Buchtipp

Nächster Tipp: Demenz verstehen und mutig begegnen
Letzter Tipp: 1000 Sprachen – 1000 Welten

Wohnen

Publiziert am 8. Mai 2025 von Matthias Zehnder

Doris Dörrie hat ein Buch über Wohnen geschrieben. Ausgerechnet Doris Dörrie – sagt sie übrigens selbst. Denn die Autorin, Regisseurin und Filmemacherin wollte nie nach deutschem Vorbild Wurzeln schlagen mit Einfamilienhaus, Einbauküche und Melittafilterkaffeemaschine. Gerade deswegen macht sie sich in diesem Buch Gedanken über das Wohnen und darüber, was es bedeutet, Raum zu haben, den Raum für sich zu beanspruchen, die Tür hinter sich zumachen zu können. Als sie in den USA lebte, schaute sie sich am Wochenende jeweils Häuser und Wohnungen an, die zum Verkauf standen, weil sie sich dafür interessierte, wie die Amerikaner lebten. Sie habe «keinerlei Sehnsucht nach einer Wohnung» verspürt, «die ‹eigenen vier Wände› kamen mir vor wie die Beschreibung einer Gefängniszelle, auch wenn es in den Häusern, die ich in Los Angeles besichtigte, nicht vier, sondern eher vierzig Wände waren.» Sie stellte sich vor, wie sie in diesen Häusern leben und schreiben würde, aber «nirgends gab es einen guten Platz dafür, vielleicht, weil es zu viel Platz gab, zu viel designte Ordnung und verwirrende Leere.» In der Literatur spielen Wohnungen oft eine zentrale Rolle, in Filmen erzählen sie mit jedem visuellen Detail ganze Geschichten. «Ähnlich wie bei meinen Immobilienstreifzügen in Los Angeles wandere ich vor Drehbeginn bei der sogenannten ‹Motivsuche› durch fremde Wohnungen und Häuser, um für meine fiktiven Figuren die passende Umgebung zu finden.» Im Buch macht sie es umgekehrt: Sie wandert erzählend durch ihr Leben und versucht herauszufinden, welche Rolle die Räume, in denen sie gelebt hat, dabei gespielt haben.

PDF-Version

Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch, eine Mischung aus Wohnbiographie und Meditation über Räume und Häuser, das dazu anregt, über das eigene Wohnen, die eigenen Räume, Einrichtungen und Erlebnisse damit nachzudenken.

Für ihre Mutter war das elterliche Haus in der Nazizeit eine Burg. Die Eltern schärften ihren Kindern ein, niemandem ausserhalb der eigenen vier Wände und des engsten Familienkreises zu trauen. «In allen Diktaturen werden die Wohnungen zum Rückzugsort», Schreibt Doris Dörrie. «Wir tragen den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, für immer in uns, und wenn wir Glück haben, war es ein geschützter, sicherer Ort.» Das Ausmass an Arbeit und Energie, die ihre Eltern leisten und aufbringen mussten, um das «Nest für ihre Brut» zu bauen, das hätte sie nie bedacht, schreibt Dörrie. Gleichzeitig habe sie «hingebungsvoll Beispiele aus der Vogelwelt in mein Biologieheft gemalt: Eisvögel hacken Löcher in Felsspalten, Schwalben bauen Nester aus Lehm, Buntspechte hämmern Höhlen in Baumstämme, Störche rackern sich ab mit riesigen Nestern auf Dachgiebeln, und der winzige Zaunkönig baut seiner Partnerin gleich drei verschiedene Nester zur Auswahl, jedes ein safe space, ein Ort, an dem man sich geschützt und angstfrei aufhalten kann. Je bedrohter wir uns fühlen, umso wichtiger wird der sichere Ort.»

Sie fragt sich, von welchem Raum, von welchem Haus sie selber träumt: «Vielleicht geht es immer eher um den Raum im Kopf, den ein tatsächlicher Raum ermöglichen soll. Der ewige Traum vom perfekten Ort, den perfekten Bedingungen: der Traumraum im Traumhaus, das Wolkenkuckucksheim.» Sie sagt, dass sie selber nie für immer an einem Ort leben wollte. Als junge Frau wohnte sie eine Zeitlang während Filmarbeiten in Los Angeles in einem Hotel, dem Chateau Marmont, das früher legendärer Aufenthaltsort von Stars wie James Dean, Marilyn Monroe, Paul Newman und Leonard Cohen war. «Zu meiner Zeit war es schon etwas verranzt und heruntergekommen. Ich wohnte dort allein, mein Zimmer war düster und mit dunklen Möbeln vollgestellt, der grüne zottelige Teppichboden verklebt, vorm Fenster stand der legendäre, riesenhafte Marlboro Man und sehnte sich zurück in sein Leben ausserhalb der Städte, allein mit seinem Pferd am Lagerfeuer. Dort in der Natur war er allein, aber nicht einsam. Niemals hätte er in einem Hotelzimmer gewohnt.»

Als sie als junge Frau ständig umzog, war ihr nicht klar, dass es «für Frauen immer noch ein Privileg war, eine Wohnung auch wieder verlassen zu können. Genauso, wie eine neue zu bekommen.» Wie und wo man wohne, sei «immer eine Frage von Klassenzugehörigkeit, Herkunft und sozialem Status, aber die allgemeine Wohnungsnot verschärft vor allem die Not von Frauen und Kindern. Wohnen ist eben auch eine Geschlechterfrage.» Doris Dörrie findet deshalb: «Wir brauchen neue Formen des Zusammenwohnens und eine neue Architektur.» Wohnutopien und Modellversuche habe es schon früh gegeben. Sie erinnert sich an das Einküchenhaus in Berlin, das 1908 von der Sozialdemokratin Lily Braun konzipiert worden war: «Es besass nicht nur eine Gemeinschaftsküche, sondern auch Kindergarten, Waschküche, Bügelzimmer, Turnzimmer und sogar eine Dunkelkammer, in der man Fotos entwickeln konnte.» Aber das Wohnprojekt habe keine Begeisterung entfacht und wurde eingestellt: «Jede Wohnung bekam ihre eigene Küche, weil jeder doch lieber sein eigenes Süppchen kochen wollte. Auch in unseren Köpfen herrscht weiterhin der Traum vom Eigenheim vor, der nicht mehr zeitgemäss und auch nicht klimafreundlich ist. Wo also bleibt die Wohnrevolution?»

«Wohnen ist ein Menschenrecht», sagt Doris Dörrie. Jeder Mensch träume von einer würdevollen Unterkunft. «Aber sogar wenn wir sie haben, träumen wir weiter von einer anderen, besseren, schöneren Behausung, grösser, heller, bequemer, sie soll an einem anderen Ort sein, in einer anderen Strasse, mit Balkon oder Dachterrasse, Garten und Pool, am besten mit Blick aufs Meer und die Berge.» Das Problem: «Die einen haben zu wenig Platz, die anderen zu viel. Wir brauchen praktikable und attraktive Konzepte zum freiwilligen Wohnungstausch und Bauen mit flexiblen Grundrissen», schreibt sie. «Klimapolitisch sind grosse Wohnungen und Häuser schon lange nicht mehr zu rechtfertigen. Bei den Jungen geht der Trend zur Zweizimmerwohnung oder zum tiny house. Neben finanziellen und ökologischen Überlegungen reflektiert diese Entwicklung vielleicht auch die Sehnsucht danach, in unwägbaren Zeiten einen beherrschbaren, kleinen Raum um sich herum zu errichten, der eher einem Kokon ähnelt als einem Palast.»

Dazu kommt: «Ist nicht alles vorläufig? Weil alles vergänglich ist?» Von klein auf würden die Menschen versuchen, «Ordnung in unserer Welt zu schaffen, wir sortieren Bauklötze, noch bevor wir sprechen können, halten uns an Dingen fest, um Halt zu finden in einer sich ständig verändernden Welt». Wohnen bedeute, mit Dingen zu leben, auch wenn es vielleicht nur wenige seien. «Unsere ganz eigene Art der Unordnung oder Ordnung sagt vielleicht doch etwas aus über unseren Charakter. Haben die, die Dinge manisch ansammeln, insgeheim Angst vor Verlust und Trennung?»

Sie selbst fand für sich heraus, dass sie keinen Schreibtisch und Schreibraum brauchte, sondern am besten im Bett schrieb, von Hand. «Oder am Küchentisch, wenn das Essen kochte. Oder am Spielplatz. Oder während der Sendung mit der Maus. Immer nur kurz. Meistens nicht mehr als zehn Minuten. Das musste reichen – und es reichte tatsächlich. Nie zuvor war ich so produktiv.» Später habe sie begonnen, im Café zu schreiben. «Ich saß in einer Ecke, hörte das Gemurmel der anderen und war dennoch ganz für mich. Wenn ich Glück hatte, verfiel ich in Trance, wie in meinem Kinderzimmer, und ich verstand: Hier ist für immer mein Raum, ganz für mich allein, my room of my own.»

Im Buch von Doris Dörrie finden sich immer wieder Sätze, die man anstreichen und herausschreiben muss. Sätze wie diese: «Wohnungen sind Metaphern. Sie erzählen immer über uns. Als Inszenierung oder unfreiwillig, aber immer erzählen sie.» Oder wie dieser: «Wir bewohnen uns selbst, wenn wir uns an unsere Räume erinnern.»

Doris Dörrie: Wohnen. Hanser, 128 Seiten, 29.50 Franken; ISBN 978-3-446-27963-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279636

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/

Abonnieren Sie meinen Newsletter, dann erhalten Sie jede Woche den Hinweis auf das Sachbuch der Woche in Ihre Mailbox geliefert: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/

Abonnieren Unterstützen Twint-Spende