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Mutters Museum

Publiziert am 6. Januar 2022 von Matthias Zehnder

1743 erbaute die Familie Bühler von Feldbach am oberen Zürichsee in der Nähe von Rapperswil ein Haus: das Gut Oberhaus. 2014 verlässt die letzte Bewohnerin das Haus: Rosmarie Bühler-Wildberger zieht, achtzigjährig, zu ihrer Tochter. In den 271 Jahren dazwischen hat die Familie nichts weggeworfen: Alles, was nicht mehr gebraucht wurde, kam in den Estrich. Kutschen und Pferdeschlitten, Seidenkleider und Militäruniformen, Porzellan und Silberbesteck, Skier und Tennisschläger. Tagebücher und Haushaltungsbücher, Briefe, Rechnungen, Schuldscheine und viele Fotos. Rosmarie Bühler-Wildberger hat das Konvolut geordnet, die Fotos beschriftet, die Briefe sortiert und zu vielen Gegenständen deren Geschichte aufgeschrieben. Entstanden ist ein einzigartiges Archiv. Die Historikerin Elisabeth Joris und der Autor und Historiker Martin Widmer erhielten Gelegenheit, das Archiv zu sichten und sich mit den Bewohnern und vor allem den Bewohnerinnen des Guts Oberhaus zu beschäftigen. Das Resultat ist ein faszinierendes Buch, das die Geschichte des Hauses, der Familie und damit der ländlichen Oberschicht am Zürichsee erzählt. Durchsetzt ist diese historische Erzählung mit Berichten darüber, was Rosmarie Bühler-Wildberger im Haus ausgestellt hatte und wie die beiden Historiker das einzigartige Archiv entdecken.

Etwa in der Mitte zwischen Stäfa und Rapperswil liegt Feldbach. Hier, an der Seestrasse 4, steht das Oberhaus. Heute ist es ein B&B mit gediegen eingerichteten, historischen Räumen. Bis 2014 war es bewohnt – und zwar über 250 Jahre lang von derselben Familie. Der Familie Bühler. Das Haus wurde mit der Zeit zum Familienarchiv. Eingelagert wurden dabei nicht nur Briefe, Fotoalben und Tagebücher, sondern auch viele Alltagsgegenstände, Spielsachen und Geräte. «Noch nie haben wir mit einer solchen Fülle verschiedenster Quellen gearbeitet», schreiben Elisabeth Joris und Martin Widmer, «von schriftlichen Dokumenten wie Briefen, Verkaufsurkunden und Rechnungsbüchern bis zur materiellen Kultur wie Tellern, Möbeln, Kleidern, Uniformen, Pistolen und Kutschen.» Kein Zweifel: Das Haus- und Familienarchiv ist ein Glücksfall. «Es ist so reichhaltig, dass wir längst nicht alle Dokumente lesen und nur einen partiellen Überblick gewinnen konnten», schreiben die beiden Historiker. Sie haben deshalb auch keine weiteren Quellen beiziehen können und schreiben: «Es gibt also noch viel Material für weitere Fragen und weitere Forschungsprojekte.» Sobald die schriftlichen Quellen und das Bildmaterial des Familienarchivs im Staatsarchiv des Kantons Zürich deponiert und wissenschaftlich inventarisiert sind, wird das Material öffentlich zugänglich sein.

Einstweilen haben Elisabeth Joris und Martin Widmer basierend auf dem Material und ihrer Begegnung mit dem Haus ein Buch geschrieben, das drei Geschichten enthält. Da ist zunächst die Geschichte der Familie Bühler und des Guts Oberhaus, wie sie im 16. Jahrhundert einsetzt und sich über vier Jahrhunderte erstreckt. Die zweite Geschichte, die sie erzählen, ist die Geschichte von Rosmarie Bühler-Wildberger und Albert Bühler. Ihre Briefe und Tagebucheinträge sind erhalten. Es ist die Geschichte einer Ehe, die vom ersten Kennenlernen bis zum Abschied aus dem Haus reicht. Albert Bühler hat, mehr schlecht als recht, den Gutshof zu bewirtschaften versucht, immer argwöhnisch beobachtet von seinem Vater. Sie war für die damalige Zeit eine moderne Frau, eine gelernte Hauswirtschaftslehrerin, die ihm vor allem organisatorisch tatkräftig zur Hand ging. Sie war nicht die erste Frau eines Bühlers, die den Hof führte. Als 1782 Hans Jakob Bühler kaum vierzigjährig starb, übernahm seine um acht Jahre jüngere Ehefrau Magdalena die Führung des Guts. Möglich war das, weil die Erbteilung aufgeschoben wurde, bis die Kinder volljährig waren. Die Verteilung von Hans Jakobs Erbe fand erst rund zwanzig Jahre nach seinem Tod statt, nachdem alle Kinder das zwanzigste Altersjahr erreicht hatten. Da Witwen aufgrund gesetzlicher Regelungen den Betrieb bis zur Mündigkeit der Erben weiterführen konnten, konnte Magdalena die Führung des Hauses übernehmen, ohne dass sie von einem Vormund eingeschränkt worden wäre. Sie sorgte für eine gute Ausbildung ihrer Kinder, auch der Töchter. Nach der Übergabe des Hauses an den Sohn nahm sie die Funktion einer Hausmutter «höchst tatkräftig, umsichtig und unerschrocken» wahr. 

Im Buch pendeln Elisabeth Joris und Martin Widmer also zwischen zwei Geschichtsebenen: der Geschichte des Hauses ab dem 16. Jahrhundert und der Geschichte der Familie Bühler-Wildberger, die sich in den Jahren zwischen 1960 und 2016 abspielt. Die historischen Kapiteln werden jeweils durch kurze Einschübe in der Gegenwart eingeleitet: Die beiden Historiker erzählen, wie sie das Haus entdeckt haben. Sie stellen einzelne, einzigartige Möbelstücke vor, etwa den Wellenschrank von 1771, oder das Kassenbuch, in dem Hedwig Bühler-Boller feinsäuberlich aufgelistet hat, welche Gegenstände sie während des Umbaus wo verstaut hat. Bei manchen Gegenständen schreibt sie auf, wie sie in die Familie gekommen sind. Das zweckentfremdete Kassenbuch wird so zu einem «Schlüsseldokument» für die historische Erschliessung des Hauses. Oder sie schildern, wie der stellvertretende Staatsarchivar des Kantons Zürich das Haus und die Sammlung in Augenschein nimmt und nach der Sichtung befindet, dass es sich um eine Sammlung von einmaliger Kontinuität handle. Das Staatsarchiv wolle alle Dokumente übernehmen und auswerten. Diese Einschübe vermitteln die Faszination der Historiker an ihrem Stoff. Es atmet Entdeckergeist aus den kleinen Kapiteln – und die Autoren verknüpfen auf diese Weise die historischen Stoffe elegant mit der Gegenwart.

Das Buch ist reich bebildert. In den historischen Kapiteln zeigen die Fotos Dokumente, Portraits, Bilder aus dem Familienalbum, in den «Entdecker-Kapiteln» der Gegenwart zeigen sie das Haus, seine Räume, seine Möbel, die Berge von Schachteln und Ordner und machen so das Haus und seine Entdeckung erlebbar. Ein spannendes Buch, das Einblick in den historischen Alltag gibt – in den Alltag vor allem von Frauen der Oberschicht in einem ländlichen Gebiet der Schweiz.

Elisabeth Joris, Martin Widmer: Mutters Museum. Das Oberhaus und die ländliche Oberschicht am Zürichsee. hier + jetzt Verlag, 320 Seiten, 39 Franken; ISBN 978-3-03919-535-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039195350

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