorgen» und, weil das immer gleich anschliesst, das «Espresso». Danach geht es meistens erst im Büro weiter: diverse Apps (unterschiedlich, aber immer der «Guardian») und ein paar E-Mail-Newsletter, SMD-Alerts und RSS-Feeds. Am Morgen möchte ich informiert sein.
Sonst habe ich einen eklektischen Medienkonsum. Fast täglich höre ich «Today in Focus» oder «The Daily». Zudem lese ich die WOZ, versuche die Surprise durchzublättern und höre «Ones and Tooze» und «Hard Fork».
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Zu wenig, denke ich oft. Twitter habe ich gelöscht. Theoretisch hätte ich einen Bluesky-Account. Ich benutze LinkedIn, aber auch das nur sporadisch und mehr zur Recherche als zum Verkünden meiner Angelegenheiten. Vielleicht frage ich mich auch zu oft, ob meine fünf Cent zu irgendetwas wirklich interessant sind. Zudem habe ich ADHS. Ich bin anfällig für Doomscrolling.
Aber für uns als Recherchekollektiv ohne eigenen Publikationskanal (wir publizieren nur mit Partner:innen) bleiben die sozialen Medien wichtige Kanäle, um als WAV Leute zu erreichen.
Wenn ich mein LinkedIn-Feed beobachte, zweifle ich aktuell aber daran, ob Social Media in Zeiten von LLMs überleben werden. Ich zumindest bin mir unsicher, wie viele Emoji-Explosionen mit einer Auflistung von drei Punkten ich noch lesen werde.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Wenn sich immer weniger Redaktionen immer weniger Journalist:innen leisten können, bleibt verschiedenes auf der Strecke: Tiefschürfende Recherchen (deswegen haben wir WAV gegründet), aber auch die fundierte Politikberichterstattung. Je länger ich zuhöre, desto dankbarer bin ich den News-Sendungen von SRF.
Mir ist aufgefallen, dass mein eigener Medienkonsum einerseits lokaler wurde, andererseits aber auch viel englischer. Meine WG hat die WOZ und (noch) den «Tagi». Darüber bezahle ich für «tsüri» und «Das Lamm», «The Guardian» und die «New York Times». Ich finde, das sagt auch etwas über die Medienlandschaft aus.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Ich bin kein alter Hase. Aber sicher, es gab mehr Geld. Ob alles besser war, gerade in Bezug auf die Qualität, bin ich mir nicht sicher. Ich glaube, das können andere besser beurteilen.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Sehr sogar. Jedes Medium hat seine Vorteile: Das Bild zeigt das Geräuschlose im Zwischenmenschlichen. Im Ton kann bereits ein leeres Schlucken Geschichten erzählen. Dagegen kann das Wort oft einpacken. Dafür verpacken geschriebene Worte Informationen präzise und zugänglich. Das wird bleiben.
Was soll man heute unbedingt lesen?
«Transithandel» von Lea Haller, «CO₂-Ausstoss zum Nulltarif» von Alex Tiefenbacher und Luca Mondgenast sowie «Accabadora» von Michela Murgia.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Leider nein. Ich kämpfe mich auch durch hunderte Seiten Trockenheit. Aber vielleicht ist das auch einer der Gründe, wieso ich Recherchejournalismus mache.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Jede Woche erneut beim «The Syllabus»: Der kuratierte Newsletter gräbt nach den besten Long-Reads. «It’s bloody magic», findet angeblich sogar Brian Eno. Oder im Podcast «The Memory Palace» von Nate DiMeo. Die letzte Episode handelte von Josephine Cochrane, der Erfinderin des Geschirrspülers. Manchmal finde ich Überraschendes auch in einem eher trockenen Newsletter wie demjenigen von «Tech Policy Press», oder in einem Artikel des «New Yorker», den mir ein Freund zuschickt. Inspiration finde ich oft auch in spezialisierten Podcasts: «The Taxcast», «Thinking Allowed» oder «The Economics of Everyday Things» bereichern mein Leben immer wieder. Zudem höre ich sehr gerne den «Sunday Read» der «New York Times», lese die «Long-Reads» beim Guardian oder höre «The New Yorker Radio Hour».
Mit Schweizbezug habe ich gemerkt, dass die meiste Inspiration schon noch ganz klassisch aus Medien oder von LinkedIn kommt.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Über das Gedruckte mache ich mir weniger Sorgen als über das «Tages-». Fundierte Tagesberichterstattung ist etwas Kostbares, das wir nicht verlieren sollten.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Seit Trump zurück ist, zitieren viele Orwell. Dieser habe auf den Unterschied zwischen der politischen und der totalitären Lüge insistiert. Fake News verstanden als politische Lüge sind wohl ein ewiges Phänomen. Da kommen mir auch etliche Gespräche in den Sinn, welche ich mit einigen Mediensprechenden bereits hatte. Und auch in der Schweiz gibt es Politiker:innen, für die die Wahrheit schon lange dehnbar ist. Dann denke ich jeweils, Fake News ist nichts Neues. Für die politischen Lügen sind wir Medienschaffende zuständig.
Die totalitären Lügen, um bei Orwell zu bleiben, geben mir mehr zu denken. Wenn der/die Lügner:in den Diskurs kontrolliert (und im Zeitalter des Aufmerksamkeitsbingo auf Plattformen von Techmonopolen tun sie das auch), dann kann eine Lüge nicht mehr entmachtet werden. Der Verlust einer argumentativen Logik macht mir Sorgen.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen und das ist auch so geblieben. In den Ferien freue ich mich immer, wenn ich glotzen kann. Nach einer Stunde wird mir aber meist langweilig. Ich bin ein Radio-Kind. Heute höre ich nicht mehr linear, aber viel – fast ausschliesslich SRF: «Echo der Zeit», «Rendez-Vous», «Zeitblende», «International», «Samstagsrundschau», «Wissenschaftsmagazin» (RIP), «Virus», etc.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Massenweise: beim Joggen, beim Waschen, beim Putzen, auf dem Nachhauseweg. Regelmässig höre ich: «Hinterfragt», «Radiolab», «Neues vom Ballaballa-Balkan», «Thinking Allowed», «The Dark Money Files», «Planet Money», «Macht und Millionen», «The Chatterbox», «Hörkombinat: Politik», «Datenschutz-Plaudereien», «Netzpodcast», «Ear Hustle», «Hard Fork» und noch manche mehr.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Dass wir als Gesellschaft die Big Tech Firmen mehr zur Verantwortung ziehen müssten und dass wir als Journalist:innen mehr darüber nachdenken sollten, wer unsere Distributionskanäle besitzt.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Dann frage ich mich aber, wie viele Leute den «Tagi» noch abonnieren. Ich glaube, Supino macht die Rechnung ohne den Wirt: Gegen die Marktmacht von Google (und Co.) kommt auch die TX Gruppe nicht an. Google hat den besseren Algorithmus. Wieso würde ich den «Tagi» abonnieren, wenn mir die Google-AI die gleichen «News» gratis gibt?
KI kann sicher helfen und tut es ja jetzt schon. Aber schliesslich bleibt Journalismus Handarbeit, die nicht automatisiert werden kann. Die Währung des Journalismus ist das Vertrauen, und das bauen wir mit Quellentransparenz. Wer sagt was und wieso. Das können aktuelle LLM bekanntlich (noch) nicht so gut.
Transparenz ist aber kein Endzweck, sondern eine Grundbedingung demokratischer Prozesse. Ob Supino etwas an den demokratischen Institutionen liegt, lässt sich aus seiner aktuellen Gewinnschröpfung schwer sagen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Vielleicht bin ich zu jung für diese Frage. In meinem Leben war die Digitalisierung immer mehr Zustand als «-ierung».

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ja. Die Aussteiger:innen-Liste der «Republik», diverse Studien und mein tiefer Lohn sind Zeugnis davon. Es braucht eine Medienförderung.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ich schreibe viele Interviews noch von Hand mit. Die Konzentration ist grösser und es tippt nicht so laut. Zudem entstehen gute Ideen oft auf Papier.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Vielleicht hat er wieder einmal allen aufgezeigt, wie viel Macht Geld bedeuten kann. Das wäre sicher auch eine Lektion für die Schweiz. WAV führt das Tool «das Geld+die Politik». Auf moneyinpolitics.ch bereiten wir das EFK-Register der Politikfinanzierungsdaten durchsuchbar und für alle zugänglich auf. Wenn ich jeweils die neuen Spenden und Kampagnenbudgets kontrolliere, erfahre ich auch immer viel darüber, wo die politische Macht hierzulande liegt.
Wem glaubst Du?
Den Fussnoten.
Dein letztes Wort?
Ich hatte das Glück, beim SRF zu starten. Als Stagiaire durchlief ich querbeet das halbe SRF. Beim Radiomachen und Filmen lernt man schnell: Journalismus ist Teamarbeit. Das hilft mir bis heute in jeder Recherche.
Balz Oertli
Balz Oertli hat in Zürich und London (SOAS) Politikwissenschaften, Arabisch und Ethnologie studiert. Danach hat er in Genf beim IKRK gearbeitet und in Bern beim Solidaritätsnetz Bern als Rechts- und Sozialberater für Asylsuchende und Sans-Papiers. Zum Journalismus kam er über ein Stage bei SRF. Nach dem Stage hat er bei SRF Dok, auf der Radio-Inlandredaktion und bei SRF Impact gearbeitet. Sei Januar 2023 arbeitet er nur noch für das Recherchekollektiv WAV als Journalist. «Als Mitgründer des Kollektivs mache ich aber natürlich auch noch diverse weitere Sachen im Betrieb», sagt Oertli. www.wav.info
Basel, 16.04.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: BintaKopp, 2024
Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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Ein Kommentar zu "Balz Oertli: «Journalismus bleibt Handarbeit, die nicht automatisiert werden kann.»"
Was es doch nicht alles gibt. Recherchekollektiv WAV… Herr Zehnder kennt wirklich alle Kapillaren im Journalismus. Interessant.
Man kann das Recherchekollektiv WAV durchaus als politisch links betrachten. Das Wort Kollektiv sowie das Aufrufen der Webseite-Titel bestätigt dies: „Lager auf Samos: Haft für Kinder – von der Schweiz bezahlt“ oder „Die Schweiz finanziert in Griechenland Lager für geflüchtete Jugendliche, doch in diesen herrschen schreckliche Zustände“… Themen wie zu harter Asylkurs der Schweiz, Missstände bei Pensionskassen bzw. Ungereimtheiten mit deren Gelder usw…. zuerst und immer bei WAV…
Hingegen: „Versickerung von Steuergeldern bei NGO’s“, „Linksextremismus in Schweizer Städten und deren wirtschaftlichen- sowie Vandalismus-Chaoten-Folgen“, der grassierende importierte Antisemitismus usw… werden dort wohl nie Thema sein. Eigentlich schade um diese Einseitigkeit, da wünschte ich mir bei allen Themen mehr eine Gesamtauslegeordnung, dann kommt es noch besser – empfinde ich.
Es verwundert mich nicht, dass Herr B. Oertli bei der Frage nach einer (mehr) Medienförderung mit „Ja“ antwortet. Doch so einfach ist es nicht. Und bei der Medienförderung muss man allen Akteuren wirklich ganz genau auf die Finger schauen! Denn (z.B.) am 29. März schickte «Schweizer Medien», der mächtige Verband der Verleger, einen Brief an Bruno Hug, Präsident des von ihm gegründeten kleinen Verbands «Schweizer Online-Medien». Im Schreiben jubiliert der Verlegerverband, dass das Parlament «soeben einer Neuauflage der Medienförderung zugestimmt» habe. Konkret geht es um zusätzliche 35 Millionen Steuerfranken für die indirekte Presseförderung. Neben der Erhöhung für die Zeitungsszustellung um 10 Millionen wird auch noch ein neues Subventionsinstrument eingeführt: 25 Millionen für die Frühzustellung.
Zur Erinnerung: Am 13. Feb. 2022 lehnte das Schweizer Stimmvolk diese Neuauflage der Medienförderung mit rund 55% Nein-Stimmen ab!
Eine Respektlosigkeit gegenüber dem Souverän – dieser Vorstoss wurde nur einen Monat nach dem gegenteiligen Volksverdikt eingereicht!
Der Hunger nach Steuergeld ist aber anscheinend immer noch nicht gestillt: Andrea Masünger, Fam. Lebrument (von Somedia), Peter Wanner (CH Media) bereiten bereits neue Subventionspläne vor. Denn diese Verleger sagen: Es sei «unbestritten», dass eine Medienförderung weiterbestehen muss.
«Unbestritten» – Ja wenn man den Volkswillen ignoriert. Und von solchen «Typen» beziehen wir unsere Mainstream-News… Mies und nicht sehr vertrauensvoll…
Auch wollen die Online-Medien in künftige Subventionsschacher miteinbezogen werden.
Bei diesem weiterbestehenden Subventionspowerplay fühlen sich die Stimmbürger veräppelt. Neben Somedia und Wanner wurde auch der CEO von «Ringier», Marc Walder, bei Hug vorstellig. Auch er will noch mehr die hole Hand beim Steuerzahler machen. Kürzlich schrieb auch «Sonntablick» Chefredaktor Renza Rafi über dieser Thema und rechnete vor, dass z.B. Wanner und seine CH Media «im besten Fall wohl über 30 Millionen Steuerfranken erhalten» – und Ringier nicht so viel – welche natürlich auch meeeehr wollen…
So oder so: Allein die indirekte Presseförderung beschert den Verlegern in den nächsten sieben Jahren über eine halbe Milliarde Franken (595 Millionen)!
Durch die Erhöhung des Zwangs-Gebührenanteils (SERAFE-Gebühren) für die Privatstationen werden sie im selben Zeitraum nochmals 875 Millionen einsacken. Total wären das 1,47 Milliarden Franken.
Und es ist nie genug mit dieser MEDIENFÖRDERUNG….
Wahnsinn.
Bezahlen wird das blöde Volk eh (also ich und wir), auch wenn es AN DER URNE ANDERS ENTSCHIEDEN HAT.
Diese Gier dieser und vieler Medien sind zum Abbestellen, Abschalten und Davonlaufen – klingt es bei mir nach….