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Die wichtigsten Sachbücher des Jahres 2021

Publiziert am 30. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

Ich empfehle Ihnen jede Woche ein Sachbuch, ein Buch, das aktuelles Wissen vermittelt und zum Denken anregt. Im Wesentlichen sind es Bücher aus den Themengebieten Digitalisierung, Philosophie, Psychologie, Geschichte, Politik und Soziologie. Es sind Bücher, die mir helfen, die Gegenwart zu verstehen – und manchmal auch die Vergangenheit. In diesem Jahr waren es 51 Buchtitel, die ich Ihnen empfohlen habe. Sechs davon lege ich Ihnen besonders ans Herz. Es ist natürlich eine persönliche Auswahl – es sind Bücher, die mich persönlich weitergebracht haben. Es sind aber auf jeden Fall Bücher, die über das Jahr hinaus Bestand haben werden und sich weiterhin zur Lektüre lohnen.

Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt

Wir sind alle Amerikaner. Kulturell wenigstens: Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg leben wir im Schatten von Hollywood und der amerikanische Musikindustrie. Mit der Kultur haben wir auch einen rechten Teil der Weltsicht übernommen. China taucht in diesem Weltbild nur am äussersten Horizont auf. Zeit das zu ändern. Meine Buchempfehlung dazu: «Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt» von Stefan Aust und Adrian Geiges. Selten hat mich ein Sachbuch so positiv überrascht. Erwartet habe ich eine Politikerbiografie, die pendelt zwischen Huldigung und Zeigefingerrhethorik. Gelesen habe ich ein überaus spannendes Buch über die jüngere Geschichte von China, verwoben mit der Biografie von Xi Jinping und gespickt mit vielen Zitaten aus seinen Reden. China hat mit einer Bevölkerung von fast 1,4 Milliarden deutlich mehr Einwohner als die Europäische Union, die USA und Russland zusammen genommen. Das Land ist die Wirtschaftsmacht Nummer eins auf der Welt. In Europa wissen wir aber immer noch wenig über China und seinen Präsidenten. Stefan Aust, ehemaliger Chefredakteur des «Spiegel», und der in Basel geborene Sinologie Adrian Geiges erzählen das Leben von Xi Jinping verquickt mit der Geschichte Chinas. Das macht diese Geschichte nachvollziehbar und Xi Jinping nahbar. Ein spannendes und lehrreiches Buch. Versteht man nach der Lektüre China besser? Das wäre zu viel verlangt. Ich weiss jetzt sehr viel mehr über Xi Jinping und seine und die jüngere Geschichte Chinas – und verstehe, dass ich China viel zu wenig verstehe. 

Stefan Aust, Adrian Geiges: Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt. Piper, 288 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-492-07006-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492070065 

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/xi-jinping/ 

Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit

Manchmal habe ich das Gefühl, Facebook sei ein ähnlich fernes Land wie China: ähnlich unverstanden – und ähnlich autokratisch regiert. Die beiden «New York Times»-Reporterinnen Sheera Frenkel und Cecilia Kang berichten schon seit Jahren über Facebook. Für dieses Buch haben sie mit über 400 Mitarbeiter:innen und Expert:innen gesprochen. Sie sezieren den Koloss förmlich und arbeiten die beiden zentralen Probleme heraus: Facebook überwacht seine Nutzer:innen stärker als jeder Überwachungsstaat – und Facebook kann und will extreme Inhalte nicht einschränken. Eigentlich will die Plattform ja nur Gutes: Menschen miteinander vernetzen. Weil im Kern aber ein extrem mächtiger Algorithmus steht, mutiert das freundliche Freizeitalbum zum obsessiven Userüberwacher. Dabei ordnet Facebook dem Wachstum alles unter – auch die Sicherheit und den Anstand. Bis heute hat Facebook zudem keine Handhabe gefunden, wie sich extreme Inhalte einschränken lassen. Oder Facebook will die Handhabe nicht anwenden, weil eine Einschränkung das Wachstum und damit den Umsatz blockieren würde. Sheera Frenkel und Cecilia Kang erzählen keine völlig neue oder überraschende Geschichte. Ihr Verdienst ist es, diese Geschichte packend und untermauert mit vielen Fakten neu zu erzählen.

Sheera Frenkel, Cecilia Kang: Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit. S. Fischer Verlag, 384 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-10-000066-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783100000668 

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/inside-facebook/ 

Wer Facebook nutzt, hat viele «Freunde» – und fühlt sich trotzdem oft einsam. Dass das nicht nur an Facebook liegt, zeigt dieses Buch: Die britische Ökonomin, Hochschullehrerin und Autorin Noreena Hertz spricht vom «Zeitalter der Einsamkeit». Sie versucht zu ergründen, warum wir so einsam geworden sind und was wir tun müssen, um wieder eine Verbindung zueinander aufzubauen.

In Grossbritannien war das Problem der Einsamkeit im Jahr 2018 derart gravierend, dass die Premierministerin sogar eine «Ministerin für Einsamkeit» einsetzte. Einer von acht Briten haben laut Studien nicht einen einzigen guten Freund, auf den er sich verlassen könne. Drei Viertel der Bürger kannten die Namen ihrer Nachbarn nicht. 60 Prozent der britischen Angestellten fühlten sich am Arbeitsplatz einsam. Die Werte für Asien, Australien, Südamerika und Afrika sind ähnlich beunruhigend. Zwangsläufig haben die Monate des Lockdowns, der Selbstisolation und des Social Distancing das Problem noch verstärkt. «Auf der ganzen Welt fühlen sich die Menschen einsam, abgeschottet und entfremdet. Wir befinden uns mitten in einer globalen Einsamkeitskrise, vor der keiner von uns gefeit ist, egal wo auf der Welt», schreibt Hertz. Spannend an dem Buch ist, dass Noreena Hertz die Einsamkeitskrise aus ökonomischer Perspektive untersucht – und entsprechend auch Lösungen vorschlägt, die auf der Wirtschaft beruhen. 

Noreena Hertz: Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. Harper Collins, 448 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-7499-0115-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783749901159 

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/die-neue-einsamkeit/ 

Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens

Der langjährige Nature-Chefredaktor Henry Gee erzählt in diesem Buch auf ebenso spannende, wie unterhaltende Weise die Geschichte des Lebens auf der Erde. Sein Buch beginnt mit der Entstehung des Universums, den Abschluss bildet ein geradezu atemberaubender Ausblick auf die nächsten rund eine Milliarde Jahre der Erde. Sprachmächtig beschreibt Henry Gee, wie zwischen diesen beiden Extremen das Leben entstand und sich entwickelte. Er hebt dabei nicht ab in eine Wissenschaftssprache, sondern bleibt gut verständlich und versteht es seine Leser:innen mit seiner Begeisterung über die Natur anzustecken. So schreibt er über die ersten Bakterien: «Jede für sich genommen ist winzig. Auf den Kopf einer Stecknadel würden mehr Bakterien passen als Hippies einst nach Woodstock pilgerten, und das mit jeder Menge Platz zum Tanzen.» Die Welt, die Gee beschreibt, ist faszinierend. Das Kapitel, das wir Menschen dabei belegen, ist kurz und kommt fast am Ende. Die wirklich spannende Entstehung des Lebens fand vorher statt: «Als es in den Kampf zog, bestand das Leben auf der Erde aus kaum mehr als einem Haufen friedliebender Seegräser, Algen, Pilze und Flechten. Doch es erwies sich als zäh, wendig und ziemlich auf Krawall gebürstet. Das Leben auf der Erde wurde im Feuer geschmiedet, gehärtet aber wurde es im Eis.» 

Besonders spannend sind seine Ausführungen zu Dinosauriern, die äusserst erfolgreich über eine lange Zeit in allen Grössen die Erde bevölkerten. A propos: Warum wurden die Dinosaurier eigentlich so gross? Die Antwort liegt in ihrer Atmung. Dinosaurier atmen zwar ähnlich wie Säugetiere, sie haben die Atmung aber wesentlich verbessert. «Sie hatten für ihre Luftversorgung eine Art Einwegsystem entwickelt, welches das Atmen überaus effizient machte.» Die Luft strömte in die Lunge, wurde danach aber weitergeleitet und durch Ventile in ein verzweigtes System von Luftsäcken überall im Körper geschleust. Luftgefüllte Räume – im Grunde Erweiterungen der Lunge – umgaben die inneren Organe und lagen sogar im Inneren der Knochen. Dinosaurier waren voller Luft. «Und eben dies war das Geheimnis der enormen Grösse, die manche Dinosaurier erreichten – sie waren luftgekühlt.»

Ein überaus spannendes Buch, das einen die kurze Zeit, welche die Erde von Menschen bevölkert wird, mit anderen Augen betrachten lässt. 

Henry Gee: Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens. Hoffmann und Campe, 304 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-455-01221-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455012217 

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/eine-sehr-kurze-geschichte-des-lebens/ 

Von der Steinzeit ins Internet

Gemessen an der Zeit, welche die Evolution benötigte, um den Menschen hervorzubringen, ist die Zeit des Computers ein winziger Augenblick. Neurowissenschaftler Lutz Jäncke beschreibt in seinem neuen Buch, was passiert, wenn unser «Steinzeit-Hirn» sich in der digitalen Welt bewegt. Denn bei aller Euphorie über die technische Revolution und die Digitalisierung – darf man, schreibt Jäncke, «nicht ausser Acht lassen, dass letztlich der Mensch als biologisches Wesen der Akteur in dieser Wunderwelt des Internets ist.» Er stellt sich deshalb die Frage, ob der Mensch überhaupt mit den psychischen Fertigkeiten ausgestattet ist, um in dieser digitalen Welt zu überleben. Kurze Antwort: Nein, ist er nicht. Er ist überfordert. Für neugierige Primaten, die gerne der Lustbefriedigung frönen, ist das Internet ein geradezu gefährlich befriedigendes Werkzeug. 

Insbesondere wird der Mensch, der in der Steinzeit im Wesentlichen nur mit den Mitgliedern seiner Gruppe Kontakt hatte, in der Onlinewelt mit Kontakten und Informationen überflutet. «Dadurch wird unser Mitgefühl, aber auch die Sicht über uns selbst in Mitleidenschaft gezogen.» Jäncke kommt zum Schluss, dass sich «immer mehr Menschen wie Avatare, also digitale Wesen verhalten. Sie präsentieren sich auf Instagram oder sonstigen Kanälen, indem sie sich verfälscht, also unnatürlich präsentieren. So als ob sie hinter einer virtuellen Maske im virtuellen Raum agieren würden.» Auch die Menge und ständige Verfügbarkeit interessanter und aufmerksamkeitsraubender Nachrichten und Informationen überlastet unser Gehirn. «Es ist schlichtweg nicht geschaffen, um sich in der Internetwelt wie ein Multitasker zu entfalten.» Den unendlichen Verlockungen des Internets und der digitalen Welt zu widerstehen, ist schwierig für die neugierigen Primaten, die wir letztlich immer noch sind. Wir seien deshalb «anfällig für einfache, Aufmerksamkeit erhaschende Nachrichten.» Dabei nehme auch die Manipulierbarkeit zu. Ganz grundsätzlich wird es laut Jäncke für den Menschen immer schwieriger, den Spagat zwischen der digitalen und der analogen Welt emotional und kognitiv zu bewältigen, weil in der digitalen Welt  viele der in uns implementierten Verhaltens- und Wahrnehmungsmechanismen nicht mehr wirksam sind. Nur gut, gibt Jäncke konkrete Tipps, wie wir Steinzeitmenschen besser mit den digitalen Herausforderungen umgehen können. Ein sehr spannendes – und sehr wichtiges Buch!

Lutz Jäncke: Von der Steinzeit ins Internet. Der analoge Mensch in der digitalen Welt. Hogrefe, 168 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-456-86150-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783456861500

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/von-der-steinzeit-ins-internet/

Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten

Wir sind also Steinzeitwesen, die sich im Internet verlieren. Nicht genug damit, dass die Onlinewelten uns überfordern – Computer und künstliche Intelligenz überflügeln uns auch bald. Wenigstens sagt das die Industrie. Doch damit ist Gerd Gigerenzer, Psychologe und langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, nicht einverstanden. Er sagt: Künstliche Intelligenz (KI) wird massiv überschätzt. Wer glaubt, die KI werde bald den Menschen übertrumpfen, hat nicht verstanden, wie Computer funktionieren. In seinem neuen Buch zeigt und erklärt er, wo die Grenzen von Computern und künstlicher Intelligenz sind. Die Maschinen sind nicht etwa unfähig. Ihre grossen Fähigkeiten sind bloss beschränkt auf geschlossene Systeme in stabilen Welten mit klaren Regeln. Deshalb können Computer extrem gut Schach spielen, aber sie haben keine Ahnung, wie sie zum Beispiel das Verhalten eines Babys berechnen können. In seinem Buch beschreibt er, wie Computer und KI zum Beispiel an der Partnerwahl scheitern, weil Personen viel komplexer sind als die Profile, die sie hinterlegen. Er erläutert, warum es nie wirklich selbstfahrende Autos geben wird, es sei denn, man sperre die Strasse für menschliche Fahrer (was in China zum Teil bereits gemacht wird). Denn eine Strasse mit (menschlichen) Autofahrern, Radfahrern, Fussgängern und spielenden Kindern ist extrem komplex. Ein Computer kann das Verhalten all dieser Menschen nicht zuverlässig voraussagen. Er zeigt, warum auch die besten KI-Systeme immer wieder an Übersetzungen der menschlichen Sprache scheitern. Es sei denn, Sie erraten es, die Sprache in einem geschlossenen System wie einer Anwaltskanzlei oder den Diagnosen einer Klinik eingesetzt wird. Ein spannendes Buch, das zum Denken anregt – und dazu auffordert, den Marketingversprechen der Tech-Konzerne zu misstrauen. Es ist, so schreibt es Gigerenzer selbst, «eine Anleitung, wie wir in einer zunehmend von Algorithmen bevölkerten Welt souverän bleiben und das Steuer in der Hand behalten.» Man könnte auch sagen: Es ist ein Buch, das einem den Glauben an den Menschen und seine zentralen Fähigkeiten zurückgibt.

Gerd Gigerenzer: Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen. C. Bertelsmann, 416 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-570-10445-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783570104453

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/klick/ 

Das waren sie, die sechs Sachbücher des Jahres 2021, die ich Ihnen auch über das Jahr hinaus ans Herz lege. Wir alle sind, gerade in der Coronakrise, versucht, die Welt anhand der Nachrichten zu verstehen, die auf uns hereinprasseln. Nachrichten informieren aber meist nur über Aussergewöhnliches. Das Gewöhnliche, das, was die Welt wirklich ausmacht, bleibt aussen vor. Ich habe das in meinem Buch «Die Aufmerksamkeitsfalle» ausführlich beschrieben und werde nicht müde, es zu wiederholen: Weil Nachrichten vom Neuen, dem Ausserordentlichen, dem Anderen handeln, bleibt die Welt, wie sie wirklich ist und was sie im innersten zusammenhält, aussen vor. Dafür sind Bücher da. Deshalb stelle ich Ihnen weiterhin jede Woche ein Sachbuch vor, das zum Denken anregt.

Basel, 30. Dezember 2021, mz@matthiaszehnder.ch

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