Wer bin ich und wie werde ich besser darin?

Publiziert am 31. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

«Ich bin nicht Stiller.» Mit diesem Satz hat uns Max Frisch einen der stärksten Romananfänge beschert. Zugleich hat er eine Losung ausgegeben: Ich lasse mir von der Gesellschaft nicht vorschreiben, wer ich bin. Als der Roman 1954 erschien, stand Stiller für eine radikale Wende. Die Erfahrung der totalitären Gesellschaft in Nazideutschland und im faschistischen Italien und Spanien steckte den Menschen noch in den Gliedern. Es stellte sich die Frage: Wie kann ein Mensch in einer solchen Gesellschaft er selbst sein? Für Max Frisch und seine Zeitgenossen war klar: Die kollektiven Identitätsentwürfe hatten versagt. Nation, Klasse und Religion taugten nicht mehr als Kompass. In dieses Vakuum stösst Jean-Paul Sartre vor mit einem Satz wie ein Trompetenstoss: «L’homme n’est rien d’autre que ce qu’il se fait.» – «Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht.» Sartre macht das Individuum zum Schöpfer seiner selbst. Er trägt die Verantwortung, sich selbst zu wählen. Genau das tut Stiller, stösst dabei aber auf den Widerstand der Gesellschaft um ihn herum, die ihr Bild von ihm nicht ändern will. Heute, siebzig Jahre nach Stiller, hat sich die Frage verschoben. Nicht mehr die Selbstwahl steht im Zentrum, sondern die Selbstoptimierung. Die Aufforderung lautet nicht mehr: «Werde, was du bist!», sondern: «Werde besser, in dem, was du tust!» Doch wie sollen wir uns optimieren, wenn wir nicht wissen, wer wir sind?

Als ich 16 oder 17 war, war der «Stiller» mein Roman. Max Frisch lässt Anatol Stiller im Gefängnis in sein Tagebuch schreiben: «Ich bin nicht ihr Stiller. Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle.» (Seite 62) Wir wollten damals auch nicht in eine Rolle flüchten und so sein, wie es unsere Eltern und Lehrer von uns erwarteten. Wir lasen Sartre, trugen schwarze Kleider und die Haare lang. Und stiessen auf ein Problem: Wenn wir keine Rolle spielen wollten– wer sollten wir sein? Wer bin ich?

 

«Erkenne Dich selbst!» steht als Aufforderung am Anfang der Philosophie. So lautete die Inschrift am Apollotempel von Delphi. Für Platon hat diese Aufforderung nichts mit psychologischer Selbstbetrachtung zu tun. Für ihn ist das Selbst, das der Mensch erkennen soll, keine erträumte Identität. Platon lässt Sokrates im Dialog mit Alkibiades sagen, wenn jemand sich selbst erkennen wolle, so müsse er in seine Seele blicken und das Gute suchen. Für Platon ist das Selbst die Seele des Menschen und sein Ziel ist das Gute. Das Selbst ist also nicht etwas, das ich habe, sondern es ist eine Aufgabe, die ich erfüllen soll.

Die griechische Philosophie fordert die Menschen dazu auf, das «gute Leben» zu suchen. Aristoteles beschreibt das in der Nikomachischen Ethik als Eudaimonia, als Resultat von Übung und als Ausdruck von Tugend. Für ihn heisst Selbstverwirklichung also, durch Mass und Übung ein guter Mensch zu sein. Seneca und andere Stoiker greifen diesen Gedanken später auf. Sie machen die stoische «Selbstprüfung» zur täglichen Übung. Dabei geht es nicht, wie das Wort Prüfung vermuten lassen könnte, um eine Leistung, es geht im Gegenteil um seelische Ruhe. Seneca sagt: Der Weise ist sich selbst genug.

Descartes: Der grosse Bruch

Mit René Descartes kommt es im 17. Jahrhundert zum grossen Bruch in der Philosophie. Er zweifelt zunächst an allem. Er bezweifelt sogar die Existenz der Aussenwelt und die der eigenen Erfahrungen. Bei allem Zweifel bleibt Descartes aber eine einzige Gewissheit: dass ich es bin, der zweifelt. Das führt ihn 1637 zum bahnbrechenden Gedanken, dass mein Denken meine Existenz beweist. Descartes folgert daraus: «Cogito ergo sum» – «Ich denke, also bin ich.» Descartes macht damit die Selbstgewissheit des denkenden Ichs zur Grundlage der Philosophie und setzt das Ich, das denkt, ins Zentrum.

Mit seinem berühmten Satz «Ich denke, also bin ich.» stellt  Descartes eine Art Gleichung auf: Er sagt: denken ist gleich sein. Er sagt aber nicht, wer dieses Ich ist, das da denkt. Das Ich steht unangetastet auf beiden Seiten seiner Gleichung. Um dieses Ich kümmert sich über hundert Jahre später sein Landsmann Jean-Jacques Rousseau. 1782 schreibt Rousseau, der Mensch sei von Natur aus gut. Es sei die Gesellschaft, die den Menschen verderbe. Rousseau argumentiert, dass insbesondere der Besitz von Eigentum zu Ungleichheit, Misstrauen und Konflikten führt. Rousseau schreibt: «Ich will meinen Mitmenschen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch bin ich selbst.»  Damit führt Rousseau ein neues Ideal ein: das Ideal der Authentizität. Wahrhaftigkeit wird zur neuen Devise. «Sei, was Du bist», zur moralischen Forderung.

Nietzsche: Der Mensch erschafft sich selbst

Für Jean-Jacques Rousseau meint «Sei, was Du bist»: Kehre zurück zu Deinen Wurzeln, erkenne Deine Natur. Weitere hundert Jahre später gibt Friedrich Nietzsche diesem Satz eine ganz neue Bedeutung. «Werde, der du bist!», schreibt Nietzsche 1883 in «Also sprach Zarathustra». Er meint damit aber nicht, dass sich der Mensch finden soll, sondern dass er sich schaffen soll. Das Selbst ist nicht mehr der Kern in mir, den es zu finden gilt. Das Selbst wird zum Projekt, zum Resultat eines Prozesses der Selbstgestaltung. Das Resultat ist der Übermensch, der sein Leben wie ein Kunstwerk gestaltet, indem er seine eigenen Massstäbe setzt und sich durch Disziplin und Selbstbeherrschung auszeichnet.

Nietzsche legt damit auch den Grundstein für die moderne Selbstoptimierung: Jeder Mensch ist sein eigenes Projekt. Er schafft sich sein Ich und optimiert es durch Disziplin und Selbstbeherrschung. Nietzsche dachte sich den Übermenschen als ein individuelles Ideal, das jeder Mensch durch Selbstüberwindung erreichen kann. Später verzerrten die Nationalsozialisten den Übermenschen zum Herrenmenschen und deuteten ihn als Angehörigen einer biologisch überlegenen Rasse. Bei Nietzsche ist der Übermensch ein radikaler Individualist, der sich selber formt und sich gegen die Masse stellt. Die Nazis setzten den Kollektivismus dagegen und verlangten die totale Unterordnung unter Volk und Führer.

Sartre: Der Mensch ist, was er tut

Deshalb kommt es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem erneuten Bruch. Sartre greift die Idee des Menschen als Schöpfer seines Selbst. Wie Nietzsche betont Sartre die Freiheit des Menschen und folgert daraus, dass der Mensch voll und ganz für sein Tun verantwortlich ist. Für Sartre gibt es aber keine Natur des Menschen. Der Mensch definiert sich durch seine Handlungen. Durch jede Entscheidung erschafft er nicht nur sich selbst, sondern entwirft auch ein Bild des Menschen.

Ein schöner Gedanke: Ich erschaffe mich selbst und werde, was ich sein will. In den 1950er-Jahren nimmt die Idee von Jean-Paul Sartre vom sich selbst erschaffenen Menschen aber eine Wendung, mit der wir heute noch zu kämpfen haben. Die Humanistische Psychologie greift die Idee der Selbstwahl auf und macht daraus das Konzept der Potenzialentfaltung. Abraham Maslow und Carl Rogers verwandeln die Selbstwahl also in ein Entwicklungsprogramm: Der Mensch soll sein «Potenzial entfalten».

Der Mensch als Unternehmer seiner selbst

Das 19. und 20. Jahrhundert waren von Institutionen und grossen Unternehmen geprägt. Michel Foucault sprach deshalb von der «Disziplinargesellschaft», die von Verboten und Geboten geprägt war. Wer erfolgreich sein wollte, musste sich in Gehorsam üben. In «The Wall» zeichnet Pink Floyd den Abgesang auf diese Welt. An die Stelle des gehorsamen Menschen tritt jetzt das unternehmerische, sich selbst optimierende «Leistungssubjekt».

Aus der Freiheit, sich selbst zu wählen, wird die Pflicht, sich zu entwickeln, sich zu verwirklichen und sich dabei ständig zu verbessern. Aus Selbstverwirklichung wird Selbstoptimierung. Jean-François Lyotard kritisiert, dass nicht mehr die Wahrheit im Zentrum steht, sondern die Leistung – der Output. Was bei Sartre eine moralische Verpflichtung zur Freiheit war, wird im 21. Jahrhundert zum Optimierungsprogramm. Der Mensch wird zum Unternehmer, der die Freiheit als sein Kapital benutzt und sein Selbst als ökonomisches Projekt betrachtet. Dafür braucht es keine Philosophie, sondern Skills wie Projektmanagement.

Das Projekt Arnold Schwarzenegger

Arnold Schwarzenegger ist der Prototyp des Menschen, der aus sich selbst ein Unternehmen macht. Und das nicht nur einmal, sondern gleich dreimal. In den 1970er Jahren stieg er zum erfolgreichsten Bodybuilder der Welt auf. Er gewann mehrfach die wichtigsten Titel und wurde spätestens mit dem Dokumentarfilm «Pumping Iron» zur Legende in der Fitnesswelt. In den 1980er Jahren wechselte er in die Filmwelt. Mit «Conan der Barbar» (1982) erzielte er den Durchbruch, mit dem «Terminator» (1984) wurde er zur Legende des Actionhelds. Zu Beginn der 2000er Jahre folgte das dritte Selbst-Projekt: Schwarzenegger stieg in die Politik ein und wurde zum «Governator». 2003 wählten die Kalifornier ihn zum Gouverneur.

Bei Arnold Schwarzenegger hatte die Selbstoptimierung auch als Filmstar und Politiker immer etwas handfestes: Sein Motto war «no pain, no gain». Er schwitzte sich zum Erfolg. Das wirkt im Jahr 2025 fast schon naiv. Heute steckt hinter jedem erfolgreichen Mann ein ausgetüftelter Algorithmus. So, wie vor hundert Jahren in Charlie Chaplins Film «Modern Times» die Maschine den kleinen Tramp verschluckt,  werden wir heute alle von den Computerprogrammen verschluckt.

Von der Selbstoptimierung zum Selbstverlust

Dave Eggers hat diese Entwicklung in seinen Romanen «The Circle» und «Every» literarisch verarbeitet. Mae Holland, die Hauptfigur von «The Circle», steigt in der Firma auf, weil sie sich bedingungslos der Doktrin der totalen Transparenz unterwirft. In der Fortsetzung «Every» ist Mae Holland CEO der Firma. Als erste vollkommen transparente Mitarbeiterin streamt sie ihr ganzes Leben und ist dem Unternehmen gegenüber vollkommen loyal. Sie hat zwar keine Ideen, weiss aber, wie sie sich durchsetzt. Eggers zeigt in seinen Romanen, wie die Selbstoptimierung in einer Gesellschaft, die von Algorithmen regiert wird, zum Selbstverlust führt.

Für die Leistungsgesellschaft ist die Welt voller Möglichkeiten. Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen. Alles ist möglich, «yes, we can» die Devise. Doch der Zwang zur ständigen Selbstoptimierung führt mit der Zeit zur Selbstausbeutung. Widerstand ist zwecklos, weil Ausbeutende und Ausgebeutete identisch sind. Die Symptome davon sind Depressionen, Burnout und ADHS. 2010 veröffentlicht Byung-Chul Han die «Müdigkeitsgesellschaft». Er schreibt, die westliche Gesellschaft habe sich von einer Leistungs- in eine Erschöpfungsgesellschaft verwandelt. Er sagt, die ständige Hyperaktivität, das Onlineleben, verhindern echtes Denken und wahre Erholung.

Die Reise zu sich selbst

«Ich bin nicht Stiller.» Der Satz steht heute noch schräger in der Landschaft als 1954. Und doch ist die Selbstwahl, die Selbsterkundung wieder ein grosses Anliegen. Das zeigt auch die Verfilmung von «Stiller», die gerade in den Kinos angelaufen ist. Eine moderne, literarische Aufarbeitung der Suche nach der eigenen Identität ist für mich «Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean. Als er nach dem Tod seiner Mutter ein Fotoalbum mit vergilbten Fotos aus seinen ersten Lebensjahren auf Trinidad findet, über die seine Mutter immer geschwiegen hat, macht er sich auf die Suche nach seinem Vater und seinen Wurzeln.

Seine Erzählung macht uns klar: Wir alle stammen aus einem Land, das wir nicht kennen. Einem Land in der Vergangenheit, das uns nur über vergilbte Fotos und zurecht gebogene Geschichten zugänglich ist. Wir alle gehen den schönfärberischen Erzählungen (und dem Schweigen) unserer Eltern auf den Leim. Wer wissen will, wer er ist und woher er kommt, muss seine eigene Reise antreten und sich eine Geschichte geben.

Vielleicht geht es am Ende doch vor allem um das Eine: «gnōthi seautón» – «Erkenne dich selbst». Die Inschrift ist im fünften Jahrhundert vor Christus, also vor 2500 Jahren, am Apollotempel in Delphi angebracht worden. Daneben stand: «Mēdén ágan» – «Nichts im Übermass». Diese Aufforderung gilt, vermutlich, auch für die Beschäftigung mit sich selbst.

Basel, 31.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Bodybuilder in der Pose von Auguste Rodins «Le Penseur».. (PL.TH – stock.adobe.com)

Dean, Martin R. (2024): Tabak und Schokolade: Roman, Zürich 2024.

Descartes, René; Ostwald, Holger (2019): Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences: Französisch/Deutsch = Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen, 2., bibliographisch ergänzte Ausgabe [2019, Nachdruck] 2023, Ditzingen 2019 Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18100.

Eggers, Dave (2014): The Circle, London 2014.

Eggers, Dave (2021): The every: or at last a sens of order or the final days of free will or imitless choice is killing the world, First Vintage Books edition, New York 2021.

Foucault, Michel (2024): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, 20. Auflage, Frankfurt am Main 2024 Suhrkamp-Taschenbuch 2271.

Frisch, Max (2025): Stiller: Roman | Buchvorlage zum gleichnamigen Kinofilm von Stefan Haupt. Mit Albrecht Schuch und Paula Beer in den Hauptrollen, 1. Auflage, Berlin 2025.

Hahmann, Andree (2022): Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“: ein systematischer Kommentar, Ditzingen 2022 Reclams Universal-Bibliothek 14301.

Han, Byung-Chul (2015): The burnout society, übers. v. Erik Butler, Stanford, California 2015.

Han, Byung-Chul (2024): Müdigkeitsgesellschaft, Vierzehnte Auflage, Berlin 2024.

Maslow, Abraham H. (2006): Motivation and personality, 3. ed., [Nachdr.], New York 2006.

Nietzsche, Friedrich; Simon, Josef (2014): Also sprach Zarathustra: ein Buch für alle und keinen, Nachdr., Stuttgart 2014 Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7111.

Platon; Döring, Klaus (2016): Erster Alkibiades, Göttingen 2016 Platon Werke 4 1.

Rogers, Carl R. (1961): On becoming a person: a therapist’s view of psychotherapy, 9. print, Boston 1961 Sentry edition 60.

Rousseau, Jean-Jacques; Lignereux, Cécile Les confessions. Livres I à IV, Paris.

Sartre, Jean-Paul (2009): L’ existentialisme est un humanisme, Paris 2009 Collection Folio Essais 284.

Seneca, Lucius Annaeus (2024): Vom glücklichen Leben, übers. v. Fritz-Heiner Mutschler, 5. Auflage, Ditzingen 2024 Reclams Universal-Bibliothek Was bedeutet das alles? Nr. 19596.

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