Die Grenzen der Schweiz – an Stelle einer Erst-August-Ansprache

Publiziert am 31. Juli 2020 von Matthias Zehnder

Nur an den wenigsten Orten finden dieses Jahr Erst-August-Feiern statt – und wenn, dann im kleinen Kreis: Die Pandemie macht Menschenansammlungen zu gefährlichen Veranstaltungen. Auch am Nationalfeiertag. Anders als in den letzten Jahren halte ich 2020 entsprechend keine Erst-August-Ansprache. Ich habe meine Gedanken zur Situation der Schweiz deshalb aufgeschrieben und teile sie mit Ihnen in Form eines Wochenkommentars. Denn 2020 hat die Schweiz ihre Grenzen erlebt – wörtlich und im übertragenen Sinn. Gerade am ersten August sollte uns das zu denken geben.

Das Virus zeigt den Mächtigen der Welt gerade den Meister. Saudiarabien hat die Wallfahrt nach Mekka, den Hadsch, wegen Corona praktisch abgesagt. Teilnehmen dürfen nur 1000 Gläubige – zugelassen sind nur Saudis.[1] Donald Trump wollte zum Schluss des Wahlkampfs noch einmal ganz gross auftrumpfen. Jetzt muss auch der amerikanische Präsident vor dem Virus klein beigeben: Er hat den Nominierungswahltag der Republikaner in Florida abgesagt.[2] Er ist in guter Gesellschaft: Wladimir Putin, Xi Jinping, Recep Tayyip Erdoğan – alle müssen sie einsehen, dass sie über das Virus keine Macht haben. Selbst der Papst feierte 2020 die Ostermesse in einer leeren Kirche.

Natürlich hat das Virus auch der Schweiz ihre Grenzen aufgezeigt – wörtlich und im übertragenen Sinn. Gerade am Ersten August lohnt es sich, diese Grenzen etwas genauer zu betrachten. Was passiert ist, sagt viel aus über die Schweiz und ihr Selbstverständnis.

Die Schweiz hat 2020 ihre Grenzen erlebt.

Viele Schweizerinnen und Schweizer haben 2020 zum ersten Mal in ihrem Leben geschlossene Grenzen erlebt. In Basel fühlte sich das an, als wären Teile der Stadt amputiert worden. Grenzgänger erreichten ihren Arbeitsplatz nur mit grosser Mühe. Einkaufen in Deutschland und Frankreich war verboten. Liebespaare wurden getrennt. In der ganzen Schweiz wurden sehr rasch einzelne Güter knapp.

Wenn die Grenzen geschlossen sind, ist die Schweiz plötzlich ganz schön klein. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Grenzen über längere Zeit geschlossen wären. Ohne Rohstoffe, Lebensmittel und Medikamente aus dem Ausland ist die Schweiz nicht lange überlebensfähig. Die Schweiz ist keine selbstgenügsame Insel, sondern Teil einer vernetzten Welt.

Die Grenzschliessungen waren möglich, obwohl in der EU die einzelnen Staaten angeblich ihre Souveränität einbüssen. Viele EU-Staaten handelten sogar schneller und entschiedener als die Schweiz. Man kann also ein Teil eines grösseren Ganzen sein und trotzdem über das eigene Land und die eigenen Grenzen verfügen. Die Propaganda der SVP, die das Gegenteil behauptet, hat sich 2020 als leere Behauptung erweisen.

Auch im übertragenen Sinn hat die Schweiz 2020 ihre Grenzen erlebt. Als es darauf ankam, musste die Schweiz jene beiden Prinzipien über Bord werfen, die sie sonst hoch und heilig hält: den Föderalismus und das Mitspracherecht von Volk und Parlament. Im Alltag hat die Schweiz eine schwache Regierung. Nicht weil die Frauen und Männer im Bundesrat schwach wären, sondern weil Verfassung und Gesetze ihnen über das Verwalten ihrer Departemente hinaus nur wenig Befugnisse geben. Die Macht in der Schweiz hat das Volk. Natürlich nicht wörtlich: Die Macht liegt beim Parlament und bei Interessenvertretern, Parteien und Lobbygruppen. Darauf ist die Schweiz stolz. Sie präsentiert sich gerne als Vorzeigedemokratie, die Mitsprache auf allen Ebenen ermöglicht. Dazu kommt ein Föderalismus, der zuweilen zum Kantönligeist verkommt. In der Schweiz ist und bleibt vieles von Kanton zu Kanton verschieden.

Bis das Virus kam. Am 16. März erklärte der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» nach Epidemiengesetz und stellte die Schweiz damit auf den Kopf. Die ausserordentliche Lage erlaubt es dem Bundesrat, in allen Kantonen einheitliche Massnahmen anzuordnen. Föderalismus, Mitsprache und Basisdemokratie wurden damit ausser Kraft gesetzt.

Das war auch nötig. Wenn der Bundesrat die Massnahmen eine Woche später entschieden hätte, wären auch in der Schweiz die Spitäler überlastet gewesen und Covid-19 hätte 6000 Opfer mehr gefordert. Das zeigt eine Modellrechnung der Universität Bern.[3] Die Studie zeigte auch: Hätte der Bundesrat eine Woche früher entschieden, hätte er damit 1600 Leben gerettet. Ich weiss nicht, wie präzise diese Zahlen sind. In der Tendenz zeigen sie: Der Entscheid des Bundesrats war nötig – und keineswegs zu früh.

Die Schweiz hat die Covid-19-Krise bisher also nur so gut überstanden, weil sie in der Not ihre Grundprinzipien über Bord geworfen hat. Die direkte Demokratie der Schweiz mit Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip erweist sich damit als Schönwetterprogramm, das sich ein Land dann leisten kann, wenn alles ruhig ist und es den Menschen gut geht. In der Krise sind die umständlichen, demokratischen Prozesse viel zu langsam.

Das heisst nicht, dass die direkte Demokratie schlecht wäre. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass wir uns dieses Modell leisten können, weil und wenn es uns gut geht. Und das bedeutet: Hochnäsigkeit gegenüber anderen Ländern ist fehl am Platz. Seien wir dankbar dafür, dass es uns (meistens) so gut geht, dass wir uns Föderalismus und komplizierte Partizipationsprozesse leisten können.

Die Erkenntnis

Es ist deshalb Zeit, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, die Schweiz sei ein Sonderfall. Die Schweiz hat ihre Eigenheiten – wie jedes Land. Spanien hat einen König, Frankreich einen königlichen Präsidenten und in Italien regiert die 66. Nachkriegsregierung. Jedes Land ist sein eigener Sonderfall, jedes Land hat seine Besonderheiten. In diesem Sinn ist natürlich auch die Schweiz etwas besonderes, eigenes. Aber ein Sonderfall ist die Schweiz nicht.

Auch eine Insel ist die Schweiz nicht, schon gar keine Insel der Seeligen. Das Virus kennt keine Grenzen, auch keine Landesgrenzen. International liegt die Schweiz bezüglich Coronazahlen irgendwo im Mittelfeld. Auch in Sachen Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung oder Artensterben spielen Landesgrenzen keine Rolle. Wir müssen deshalb aufhören, die Schweiz als Igel in Europa zu begreifen. Die Schweiz ist ein (kleiner) Teil eines (grossen) Ganzen.

Und zwar ein extrem vernetzter, kleiner Teil: Die Schweiz ist das am stärksten globalisierte Land der Welt. Die Schweiz führt den KOF Globalisierungsindex der ETH Zürich an.[4] Es gibt also kein Land auf der Welt, das so sehr durch Handel und Austausch von Informationen mit anderen Ländern vernetzt und verbunden ist. Die negativen Folgen dieser Globalisierung haben wir in der Coronakrise erlebt, als plötzlich Medikamente und Schutzmaterial nicht mehr verfügbar war, weil chinesische Produzenten nicht mehr liefern konnten. Die positiven Seiten erleben wir jeden Tag im Supermarkt, bei der Arbeit, im Fitness und zu Hause. Die Krise hat uns allen deutlich vor Augen geführt, dass wir in der Schweiz ohne Anschluss an die Welt nicht leben können.

Drei Folgerungen

1) Mehr Bescheidenheit: Gerade am Ersten August, wenn landauf und landab Mannen und Frauen die Schweiz loben und preisen, ist es Zeit für etwas mehr Bescheidenheit. Ja, die Schweiz ist ein schönes Land. Ja, die direkte Demokratie ist für die vielgestaltige Schweiz die passende Staatsform. Nein, das macht uns nicht besser als die anderen, wir sind weder Sonderfall noch Insel, sondern vernetzt und verbunden mit unseren umliegenden Ländern, mit Europa, mit der Welt.

2) Mehr Regionalität: Die Covid-19-Krise hat uns die negativen Seiten der Globalisierung vor Augen geführt. Es ist deshalb gut, wenn wir wieder mehr regional konsumieren und die Regionalität stärken. Regional heisst aber nicht national. Die Region Basel umfasst Gebiete in drei Ländern. Die Landesgrenze verläuft mitten durch die Region. Sie zu schliessen macht wenig Sinn. Dasselbe gilt für Genf und Schaffhausen, vielleicht auch für Zürich und Lausanne. Regional denken heisst, im Elsass, im Badischen und in Basel einkaufen und ausgehen. Heisst, dass die Basler Spitäler, wie geschehen, Covid-19-Patienten aus dem Elsass übernehmen – und dass Frankreich die elsässischen Pflegefachleute weiterhin in Basel arbeiten lässt.

3) Mehr Bundesstaat: Am ersten August feiern wir die Schweiz. Im Alltag und ausserhalb der Krise haben die Kantone aber oft deutlich mehr zu sagen als der Bund. 2020 ist es an der Zeit, den Kantönligeist abzuschaffen, dem Föderalismus da Grenzen zu setzen, wo er hinderlich wird. Die Nordwestschweizer Kantone haben gemeinsam die Coronaregeln für Clubs verschärft. Gut so. Kantonale Einzellösungen sind schlicht nicht sinnvoll. 2020 ist es Zeit, die 26 Einzelgänger stärker einzubinden, den Bund (und damit die Schweiz) zu stärken, zum Beispiel durch eine bessere und zentral gesteuerte Digitalisierung von BAG und Gesundheitswesen. Am ersten August feiern wir die Schweiz, vielen Schweizerinnen und Schweizern kann der Bund aber nicht schwach genug sein. 2020 ist es Zeit, das zu ändern und die Schweiz zu stärken.

Jetzt wünsche ich Ihnen einen schönen Ersten August – mit oder ohne Feuerwerk.

Basel, 31. Juli 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken. Wenn Sie am abonnieren sind, abonnieren Sie doch auch meinen Youtube-Kanal. Und wenn Sie den Wochenkommentar unterstützen möchten, finden Sie hier ein Formular, über das Sie spenden können.

PPS: Hier gibt es den Wochenkommentar in einer etwas kürzeren Videoversion:


Quellen

Bild: ©www.11events.ch – stock.adobe.com

[1] SRF, 28. Juli 2020: «Eine Entislamisierung der politischen Macht», https://www.srf.ch/news/international/pilgerfahrt-ist-abgesagt-eine-entislamisierung-der-politischen-macht

[2] «Die Zeit», 24. Juli 2020: «Donald Trump sagt Parteitag der Republikaner ab», https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/usa-donald-trump-absage-parteitag-coronavirus-nominierung

[3] «Basler Zeitung», 26. Juli 2020: «Lockdown eine Woche später hätte über 6000 Opfer mehr gefordert», https://www.bazonline.ch/lockdown-eine-woche-spaeter-haette-ueber-6000-opfer-mehr-gefordert-886055778544

[4] Vgl. Gygli, Savina, Florian Haelg, Niklas Potrafke and Jan-​Egbert Sturm (2019): The KOF Globalisation Index – Revisited, Review of International Organizations, 14(3), 543-​574; https://link.springer.com/article/10.1007/s11558-019-09344-2

4 Kommentare zu "Die Grenzen der Schweiz – an Stelle einer Erst-August-Ansprache"

  1. Seien wir froh, gibt es die starke kantonale Souveränität. Sie bewahrt uns vor Zentralismus, vor grossen Gebilden und Behördenwesen, sie schützt uns vor Willkür, wo Entscheide weitab der Menschen gefällt werden. (z.B. in Frankreich, aber auch in grösseren Machtkraken wie der EU, wo Kommissäre, welche nie vom Volk gewählt wurden, über Sein und Nichtsein ganzer Landstriche entscheiden). Ist unsere kantonale Souveränität auch manchmal beschwerlich, missen möchten wir sie alle nicht, spätestens wenn wir sie nicht mehr hätten.
    Und Ja – die Schweiz ist ein Sonderfall. Im Positiven. Schon immer. Ohne Bodenschätze reich durch Fleiss und Schulung, Wissen und beharrlich den (eigenen) Weg gehend. Wir wollen nicht gleich lange Spiesse wie Europa, wir wollen längere…….
    Wir wollen nicht eine („gute“) EU-Flat-Tax-Besteuerung, wir wollen eine Bessere……..
    Wir brauchten keine EU-Corona-Ausgehverbote mit Bussgeld, wir kamen mit Selbstverantwortung und Disziplin besser und angenehmer durch die Pandemie-Welle (die Elsässer und Badenser wünschten sich zu uns)……..
    Und und und.
    Anders zu sein als die immergleiche Einheitsbrei-Masse ist nichts verwerfliches, so kommen wir, dies zeigen die Zeichen der Zeit und unser aller Vergangenheit gerade jetzt wieder klar an, gut durch diese turbulenten Tage.
    Quasi als Gegenrede, als Alternativkost zur oben aufgetischten 1.August-Rede von Herrn M. Zehnder hier der Link zur 1. August-Ansprache von unserem Berner NR Albert Rösti, welche er zwar schon 2018 vor begeisterter Zuhörerschaft hielt, welche aber nichts desto trotz von ihrer Aktualität bis heute einbüsste.
    https://www.svp.ch/wp-content/uploads/2018-erstaugust-roesti.pdf
    Ich hoffe mit meinem Beitrag ein wenig zur Ausgewogenheit in Sachen „1.-August-Reden-Auswahl“ beigetragen zu haben und wünsche einen schönen Nationalfeiertag.

  2. Die Grenzen der Schweiz sind die Grenzen der Welt. Frei nach der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross sehe ich in existenziellen Krisen grundsätzlich folgende fünf mögliche Verhaltensweisen: Krisen verleugnen und verdrängen, wütend und zornig werden, kämpfen und verhandeln, depressiv abtauchen und stagnieren, Krisen akzeptieren und bestmöglich agieren. Weder in Auto- noch in Demokratien kann ich erkennen, dass Mehrheiten die Situation akzeptieren und das Richtige tun. So auch in der Schweiz nicht. Auf Kosten von anderen auf dieser Erde und auf Kosten unserer aller Umwelt kann es keine Zukunft geben. Wenn möglichst alle möglichst heil durch die Krisen kommen sollen, die auf den Schwellen zittern, braucht es ein ganz anderes Gesell- und Wirtschaften.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.