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Die grosse Erfindung

Publiziert am 14. Januar 2022 von Matthias Zehnder

In diesem wunderbaren Buch erzählt Silvia Ferrara, wie die Menschen zu ihren Schriften gekommen sind. Es spürt Schriften der Inseln Kreta, Zypern und der Osterinsel nach, die bis heute nicht entziffert sind. Es erzählt, wie die Pharaonen, die Machthaber im Zweistromland, von China und in Übersee Schriften erfunden haben. Es erzählt von Experimenten mit der Schrift, etwa von Hildegard von Bingen oder der Cherokee-Indianer. Und Ferarra überlegt, wie es mit unserer Schrift weitergehen könnte in einem Zeitalter, indem immer mehr Menschen wieder mit Icons statt mit Buchstaben kommunizieren. Eingestreut sind natürlich Bilder der Schriften und der Fundstücke, aber auch viele kleine Beobachtungen und Betrachtungen. Denn paradoxerweise hat Silvia Ferrara das Buch über die Erfindung der Schrift nicht geschrieben, sondern diktiert: «Ich bin dem Strom der Wörter gefolgt, wie im Unterricht mit meinen Studenten, habe zufällig ausgewählte Bruchstücke aus Diskussionen im Seminar verwendet, aus Unterhaltungen beim Abendessen, aus Klatsch mit Freunden, mit Kollegen und geliebten Menschen», schreibt sie. Das Resultat ist faszinierend, ungemein lehrreich und gleichzeitig unterhaltend.

Dieses Buch handelt von der Erfindung der Schrift. Silvia Ferrara bezeichnet sie als die grösste Erfindung der Welt. «Ohne sie wären wir nur Stimme, schwebten wir in ständiger Gegenwart.» Ferrara erzählt in ihrem Buch von dem dringenden Bedürfnis der Menschen, sich beständig zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Schriften und diejenigen, die sie entdeckt und entziffert haben. Es geht auch um den Menschen selbst, sein Gehirn und seine Fähigkeit, zu kommunizieren und mit dem Leben um ihn herum zu interagieren. «Die Schrift ist eine ganze Welt, die es zu entdecken gilt, aber auch eine Brille, durch die wir unsere Welt betrachten: Sprache, Kunst, Biologie, Geometrie, Psychologie, Intuition, Logik.» Bloss: die Erfindung der Schrift gibt es gar nicht: «Diese Erfindung hat sich nicht in einem mechanischen Ablauf vollzogen, mit einer genauen und gezielten Auswahl von Zeichen, um Laute darzustellen, um ein funktionstüchtiges, ökonomisches und vollendetes System zu schaffen», schreibt Ferrara. Es habe sich nie ein Priester «an einem regnerischen oder schwülen Tag» vorgenommen, «allein, konzentriert und planvoll kleine Zeichnungen anzufertigen», um die Keilschrift oder die altchinesische Schrift zu erfinden. «Die Erfindung der Schrift wurde nicht am grünen Tisch beschlossen.

Vielmehr ist die Schrift – insbesondere die aus dem Nichts, von Grund auf neu erschaffene – das Ergebnis einer koordinierten, kumulativen und schrittweisen Entwicklung.» Die Schrift sei «eine Errungenschaft der vielen. Und die haben kommuniziert, Meinungen ausgetauscht, gestritten und sich geeinigt, um zu einem gemeinsamen, vereinbarten und normierten Repertoire aus Zeichen zu gelangen.» Die Schrift ist also eine soziale Erfindung. Zudem wurde die Schrift nicht auf einen Schlag, sondern schrittweise über viele Generationen hinweg erfunden. 

Und das (in historischen Dimensionen gesehen) gleichzeitig an mehreren Orten der Welt. Dabei wurde die Schrift immer wieder neu erfunden, also ohne dass die jeweiligen Völker die Schriften der anderen gekannt hätten. So geschehen in Ägypten, Mesopotamien, China und bei den Mayas in Mexiko. Silvia Ferrara erzählt diese Entwicklungen der Schrift, indem sie Archäologie, Anthropologie und Neurowissenschaft verbindet. Dabei treibt sie eine grosse Leidenschaft an: die Entschlüsselung von Schriften, die bisher niemand lesen kann, darunter etwa die kretischen Hieroglyphen, die Zeichen auf dem Diskos von Phaistos oder die Rongorongo-Schrift von der Osterinsel. Diese Leidenschaft steckt an: Das Buch liest sich stellenweise wie eine Detektivnovelle. Silvia Ferrara spürt also nicht nur dem Wunder der Entstehung der Schrift auf mannigfaltige Art und Weise nach, sie teilt mit uns auch die Entdeckerfreude, die Freude am Rätsel. Es schwingt bei allem ein bisschen Indiana Jones mit. Spannend.

Silvia Ferrara: Die grosse Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften. Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. C.H. Beck, 251 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-406-77540-6

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