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Was heisst persönliche Verantwortung in einer Diktatur?

Publiziert am 21. Dezember 2018 von Matthias Zehnder

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, fasziniert immer wieder durch die Freiheit ihres Denkens. In diesem Essay denkt sie über die Verantwortung nach, welche die Zivilbevölkerung in einer Diktatur hat. Der Text war als Vortrag gedacht. Das englische Originalmanuskript des Vortrags stammt aus den Jahren 1964/1965. Es befindet sich unter dem Titel «Personal Responsibility under Dictatorship» im Nachlass von Hannah Arendt und blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. An welches Publikum sich Hannah Arendt mit dem Text richtete, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass der Text heute wieder aktuell ist angesichts der politischen Entwicklungen in der Türkei, in Ungarn und Polen – und in den USA.

Arendt unterscheidet scharf zwischen persönlicher und politischer Verantwortung. Jede Regierung übernehme die politische Verantwortung für die Taten und die Untaten ihrer Vorgängerin. In jedem bürokratischen System gehört laut Arendt das Abwälzen von Verantwortung zur täglichen Routine. Die Bürokratie sei die Herrschaft der Büros, im Gegensatz zur Herrschaft eines Einzigen oder einiger weniger oder vieler: Bürokratie ist die Herrschaft der Niemande und aus ebendiesem Grund vielleicht die am wenigsten menschliche und grausamste Herrschaftsform, schreibt Arendt.

Und was ist mit der Bevölkerung? So etwas wie kollektive Schuld oder kollektive Unschuld gibt es nicht; der Schuldbegriff hat nur Sinn, wo er auf Individuen angewendet wird, stellt Arendt klar. Kann aber der berühmte kleine Mann von der Strasse verantwortlich sein für die Untaten eines Regimes, dem er doch machtlos gegenübersteht? Welche Verantwortung trägt der Einzelne in einem diktatorischen Regime? Für Arendt beginnt die Verantwortung des Einzelnen da, wo er die Herrschaft unterstützt. Selbst in einer strikt bürokratischen Organisation mit festgefügter hierarchischer Ordnung wäre es viel sinnvoller, das Funktionieren der «Rädchen» und der Räder als eine umfassende Unterstützung eines gemeinsamen Unternehmens anzusehen, anstatt – wie meist üblich – von Gehorsam gegenüber Vorgesetzten zu sprechen. Arendt plädiert deshalb dafür, das verhängnisvolle Wort «Gehorsam» aus dem Vokabular unseres moralischen und politischen Denkens zu streichen. Dann habe der Mensch die Chance, Selbstvertrauen und sogar Stolz zurückgewinnen – das, was frühere Zeiten die Würde oder die Ehre, vielleicht nicht der Menschheit, so doch des Menschen, nannten.

Ein kurzer, intensiver Text, der uns alle mit der eigenen Verantwortlichkeit konfrontiert. Ein spannendes Buch zum Ende des Jahres 2018. Lesen!

Hannah Arendt: Was heisst persönliche Verantwortung in einer Diktatur? Piper, 96 Seiten, 14.90 Franken; ISBN 978-3-492-23828-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492238281

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Buchtipp zum Wochenkommentar vom 21.12.2018: Mein Fragebogen 2018

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/category/buchtipp/