Digitalkompetenz statt Zensur

Publiziert am 24. Juli 2020 von Matthias Zehnder

Diese Woche hat Facebook zum ersten Mal Donald Trump widersprochen und einen irreführenden Beitrag des US-Präsidenten mit einer Warnung versehen. Es mag die Öffentlichkeit beruhigen, wenn auch Facebook künftig Desinformation und Hassbotschaften kennzeichnet – möglicherweise ist das aber kontraproduktiv. Es heisst nämlich nicht, dass alle Inhalte, die nicht gekennzeichnet sind, wahr und harmlos sind. Es entlässt uns Nutzerinnen und Nutzer nicht aus der Verantwortung, die Informationen selbst zu prüfen. Statt in Online-Zensurmaschinen sollten wir deshalb mehr in die Bildung und in die Medien- und Digitalkompetenz der Menschen investieren. Wir müssen selbst die Verantwortung für unseren Internetkonsum übernehmen.

Lange haben Mark Zuckerberg und sein Facebook sich dagegen gesträubt, Falschbehauptungen auf Facebook zu kennzeichnen. Wegen dieses zögerlichen Umgangs mit Desinformation ist Facebook immer wieder kritisiert worden. Diese Woche hat Facebook nun zum ersten Mal einen Beitrag von US-Präsident Donald Trump mit einem Warnhinweis versehen.[1] Inhaltlich ging es bei dem Beitrag um die Briefwahl.

Donald Trump behauptet immer wieder, die Briefwahl in den USA fördere den Wahlbetrug und sei deshalb nicht sicher. Schon im Juni schrieb er auf Twitter, dass «Millionen von Briefwahlzetteln von fremden Ländern gedruckt» würden. Er spricht deshalb immer wieder von «rigged election 2020», von der gefälschten Wahl 2020. Das ist nachweislich falsch: Die Briefwahl ist in den USA längst üblich und sie ist nicht weniger sicher als die Wahl in der Kabine. Weil die Briefwahl vor allem in den grossen Städten praktiziert wird und diese Städte vor allem demokratisch wählen, legt sich Trump derzeit mit der Briefwahl an und sät Unsicherheit und Angst.

Druck durch die Aktion #StopHateforProfit

Ob die Amerikaner ihren Präsidenten per Briefwahl oder klassisch in einer Wahlkabine wählen, kann uns Schweizerinnen und Schweizern eigentlich egal sein. Wir können uns allenfalls über die Aufregung wundern, welche die Wahl per Brief in den USA verursacht. Schliesslich stimmen die meisten Schweizer Stimmbürger alle drei Monate per Brief ab und wir wählen per Brief unsere Parlamente und Regierungen. Was uns nicht egal sein kann, ist die Art und Weise, wie Facebook und Twitter (und andere Plattformen und Medien) mit Falschinformationen umgehen. Warum also reagiert Facebook plötzlich und quittiert die Falschinformation von Donald Trump mit einem Link auf USA.gov, einem offiziellen Informationsangebot der US-Regierung?[2]

Ein Grund dafür könnte sein, dass der Druck, etwas gegen Hass und Falschinformation zu unternehmen, selbst für Facebook zu gross geworden ist. Immer mehr Firmen haben sich dazu entschlossen, keine Werbung mehr auf Facebook zu schalten, bis der Konzern konkrete Schritte gegen Hassbotschaften unternimmt. #StopHateforProfit heisst die Kampagne – also etwa: stoppt den gewinnbringenden Hass. Mittlerweile haben sich über 1100 Firmen dem Werbeboykott angeschlossen, darunter Konzerne wie Bayer, Merck und Roche, Beiersdorf (Nivea), Coca Cola und Pepsi, Dockers und Levis, Tomtom und SAP, Unilever und Starbucks, Ford, Honda und VW.[3] Zu Beginn lächelte Facebook-Chef Mark Zuckerberg den Boykott weg – mittlerweile scheint er ihn ernster zu nehmen. Ist das die Wende? Macht das (endlich) die sozialen Netzwerke gut?

Der Algorithmus ist das Problem

Sicher: Jeder Einsatz gegen Hassbotschaften ist wichtig. Es kann nicht sein, dass Facebook und Twitter mit Antisemitismus und mit Fehlinformation auch noch Geld verdienen. Aber ein blosser Warnhinweis neben einem Beitrag von Donald Trump macht das Netzwerk nicht zum Heiligen. Hass und Falschinformation sind seit vielen Jahren auf Facebook so erfolgreich, weil die Mechanik des Netzwerks solche Inhalte fördert. Das Problem liegt mit anderen Worten nicht an der Oberfläche, sondern tief in der Funktionsweise von Facebook: im Algorithmus. Das ist das (geheime) Programm, das steuert, welche Beiträge ein Benutzer auf seiner Facebookseite sieht. Das Programm mischt die Zusammenstellung so ab, dass der Benutzer möglichst lange online bleibt und möglichst viele Beiträge anklickt. Und das funktioniert dann am besten, wenn er sich emotional engagiert. Emotionen sind der Schlüssel zu Aufmerksamkeit und Engagement. Und welche Emotionen lassen sich am einfachsten schüren? Genau: Ärger, Wut und Aggression.

Dass Facebook (und die anderen, sozialen Netzwerke) nur so strotzt vor Hass und Wut, das liegt also nicht daran, dass Facebook besonders böse wäre. Es liegt an dieser grundlegenden Funktionsweise des Netzwerks. Und das lässt sich mit einem dezenten Warnhinweis nicht ändern. Heisst das, dass die Hinweise überflüssig sind? Nein, sind sie nicht. Aber sie reichen nicht aus. Ja: sie sind vielleicht sogar kontraproduktiv. Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Nutzerinnen und Nutzer von Facebook, Twitter und Co. sich künftig sagen: Wenn ein Beitrag nicht mit einem Warnschild versehen ist, dann ist der Beitrag in Ordnung. Doch das wird nicht der Fall sein. Jeden Tag veröffentlichen die Nutzerinnen und Nutzer Millionen von Beiträge auf den sozialen Netzwerken. Selbst mit ausgefeilten Kontrollprogrammen und vielen menschlichen Screenern wird es nicht möglich sein, alle Beiträge zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass die Netzwerke wirklich sauber sind.

Das Ziel sind und bleiben mündige Menschen

Ganz zu schweigen davon, dass «sauber» ein sehr relativer Begriff ist. Nehmen Sie nur die Auseinandersetzungen vor einer Volksabstimmung in der Schweiz: Wo genau ist die Grenze zwischen Abstimmungswerbung und Desinformation? Wann wird eine Prognose zu Propaganda? Und ist es wirklich sinnvoll, diese Unterscheidung an Twitter, Google oder Facebook auszulagern? Viel sinnvoller wäre es doch, wenn die Nutzerinnen und Nutzer selbst in der Lage wären, eine Information im Netz zu beurteilen, statt die Verantwortung an amerikanische Grosskonzerne abzuschieben.

Das bedeutet: Wir Menschen müssen medienkompetent werden. Oder vielleicht besser: digitalkompetent. Gerade in der Coronakrise, in der die Digitalisierung einen neuen Schub erhält, ist es wichtig, dass die Menschen in der Lage sind, selbst zu unterscheiden, welchen Informationen sie trauen können und welchen nicht. Das können, je nach politischer Haltung, auch unterschiedliche Quellen sein. Wichtig ist, dass wir Internetbenutzer uns und dem Netz nicht einfach ausliefern – auch dann nicht, wenn Twitter und Facebook mehr gegen Hass und Desinformation unternehmen.

Diese Forderung ist übrigens nicht neu. Schon 1997 habe ich mich in meinem Buch «Gefahr aus dem Cyberspace? Das Internet zwischen Freiheit und Zensur»[4] gegen technische Zensurmassnahmen und für eine bessere Bildung der Menschen ausgesprochen. Schon damals schrieb ich: «Die Menschen müssen zu selbstständigem und kritischem Benutzen des Internets in der Lage sein. Es bleibt also nur, das kantische Ziel der Aufklärung zu unterstreichen, nämlich, dass die Menschen sich ohne Leitung eines anderen ihres Verstandes bedienen können.» Es ist bloss schade, dass wir 20 Jahre später hinsichtlich Medien- und Digitalkompetenz noch kaum weiter sind.

Es ist gut und recht, wie rasch Schulen, Universitäten und viele Firmen mit Digitalisierungsinitiativen auf die Coronakrise reagiert haben. Nach der Investition in Zoom-Lizenzen und Computerbildschirme ist es jetzt an der Zeit, in die digitale Bildung der Benutzerinnen und Benutzer zu investieren. Wir können und dürfen die Verantwortung für unsere Information nicht an Google, Facebook und Twitter delegieren. Diese Verantwortung müssen wir selber übernehmen. Jetzt.

Basel, 24. Juli 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Kleine Sofort-Handreichung

Im Prinzip geht es bei der Beurteilung einer Information immer um drei Fragen:

1) Wer sagt das? Die Information in einer Zeitung, die Zahlen auf einer Website gehen oft auf ganz andere Quellen zurück. Die erste Frage, die Sie sich stellen sollten, ist deshalb immer: Wer sagt das – und wer ist das? Wer ist die Primärquelle? Ist es eine wissenschaftliche Studie oder ist es die Meinung eines Kommentators? Ist sich die Wissenschaft im Hinblick auf die Beurteilung einig oder das eine exotische Meinung?

2) Warum sagt er/sie das? Ist es Werbung für eine Partei, eine Interessengemeinschaft oder ein Zweckverband? Wer profitiert? Wem nützt es? Will da jemand nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder geht es um die Sache? Ein Hinweis: So etwas wie geheimes Wissen gibt es nicht und Verschwörungen mit vielen Beteiligten sind unmöglich.

3) Was sagt er/sie genau? Medien neigen dazu, Studien und die Aussagen von WissenschaftlerInnen stark zu verkürzen. Es lohnt sich deshalb, sich nicht bloss auf die Berichterstattung zu stützen, sondern nachzuschauen, was im Original steht. Ist das Zitat die Hauptaussage oder ist es nur ein Nebensatz? Wurden wesentliche Elemente weggelassen? Stimmt es wirklich?

Die einfachste Art und Weise, die drei Fragen zu überprüfen: Suchen Sie mit Google nach der Aussage oder der Information. Bei zweifelhaften Ergebnissen helfen möglicherweise Mimikama unter https://www.mimikama.at/ oder Correctiv.org. Mimikama ist ein Verein zur Aufklärung über Internetbetrug und Falschmeldungen. Correctiv bietet online Faktenchecks an, darunter umfangreiche Faktenchecks zu Corona: https://correctiv.org/faktencheck/


Quellen

Bild: ©travnikovstudio – stock.adobe.com

[1] Vgl. «Die Zeit», 22. Juli 2020: «Facebook versieht Trump-Beitrag erstmals mit einem Hinweis», https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/us-praesidentschaftswahl-facebook-informationshinweis-donald-trump

[2] Facebook hat auf diese Informationsseite über die Briefwahl verlinkt: https://www.usa.gov/absentee-voting?fbclid=IwAR0lPpa2_MMYixSEAcpuYeDV2QB5H9kiAomdrXK5CUHtVNk0bjS6iFRIqlI

[3] Die komplette Liste der Firmen finden Sie hier: https://docs.google.com/spreadsheets/d/1VSGhDwXm18yFf2BVCz0QJYFjCHrPhDuO-m5rCo0zoqI/htmlview

[4] Matthias Zehnder: Gefahr aus dem Cyberspace? Das Internet zwischen Freiheit und Zensur. Basel: Birkhäuser 1997

3 Kommentare zu "Digitalkompetenz statt Zensur"

  1. Vor der Frage einer hochdifferenzierten Digitalkompetenz beschäftigt mich immer wieder diejenige, ob Menschen grundsätzlich und überhaupt wahrnehmen wollen, was ist. Dazu folgendes Beispiel:

    Beschleunigt durch die Corona-Krise, manifestiert sich in den USA ein Zusammenbruch. Der Prozess spielt sich medial vor den Augen und Ohren der ganzen Welt ab. Sie scheint gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange. In Stadtgebieten wie beispielsweise Chicago ist die maximale Eskalationsstufe erreicht: finanzieller, kommerzieller, politischer, sozialer und kultureller Zusammenbruch. Nicht nur sie, aber vor allem Populisten wollen es nicht wahrhaben. Sie verleugnen die Situation. Gross und stark setzen sie mit blinder Wut auf Sündenbockpolitik. Schuld sind immer die andern.
    Der Kollaps einer Gesellschaft beginnt, wenn ihr das Vertrauen in ihre Zukunftsfähigkeit fehlt. Eine Gesellschaft, die ihre Zukunft mehrheitlich auf Illusionen bauen will, kann jedoch keine haben. Die Aufklärung der Verhältnisse ist vor allem auch deshalb anspruchsvoll, weil „Zusammenbruch“ ein vielschichtiger Prozess, und noch nicht das Endstadium ist. Meine Sorge ist, dass es für die Mehrheit zu spät sein wird, wenn sie die Zeichen des Zusammenbruchs wahrnehmen will, und das Endstadium als gegeben akzeptieren muss.

    1. Werter Herr Keller
      Ich greife eine Zeile von Ihnen auf:
      „…….USA: ein Zusammenbruch. Der Prozess spielt sich medial vor den Augen und Ohren der ganzen Welt ab…….“
      Hervorheben möchte ich das Wort MEDIAL. Da haben Sie ganz recht, wir hier bei uns sind auf das Mediale angewiesen, wenn man nicht live vor Ort ist oder jemand kennt.
      Nun bin ich verwirrt. Denn ich kenne Jemanden aus Chicago, jenen Ort, den sie skizzieren.
      Eins Vorweg: Nicht das ich oft in solch internationalen Kreisen verkehre, aber in diesem Falle hat es sich so ergeben.
      Sie waren als Expats einige Jahre in der Schweiz und kehren JETZT zurück. Sie freuen sich. Denn die Kita ist schon organisiert. Auch auf das neue Heim. Es gibt wunderschöne Häuser in und um Chicago. Vorfreude auf die mannigfaltigen Wassersportfreuden an den grossen Seen. Stand-Up-Paddeln, Kanu, Surfen, Segeln usw… garantiert. Und die weitläufigen Strandbars in der City, aber auch ausserhalb in unberührter Natur. Ich komme ins Schwärmen, wenn ich an diese Leute denke. Die nahen Hügel, kleine Berge, kleinere Seen wie der „Lake Zurich“ und und und….
      Es lässt sich – so der Expat – sehr gut, mindestens aber gleich gut oder sogar noch besser als in Basel leben.
      Man sieht also: Mit Recht verwirren mich unsere MEDIALEN-Zünfte immer mehr. Sonderbare Gestalten tummeln dort, deren Glaubwürdigkeit stetig bei mir abnimmt. Nicht nur, aber insbesondere wenn es um Trumps USA geht.

      1. Okay, geschätzter Herr Zweidler. Die USA: das war gestern. Heute geht es in die Schweiz. Da gibt es beispielsweise eine flammende Predigt zum Versagen der Kirche in der Corona-Krise. Hier lesen Sie, was Pfarrer Andreas Gygli seiner Gemeinde sagte: https://www.zeitpunkt.ch/index.php/wir-haben-als-kirche-versagt. Dann stieg er von der Kanzel und trat aus der Kirche aus. Seine Predigt müsste die Kirche erschüttern. Tut es höchst wahrscheinlich aber mitnichten. – Und auch solche kleinen Zusammenbrüche (wie beispielsweise heute in der bz basel berichtet) – ein Grundwasssermangel im Baselbiet, ein Hundesterben im Neuenburgersee, ein Bahnstillstand bis zum Geht-nicht-mehr – werden die Schlaraffenländer*innen nicht davon abhalten können, es am 1. August krachen zu lassen: Profit und Spass müssen sein.

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