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Demenz verstehen und mutig begegnen
Demenz ist eine grausame Erkrankung: Wir müssen uns von Betroffenen verabschieden, obwohl sie körperlich noch da sind. Betroffene verlieren mit der Zeit alle Fähigkeiten und Fertigkeiten und wahrscheinlich verändert sich ihre Persönlichkeit. Sie haben Mühe, sich zu verständigen – und ihr Umfeld hat deshalb Mühe, sie zu verstehen. In ihrem Buch über Demenz gibt Marion Ponelies praktische Anleitungen, wie Angehörige und Freunde mit Demenzkranken umgehen können. Ponelies ist Pflegefachfrau und hat jahrelange Erfahrung mit Demenzkranken. In ihrem Buch zeigt sie einfühlsam, wie Angehörige mit Demenzkranken umgehen können. Einfach ist das nicht. Als erstes hilft Wissen über die Erkrankung. Sie führt deshalb kurz und verständlich ein in die verschiedenen Erscheinungsformen und Ursache von Demenz. Das zweite ist Hilfe: Sie ruft dazu auf, sich früh professionelle Hilfe zu holen. Der vielleicht wichtigste Punkt: Sie zeigt, wie wichtig es ist, Demenzkranken positiv zu begegnen. Sie rät deshalb dringend davon ab, Demente auf Fehler hinzuweisen und keine prüfenden Fragen zu stellen. Sie sagt, man solle in einfachen, kurzen Sätzen mit den Patienten reden, Fragen durch Aussagen ersetzen und sich auf die schönen Momente fokussieren. Und sich dabei nicht vergessen, um sich selber zu kümmern. Der Hauptteil ihres Buchs besteht aus Fragen von Angehörigen und Freunden von Demenzkranken. Die Antworten darauf sind konkret, praxisbezogen und hilfreich – und immer auch gut begründet.
Etwa: «Meine Mutter weigert sich, zum Arzt zu gehen. Wie kann ich sie überzeugen?» Ein Arztbesuch löst bei Demenzbetroffenen häufig Stress aus. Also gibt Marion Ponelies konkrete Tipps, wie ein Arztbesuch zu bewerkstelligen ist. Oder: «Soll ich Oma sagen, dass sie Demenz hat?» Das Problem: Die Wahrheit zu sagen, gilt in unserer Gesellschaft als richtig. Marion Ponelies schreibt aber, Demenz werde oft zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, an dem der Demenzbetroffenen die Diagnose und Erklärungen dazu nicht mehr verstehen könne oder die Informationen sofort wieder vergesse. «Dann rate ich dir, die Diagnose zu verschweigen. Denn es ist sinnlos, einem Menschen etwas zu erklären, das er nicht mehr begreifen kann oder immer wieder vergessen würde.»
Wie können, wie sollen wir damit umgehen, wenn Demenzkranke ständig Fehler machen? Marion Ponelies sagt: «Es kommt darauf an. Kann der Kranke deine Korrektur verstehen, dann kläre ihn liebevoll auf.» In den meisten Fällen werde der Demenzpatient den Einwand jedoch nicht mehr verstehen können. «Dann wäge unbedingt ab, wie wichtig es ist, deinen Angehörigen zu verbessern. Denn bedenke, er bewegt sich in einer Welt voller Unsicherheiten und erlebt gleichzeitig, wie seine Fähigkeiten und Fertigkeiten immer mehr nachlassen. All das nagt sehr an seinem Selbstvertrauen, was oft zu Aggression oder Depression führt und die Kooperation mit dem Dementen weiter erschwert», schreibt Marion Ponelies. «Deine Mutter spricht dich mit falschem Namen an? Unwichtig. Dein Vater hat den Arzttermin vergessen? Egal. Deine Oma glaubt, heute Geburtstag zu haben? Dann feiert zusammen.» Generalregel: «Ignoriere die Fehler des Demenzkranken.»

Was soll ich tun, wenn ein Demenzkranker ständig dieselbe Frage wiederholt? Das kann sehr nervenaufreibend sein. «Wir kommen uns hilflos vor, denn die Antwort scheint dem Demenzpatienten ja nicht zu helfen.» Marion Ponelies sagt: «Mache dir klar, dass sich dein Angehöriger nicht so verhält, um dich zu ärgern. Fragen, die der Demente ständig wiederholt, sind für ihn besonders wichtig. Auch wenn dir vielleicht unklar ist, warum. Gleichzeitig vergisst er – teilweise innerhalb weniger Momente – die bereits erhaltene Antwort.» Es bleibt nichts anderes übrig, als geduldig immer wieder zu antworten, als wäre es das erste Mal. «Formuliere die Antwort kurz und mit einfachen Worten; falls möglich, nutze sogar nur ein Wort», sagt Marion Ponelies. Manchmal hilft es auch, den Demenzpatienten mit einer Aufgabe oder Aktivität von der drängenden Frage abzulenken.
Nächste Frage: Warum schlafen Demenzkranke so viel? Jeder von uns sei täglich unzähligen Reizen ausgesetzt, schreibt Marion Ponelies. «Ein gesundes Gehirn filtert diese Reize. Reize, die unwichtig sind, werden vom Gehirn aussortiert, und wir registrieren sie nicht bewusst.» Bei Menschen mit Demenz sei die Reizfilterung mangelhaft: «Das Gehirn nimmt mehr Reize auf als nötig und ist damit überfordert.» Das Gehirn sei überlastet und brauche deshalb mehr Schlaf, um sich vor Reizen abzuschirmen und sich zu erholen. Wenn der Kranke zu viel schlafe, könne es helfen, ihn vor Reizen zu schützen. «Hab keine Scheu davor, deinen Angehörigen einfach mal im Sessel sitzen zu lassen – ohne TV, ohne Musik, ohne Reden. Das wird ihm guttun.»
Es gibt aber auch das Gegenteil, das Demenzkranke keine Ruhe finden und den ganzen Tag herumlaufen. «Menschen mit Demenz stehen ständig unter einem hohen psychischen Druck», schreibt Marion Ponelies. «Sie bewegen sich tagtäglich in einer Welt, die sie nicht verstehen. Sie sehen Gegenstände und fragen sich: Was ist das?» Insbesondere der Verlust der eigenen Identität, nicht mehr spüren zu können, wer man ist, sei für die menschliche Psyche kaum zu verkraften. «Mediziner vermuten, dass das vermehrte Gehen Demenzbetroffenen hilft, diesen hohen seelischen Stress zu mindern.» Also gilt es, den Demenzpatienten das Gehen zu ermöglichen. «Akzeptiere, dass Gehen für den Demenzkranken eines der wenigen Hilfsmittel ist, das ihm noch bleibt, um Stress zu mindern und sich zu beruhigen. Lass ihn also auch zum Essen laufen, wenn er das möchte. Gib ihm ein Brot oder einen Apfel in die Hand, oft essen Demenzbetroffene dann gerne.»
Die Beispiele zeigen: Marion Ponelies gibt einerseits ganz konkrete Tipps und Hinweise für den Umgang mit Demenzpatienten und vermittelt andererseits viel Verständnis und Empathie für die Erkrankten. Das macht ihr Buch zu einem echten Helfer für Anghörige.
Marion Ponelies: Demenz verstehen und mutig begegnen. Hilfe und Unterstützung für Angehörige – die wichtigsten Fragen und Antworten. Rowohlt, 256 Seiten, 22.50 Franken; ISBN 978-3-499-01651-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499016516
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