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Kafka

Publiziert am 28. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Eine Biografie ist eine Art Autopsie eines Lebens: Der Biograf seziert ein Leben entlang einer Schnittlinie. Rüdiger Safranski konzentriert sich in seinem neuen Buch über Franz Kafka auf das Schreiben und seinen Kampf darum. Kafka selbst schrieb seiner Verlobten Felixe Bauer: «Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.» Auch wenn sich Safranski auf Kafkas Schreiben konzentriert, kommen unweigerlich zwei weitere Themen mit ins Bild: der Kampf um das Schreiben und die Beziehungen zu den Frauen, allen voran Felice Bauer und Dora Diamant. Safranski zeigt, wie sich Kafka im Schreiben erst wirklich lebendig fühlte: «Deshalb auch verteidigte er sein Schreiben gegen alle sonstigen Anforderungen des Lebens.» Das allerdings weckte bei ihm auch Schuldgefühle, die bis zur religiösen Selbstanklage führten. Safranski schreibt: «Kein anderer hat aus seinen Schuldgefühlen so viel gemacht wie Kafka.» Ein Kampf war das Schreiben auch, weil er es gegenüber seinem Vater erkämpfen musste: «Sein Schreiben war der Entwürdigung abgetrotzt.» Entstanden ist ein paradoxes Werk: Es steckt einerseits voller Geheimnisse, besteht aber aus Texten, die in beispielloser Klarheit und Helligkeit geschrieben sind. Safranskis Buch ist eine wunderbare Einführung in Kafkas Werk, weil er sich dabei ganz auf den Kern konzentriert: das Schreiben.

Safranski erzählt das Leben von Kafka chronologisch. Er beginnt aber nicht mit der Geburt, sondern mit den Anfängen im Schreiben und den ersten Veröffentlichungen. Er schildert die Euphorie des Schreibens und das Doppelleben von Kafka. Schon die Wahl des Studiums hat Kafka dem Schreiben untergeordnet. Philosophie und Chemie waren ihm zu aufwendig, Germanistik zu national-chauvinistisch. «Schliesslich blieb er bei Jura hängen, nicht weil ihn dieses Fach besonders anzog, sondern weil er glaubte, es nebenher erledigen zu können und er dadurch nicht beim Schreiben beeinträchtigt würde», schreibt Safranski. «Das Schreiben war es, was ihn wirklich anging, nichts anderes.»

Safranski schildert, wie Kafka Schritt für Schritt sein Schreiben entwickelt. Er schildert das weniger anhand der biographischen Eckdaten, als anhand von Kafkas Werken. Und das heisst: Nicht anhand ihrer Veröffentlichung, sondern als Bericht ihrer Entstehung. Man hat deshalb beim Lesen immer wieder das Gefühl, einen Blick in Kafkas Schreibstube werfen zu können. Der erste wichtige Schritt ist «Das Urteil»: Kafka hatte seine früheren Texte «Betrachtung» oder «Beschreibung» genannt. Safranski schreibt: «Mit dem ‹Urteil› aber glaubt er eine neue Dimension des Schreibens erreicht zu haben.» Erst mit dem «Urteil» sei es, wie Kafka selber sagt, zu jener vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele gekommen, durch die erst jene eigentümliche Zweifellosigkeit der Geschichte gelingen konnte.

Wichtig ist dabei: Das Schreiben ist für Kafka mehr und anderes als nur Selbstbeobachtung. Es geht ihm nicht um Introspektion oder gar Selbstbespiegelung: «Das Schreiben, so wie es Kafka anstrebt, ist nicht Beobachtung der Seele, sondern Seele in Aktion», schreibt Safranski. Kafka selber schreibt, der Beobachter der Seele könne nicht in die Seele eindringen. Kafka muss beim Schreiben deshalb die Seite wechseln, von der Beobachtung zum inneren Handeln. Dann gelingt ihm das Schreiben. Dieses «wahrhafte» Schreiben ist für Kafka nicht Lebens-Betrachtung, das Schreiben ist das Leben. Er wirft sich in eine Erzählung wie in ein Abenteuer und staunt darüber, wie sich die Geschichte vor ihm entwickelt. «Ein untrügliches Anzeichen dafür ist, wenn in einem Zug geschrieben wird. Das ist für Kafka der gelungene Schreibakt», sagt Safranski. «Korrigiert wird nur sofort, im unmittelbaren Schreibfluss.» Spätere Korrekturarbeiten an den Manuskripten finden sich bei deshalb Kafka kaum. «Die Romane brechen ab, wenn der Schreibfluss nicht mehr weiterträgt. Der Schreibfluss bahnt sich seinen eigenen Weg. Es gibt bei Kafka kein Konzept, keine Gliederung, kein Exposé.»

Es ist ein eruptives, impulsives und exzessives Schreiben. In diesen Momenten fühlt Kafka sich am lebendigsten. Er gibt sich ganz dem unvorhersehbaren und auch unkontrollierbaren Schreibprozess hin, lässt sich treiben in die labyrinthischen Welten der Kanzleien und Dachstuben im «Process» oder in die ausufernden Geschichten, Abzweigungen und Umleitungen bei der unendlichen Annäherung ans «Schloss». Er wirft sich in die Vorstellung, ein «ungeheures Ungeziefer» zu sein wie in der «Verwandlung». Schreiben als Fallen – «eine Ankunft, eine Lösung, eine Erlösung ist nicht vorgesehen», schreibt Safranski.

Am «Urteil» arbeitet Kafka mit Unterbrechungen drei Wochen lang. Felice schreibt er, die Unterbrechungen hätten dem Text geschadet. Er erläutert ihr, wie es ihm beim Schreiben ergeht. Nur wenn er sich mit wenigen Unterbrechungen ganz einer Geschichte überlässt, liefert er sich ihrer Unberechenbarkeit aus, und genau dies ermöglicht die schöpferische Lust.

Es ist eindrücklich, mit welcher Kompromisslosigkeit Kafka das Schrieben ins Zentrum seines Leben rückte. Seine sozialen Beziehungen, insbesondere die Frauen, kamen immer erst an zweiter Stelle. Insbesondere Felice Bauer und Milena Pollack hatten darunter zu leiden. Erst kurz vor seinem Tod fand Kafka mit Dora Diamant eine Frau, mit der er auf Augenhöhe verkehren konnte. Safranskis Schreib-Biographie über Kafka eröffnet einen neuen und spannenden Zugang zum Leben und vor allem zum Werk von Kafka.

Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser, 256 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-446-27972-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279728

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