Demokratie als Selbstbeschäftigung

Publiziert am 16. November 2018 von Matthias Zehnder

Nächstes Wochenende stimmen wir über drei nationale Vorlagen ab. Die Lektüre des Abstimmungsbroschüre des Bundes ist ernüchternd: Sind das die grossen Probleme der Schweiz? Kuhhörner, Versicherungsdetektive und der von der SVP eingebrockte Drang nach Selbstbestimmung – wo bleiben die konstruktiven Vorlagen für die wirklichen Probleme unseres Landes? Das Klima nach diesem Dürresommer! Arbeit und Leben mit der Digitalisierung! Eine längerfristig funktionierende Altersvorsorge! Stattdessen beschäftigen wir uns monatelang mit Kuhhörnern. Nein: So wird die Demokratie zur blossen Selbstbeschäftigung des Volkes.

Vor einer Volksabstimmung sprechen wir am Familientisch jeweils über die Vorlagen. Das führte dieser Tage zu absurden Diskussionen über die Hörner von Kühen, die Ferngläser von Versicherungsdetektiven und den Horizont der SVP. Verstehen Sie mich recht: Man kann fast nichts gegen die Würde der Kuh einwenden. Und zu einer würdigen Kuh gehören nun mal Hörner. Aber muss das in der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft stehen? Und müssen wir uns wirklich monatelang mit Kuhhörnern beschäftigen? Haben wir keine anderen Probleme?

Und dann das Referendum gegen die willkürliche Überwachung von Versicherten. Ich weiss nicht, über wen ich den Kopf mehr schütteln soll: über die Versicherungslobby, die es geschafft hat, dass das Parlament ein schluderiges Gesetz durchwinkt, oder über das Referendumskomitee, das vor der Kamera in jedermanns Schlafzimmer warnt. Zu guter Letzt die vor Nationalnarzissmus sprühende Selbstbestimmungsinitiative, die den Schweizern einreden will, die Schweiz könne auf internationale Verträge pfeifen und frei über alles selber bestimmen. Eines der kleinsten Länder der Welt wirft sich in die Brust und brüllt «wir zuerst!». Am Familientisch schwanken wir derzeit zwischen Lachen und Entsetzen.

Das Erfolgsmodell Schweiz

In der Selbstbestimmungsinitiative ist die Rede davon, dass in der Schweiz das Volk immer das letzte Wort habe. Die Initianten bezeichnen die Mitbestimmung der Bürger als wichtigen Pfeiler des Erfolgsmodells Schweiz.[1] Woraus besteht denn diese Mitbestimmung? In den letzten Abstimmungen haben wir uns unter anderem über Velowege, faire Landwirtschaft, die Geldschöpfung, die Heiratsstrafe und die Durchsetzung einer Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer geäussert. Dazu kommen jetzt noch Hörner und Versicherungsdetektive. Sieht so der Pfeiler des Erfolgsmodells Schweiz aus?

Vor den Abstimmungen berichteten die Medien seitensweise (bzw. stundenlang) über Kuhhörner, Versicherungsdetektive und fairen Food. Das Schweizer Farbfernsehen widmet jeder Vorlage eine «Abstimmungsarena», daneben haben sich Politiker auf allen Kanälen über Hörner und Ferngläser, inländisches Gemüse und ausländische Kriminelle gezofft. Mit dem Ergebnis, dass sich die Bevölkerung mit Grausen abwendet. Und zwar nicht nur von den Medien, sondern auch von den Abstimmungen: Die Stimmbeteiligung betrug mal 37 % (Fairfood-Initiative[2]), mal 34 % (Vollgeldinitiative[3]), mal 47 % (Nationalstrassenfonds[4]). Nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten (also etwa ein Viertel der Bevölkerung) nimmt sich die Mühe, das Abstimmungscouvert zu öffnen. Kurz: Diese Abstimmungen sind kein Akt hehrer Selbstbestimmung, sondern Selbstbeschäftigung des Volkes.

Ein Viertel der Initiativen stammt aus den letzten zehn Jahren

Und es ist kein Ende in Sicht. Sieben Volksinitiativen liegen derzeit auf dem Tisch des Bundesrats. Diese Initiativen sind also zu Stande gekommen, sie warten darauf, dass der Bundesrat Stellung nimmt.[5] Darunter befinden sich die Begrenzungsinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung», die Fair-Preis-Initiative «Stop der Hochpreisinsel – für faire Preise» und die Burkainitiative «Ja zum Verhüllungsverbot». Bereits einen Schritt weiter, also beim Parlament hängig, sind vier Initiativen, darunter die Transparenz-Initiative «Für mehr Transparenz in der Politikfinanzierung» und die Initiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub».[6] Mit der Zersiedelungsinitiative wartet zudem eine fertig beratene Initiative auf die Volksabstimmung.[7]

Zwölf Volksinitiativen sind also zu Stande gekommen und warten auf ihre Behandlung. Weitere 13 Initiativen befinden sich im Moment im Sammelstadium: Unterschriften werden etwa gesammelt für die Abschaltung der Atomkraftwerke und gegen die Massentierhaltung, gegen die Tabakwerbung und gegen Tierversuche. Damit steigt die Initiativ-Flut weiter. Von 1848 bis heute sind 333 Volksinitiativen zustande gekommen. Die Hälfte dieser 333 Initiativen verteilt sich auf die Jahre seit 1990, ein Viertel der Initiativen stammt aus den letzten zehn Jahren.[8]

Das Stimmvolk redet immer häufiger mit – und hat gleichzeitig den Eindruck, dass es immer weniger zu sagen hat

Das Stimmvolk bringt sich also immer häufiger selber ein und redet mit – und hat gleichzeitig den Eindruck, dass es immer weniger zu sagen hat. Und der Eindruck täuscht nicht. Die wichtigsten Entwicklungen, die das Leben der Menschen in der Schweiz prägen, wurden in den letzten Jahren nicht auf dem politischen Weg entschieden. Kein Mensch hat je über die Digitalisierung abgestimmt – sie war plötzlich da und krempelt unser aller Leben um. Der Horizont unserer Grosseltern reichte noch kaum über ihr Heimatdorf hinaus – heute leben wir in einer digital globalisierten Welt und haben mit Problemen wie der Klimakrise und der weltweiten Migration zu kämpfen, die kein Land alleine lösen kann.

Wenn wir uns erfolgreiche Initiativen anschauen, fällt auf, dass sie sich oft mit konkreten, aber eher überschaubaren Problemen beschäftigen. Von den 333 zustande gekommen Volksinitiativen wurden 21 angenommen. Die erste, angenommene Volksinitiative (zugleich die allererste Volksinitiative überhaupt) war das Schächtverbot, also die Volksinitiative «für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung». Sie ist 1893 in Kraft getreten.[9] Als nächste Initiative war die Volksinitiative «für ein Absinthverbot» erfolgreich. Sie ist 1908 in Kraft getreten.[10] Weiter angenommen wurden etwa das Spielbankenverbot (1920), die Initiative zur Erhaltung der Kursäle (1928), die Initiative für einen Bundesfeiertag (1993) oder die Anti-Minarettinitiative (2009).

Die Farbe des Polsters

Weder Absinthverbot, noch Spielbankenverbot oder Minarettverbot haben die Welt signifikant verändert. Es sind symbolische Eingriffe in die Verfassung, die einen verbreiteten Unmut zum Ausdruck bringen. Es ist, wie wenn man in einem rasenden Zug aus Unmut über die Fahrtrichtung die Farbe des Polsters verändert. Es verschafft vielleicht kurzfristig Befriedigung – langfristig merkt man: Es ändert nichts an der Fahrt des Zuges. Die wesentlichen Probleme der Schweiz, die rasante Veränderung der Wirtschaft durch die Digitalisierung, die immer heftigeren Auswirkungen der Klimakrise, die schlechteren Vorsorgeaussichten im Alter, sie alle lassen sich nicht mit einem simplen Eintrag in die Bundesverfassung aus der Welt schaffen.

So sitzen wir weiter am Familientisch und schütteln den Kopf über Kuhhörner und Versicherungsdetektive, über Kämpfe gegen nicht existierende Minarette und Burkas und für eine heile Landwirtschaftswelt. Und beinahe haben wir ein bisschen Verständnis dafür, dass die SVP mit ihrer Selbstbestimmungsinitiative dem Volk wieder mehr Einfluss verschaffen will. Es ist ein nostalgischer Gedanke. Er gründet in der Sehnsucht nach einer Welt, in der die Kirche noch im Dorf stand, der Ochsenwirt noch das Sagen hatte und die Welt an der Schweizergrenze ein Ende hatte. Doch diese Zeiten sind vorbei.

Selbstbestimmung mit Sartre

Dabei ist die Idee der Selbstbestimmung eigentlich richtig und wichtig. Bloss nicht auf der abstrakten Ebene eines Volkes (wer soll das sein, dieses Schweizervolk?), sondern ganz konkret, jeder für sich. Meine Tochter hat dieser Tage zum ersten Mal Sartre gelesen. Das grosse Thema von Jean-Paul Sartre war, was es bedeutet, frei zu sein. Sartre sagt, der Mensch ist seine eigene Freiheit. Er trifft seine Entscheidungen immer von dem Punkt aus, an dem er gerade steht. Indem er sich entscheidet, wählt er, wer er sein will. Das ist Selbstbestimmung: das Wahrnehmen der Freiheit.

Nach dem Abwurf der Atombombe von Hiroshima fragte sich Sartre, wie wir unsere Freiheit in einer so schwierigen Zeit noch konstruktiv ausüben können. In Das Ende des Krieges forderte er seine Leser auf zu wählen, in was für einer Welt sie leben wollen, und sich dafür zu engagieren. Er schrieb, dass wir uns stets vor Augen halten müssen, dass wir über die Mittel zu unserer Selbstvernichtung verfügen. Wenn wir weiterleben wollen, müssen wir uns bewusst für das Weiterleben entscheiden.[11] Wir müssen uns also entscheiden, in was für einer Welt wir leben wollen – und uns alle für diese Welt einsetzen und uns um die wichtigen Fragen kümmern. Ich persönlich zweifle, ob Kuhhörner dazu gehören. Aber am Spirit von Armin Capaul, dem Initianten der Hornkuhinitiative, können wir uns ein Beispiel nehmen.

Basel, 16. November 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 25 November 2018, Seite 22: https://www.admin.ch/dam/gov/de/Dokumentation/Abstimmungen/November2018/Volksabstimmung_25.November2018_Erlaeuterungen_Bundesrat.pdf.

[2] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20180923/det621.html

[3] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20180610/det618.html

[4] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20170212/index.html

[5] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis_1_3_1_2.html

[6] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis_1_3_1_3.html

[7] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis_1_3_1_4.html

[8] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis_2_2_5_3.html

[9] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis1.html

[10] Vgl. https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis9.html

[11] Vgl. Jean-Paul Sartre, «Das Ende des Krieges», in «Paris unter der Besatzung. Artikel, Reportagen, Aufsätze 1944–1945». Reinbek: Rowohlt, 1985, S. 72–77

10 Kommentare zu "Demokratie als Selbstbeschäftigung"

  1. Es ist schon sonderbar die Themen wie Kuhhörner, Sozialdedektive und Selbtbestimmung als „Selbstbeschäftigung“ (der lezten 5 Jahre, gemäss Projer vom SRF) zu deklarieren und einfach andere Themen wie Klima, Altersvorsorge etc. als die richtigen und „wahren“ Mittelpunkt der Diskussion zu rücken.
    Mit diesem Vorgehen oder dieser“Willkühr“ gibt es nur eine Lösung: Wechseln wir von der halbdirekten zur parlamentarischen Demokratie. Da können dann die gewählten Parlamentarier für 4 Jahre arbeiten und die Selbstbeschäftigung des Volkes mit Sachabstimmungen wird auch aufhören. Dies wäre auch eine Konsequenz, wenn die Selbstbestimmungsinitiative abgelehnt wird, denn Sachabstimmungen können in Zukunft als ungültg erklärt werden (auch wenn es sehr wenige sind).

    Vorläufig genügt dies.

    Vielen Dank und freundliche Grüsse, Bruno Bettoli

    1. Bravo, Herr Bruno Bettoli. Ihre Sätze sind zu unterstreichen.
      Nur noch eine Anmerkung: „Wir wechseln von der halbdirekten zur parlamentarischen Demokratie“ – schreiben Sie. Nein, wir sind schon drauf und dran. Denn wenn sogar schon Herr Zehnder in seinem Wochenkommentar bemerkt und niederschreibt: „Das Stimmvolk (…) hat gleichzeitig den Eindruck, dass es immer weniger zu sagen hat.“ hat dies in diesem doch eher linksliberalen Wochenkommentar-Umfeld etwas zu bedeuten.
      JA – es gibt eine Tendenz zur Entmachtung des Stimmberechtigten. Diese Tendenz kommt vom EU-Raum, wo man alle 4 Jahre Volksvertreter wählen kann, die dann über diese Zeit unter sich + gutbezahlt regieren können.
      Das Volk hat bloss die Möglichkeit, auf die Strasse zu gehen, zu pöblen, zu demonstrieren und dabei (verständlicherweise) auch zu demolieren, so gross ist der Frust über das politische Eunuchensein + nicht abstimmen zu dürfen, 4 Jahre nicht zu nichts gefragt zu werden.
      Wir in der Schweiz haben dies alles noch, Abstimmen, Petitionen, Wählen, Regierungsratssprechstunden und und und….
      EU-Turbos und Turbinen wollen klar die Annäherung an die EU. Und dessen hochpromilliger Präsident Junker sagte klar und klipp: „Die Schweiz ist ein (geopolitisches) Unding“. Und möchte am liebsten unsere Volksabstimmungen schreddern. Dabei entlarven sich unsere Schweizer EU-Befürworter selbst. Im einem TV-Streitgespräch zur Selbstbestimmungsinitative, bei dem es unter anderem um Bürgerrechte ging, gingen unseere „EU-Amigos“ so weit, dass wenn ein Abstimmungsresultat nicht passt (EU-Konform ist), sie alles tun, damit man es leichter für Ungültig erklären kann (…und dabei ging es nicht um Menschenrechte , die kein Schweizer je in Frage stellt). Dies ist ihr erklärtes Ziel. So sagt doch Laura Zimmermann, Co-Präsidentin Operation Libero: „Die direkte Demokratie ist kein Menschenrecht“. Sie betrachtet also unsere direkte Demokratie nicht als Menschenrecht. Dies in der SRF-Sendung (Presse-TV) „BaZ Standpunkte“ vom 28.10.2018 nachzusehen.
      Die Politiker von CVP, FDP und SP sehen die Volksentscheide als wie mehr als Stimmungsbarometer, als Empfehlungen, welche sie danach so deichseln, dass es passt; IHNEN passt!
      Eine klare Umsetzung, ob grüne, linke oder rechte Anliegen – von der Alpeninitiative, der Zweitwohungsinitative (mit einer Pianotastatur von Umgehungstrickli) bis hin zur Masseinwanderungsinitative, nichts wurde präzise und sauber umgesetzt.
      Und da wurdert man sich noch über Politverdrossenheit?
      Im Talk auf Radio 1 mit Roger Schawinski und Makrus Somm wird als erstes Thema (im Rahmen der SBI) genau diese Themenstellung (vor allem von Hr. Somm) nochmals aufgegriffen. Hörenswert. Als Bonus-Track danach von den beiden Medienprofis noch eine Analyse zur Medienlandschaft, durch die ja insbesondere in Basel zurzeit ein eisiger Wind fegt. „Weshalb sollten noch Medien konsumiert werden, wenn immer alle gleicher Meinung sind, alle Politiker, alle Redaktionen, Alle?“ wird gefragt. Und M. Somm erfasst es richtig: „(Basels), der Schweiz und Westeuropas Wurzel der Spannungen und politischer und gesellschaftlicher Apathie!“ Ausgabe vom 12. 11. 2018 zu genissen unter:
      http://www.radio1.ch/de/podcasts/roger-gegen-markus

      1. Lieber Herr Zweidler, erlauben Sie mir, Ihrer Interpretation des Zitats aus meinem Kommentar kurz zu widersprechen: Das Volk hat das Gefühl, immer weniger zu sagen zu haben, weil jene Entscheide, die den erlebbaren Alltag des einzelnen Menschen betreffen, nicht mehr von nationalen, politischen Behörden getroffen werden. Das, was die Schweiz (und nicht nur die Schweiz) in den nächsten Jahren umpflügen wird, sind Digitalisierung und Automatisierung. Die Politik kann da allenfalls Auffangnetze spannen und flankierende Massnahmen ergreifen. Wenn es dem Volk gleichzeitig als Selbstbestimmung verkauft wird, dass es sich zu Kuhhörnern äussern darf, empfinde ich das als, sagen wir, seltsam.

  2. Lieber Herr Zehnder, so funktioniert nun einmal Demokratie – auch wenn man diese dann banal findet. Sie könnten sich natürlich auch für eine gemässigte Diktatur einsetzen. Aber das wollen Sie wohl käumlich! Es bräuchte keine Kuhhorninitiative, wenn nicht der Mensch so selbstgerecht wäre zu entscheiden, wie ein Tier auszusehen hat und wenn er sich damit begnügte, sein Profitdenken der Welt anzupassen und nicht die Welt seinem Denken.
    Was die Stimmbeteiligung angeht: Wie hoch war die denn in den 60er und 70er Jahren? Ich weiss es nicht, aber überwältigend – so 80 und mehr Prozent – war die wohl auch nicht. Und dass von 333 Initiativen nur 21 angenommen wurden, zeigt doch, dass das Schweizer Volk in der Lage ist, zu entscheiden, was als wichtig empfunden wird und was nicht (kleines Beispiel: Noch immer nicht umgesetzte Alpeninitiative). Dass die übrigen abgeleht wurden, bedeutet aber ja nicht zwangsläufig, dass sie dumm und unnötig waren. Auch ich finde nicht alle Initiativen, die zur Abstimmung kommen, als nötig – aber ich respektiere den wunsch anderer, ein Thema als wichtig zu empfinden. Sie offenbar nicht – oder irre ich mich?
    Und was das Bemühen von Sartre (ebensogut hätten Sie Camus bemühen können) – der Existenzialismus ist nicht für alle erstrebenswert. Einmal abgesehen davon, dass ganz viele gar nicht wissen, dass es diesen überhaupt gibt und was er bezweckt.
    Ich mag Ihre Kommentare eigentlich – aber dieser bringt gar nichts und lässt mich irgendwie im leeren Raum stehen. Können Sie mir sagen, worüber es sich denn eher lohnte abzustimmen? Und wie Ihrer Meinung nach Demokratie funktioniert?

    1. Lieber Herr Meier,
      das tut mir natürlich leid, dass Sie sich im leeren Raum stehen gelassen fühlen. Der Schwenk zu Sartre sollte genau das verhindern: Selbstbestimmung bedeutet, die eigene Freiheit wahrnehmen. Sartre sagt: Du bist frei, also wähle und erfinde selbst das Gesetz Deines Handelns.
      Natürlich haben Sie recht: So funktioniert nun mal Demokratie. Ich finde es trotzdem etwas befremdend, wenn das Volk in seiner vielgerühmten Freiheit zur Selbstbestimmung nur Fragen zu Kuhhörnern, Minaretten und Absinth beantwortet. Natürlich umfasst Demokratie viel mehr als nur die 20 angenommenen Volksabstimmungen (die Rothenturm-Initiative wäre übrigens auch noch ein positives Beispiel), in einer Demokratie geht es um die generelle Mitsprache und es geht um die Institutionen der Demokratie. Dazu gehört auch die Judikative (was die Verfechter der Selbstbestimmungsinitiative relativieren möchten). Wenn ich meiner Verwunderung über Volksinitiativen Ausdruck gebe, dann heisst das also nicht, dass ich mir gleich eine Diktatur wünsche. Ich frage mich nur, ob es sein könnte, dass sich das Volk mit oberflächlichen Initiativen selbst beschäftigt und dabei nicht merkt, dass die wirklich wichtigen Fragen heute nicht mehr von der Politik entschieden werden, sondern von globalen Konzernen. So oder so: Danke für ihr kritisches Feedback, vielleicht haben wir nächste Woche mehr Glück miteinander.

  3. Lieber Herr Zehnder, ich bin froh, darüber abstimmen zu dürfen, dass die Kühe ihre Hörner behalten sollen! Das Tier- und Menschenwohl geht gegenüber den Wirtschaftsinteressen meist unter. Somit bietet sich hier einmal die Gelegenheit, die eigene Meinung kund zu tun, in der Hoffnung, dass die eigene Stimme zur Abschaffung solcher Quälerei beiträgt. Es ist finanziell falsch aufgegleist, so dass auch tierethisch denken Menschen leider dazu tendieren, diese Initiative abzulehnen. Wie gerne hätte ich über die weitere Verwendung von Glyphosat abstimmen dürfen. Dies sind keine unwichtigen Themata: sie zeigen auf, dass die Wirtschaft unethische Entscheidungen trifft und den Bundesrat dafür einnehmen kann. Wir können mit unseren Stimmen ab und zu zeigen, was wir von der nichtvorhandenen Wirtschaftsethik halten. Wir können damit zeigen: uns ist es wert, mehr zu zahlen (für Milch etc.), wenn nur das Tierwohl und die Umwelt davon profitieren.
    Gegen das geplante unzeitgemässe Ozeanium in Basel darf ich nicht stimmen, wenn es zu einer Initiative käme, denn ich wohne in BL. Dabei handelt es sich dabei um ein tierethisches Problem, das alle angeht, wenn in den Ozeanen grosse Meeressäuger für das Ozeanium gefangen werden. Die Millionen, die für ein Ozeanium ausgegeben werden sollen, sollte man gezielt für die Säuberung der Meere einsetzen. Aber eben: darüber darf ich nicht abstimmen. Daher bin ich für jede Initiative dankbar, zu welcher ich meine Meinung abgeben darf, sei sie noch so „unwichtig“, wie Sie es darstellen. Die grossen Probleme werden über unsere Köpfe hinweg entschieden, das wissen Sie auch.

  4. Die selbstbestimmt kleinkarierte Auseinandersetzung mit beispielsweise Bundesratswahlen oder Kuhhörnern sehe ich in der Tat als Beschäftigungstherapie, als eine Art Simulation von Demokratie. Mit immer noch mehr Initiativen, Petitionen und Referenden dreht sich das Demokratrie-Karussell mit immer noch mehr Aufwand – digital zusätzlich beschleunigt – immer noch schneller im Kreis: es ist ein Treten vor Ort, ein rasender Stillstand. Es herrscht das System einer kollektiv organisierten Werte- und Verantwortungslosigkeit. Wo alle tun oder lassen können, was und wie sie es wollen. Hauptsache: Es bringt Geld und macht Spass. Und läuft es schief, ist jede*r sich selbst der*die Nächste. Wirkliche Herausforderungen, die sich beispielsweise im Zusammenhang mit der Altersvorsorge, dem Gesundheitswesen, der Globalisierung, der Klimazerstörung, der Migration, der digitalen Transformation oder Vielfalt stellen, werden nicht konstruktiv und kreativ sowie demokratisch alle Betroffenen und diverse Aspekte umfassend bearbeitet. Meine eigene Erfahrung als Beteiligter mit der real existierenden parlamentarischen Parteiendemokratie: Entscheidungen werden oft wenig in der Sache fundiert und vor allem machtorientiert getroffen. Sie sind deshalb oft nicht nachhaltig zukunftsfähig. Somit generiert die machtdemokratisch überlegene Mehrheit eine Abstiegsgesellschaft, der es beispielsweise ökologisch, ökonomisch und sozial an Ressourcen und an Resilienz (Widerstandskraft) fehlt.

  5. Lieber Herr Zehnder. Ich schätze Sie als Beobachter des Zeitgeschehens, der die Dinge in den grösseren Zusammenhang stellt. Umso irritierender finde ich, wie nonchalant Sie das Referendum gegen die Sozialdetektive in der Schublade „Selbstbeschäftigungs-Abstimmungen“ mitversorgen. Es geht bei dieser Abstimmung nicht darum, ob man für oder gegen die Aufklärung von Sozialversicherungsmissbräuchen ist. Es geht um nichts weniger als die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit gegen eine schlampig arbeitende, intellektuell faule Mehrheit im Parlament. Nicht bei Frau Berg und Herrn Capaul sondern bei ebendieser parlamentarischen Mehrheit ist „Demokratie als Selbstbeschäftigung“ zu verorten. Ihr fehlen Rüstzeug und Unabhängigkeit, um Antworten auf die grossen Fragen unserer Zeit zu erarbeiten. Deswegen bauscht sie Feindbilder wie das des Sozialschmarotzers auf und präsentiert uns schludrige Lösungen für Probleme, die dank bereits geltendem Recht gar keine sind. Ihr muss also am kommenden Wochenende durch Ablehnung der Änderung des Sozialversicherungsrechts ein wuchtiges „SO NICHT!“ entgegengeschleudert werden (was aller Voraussicht nach leider nicht passieren wird).

    1. Lieber Herr Kurth
      Da haben Sie zweifellos recht, deshalb habe ich auch von der Versicherungslobby geschrieben, die es geschafft hat, dass das Parlament ein schluderiges Gesetz durchwinkt. Ich wende mich ja indirekt gegen die Behauptungen der Selbstbestimmungsinitiative und ihre Überhöhung der Demokratie. Mir ging es darum, der Überhöhung der Volksinitiativen entgegenzutreten. Ich glaube aber, man muss zwischen Volksinitiativen und Referenden unterscheiden. Bei den Volksinitiativen fallen (wie geschildert) zwei Tendenzen auf: Die Zahl der Initiativen steigt fast exponenziell. Erfolgreiche Volksinitiativen beschäftigen sich oft mit einfachen Themen bzw. betreiben oft Politik mit Symbolen (von Minaretten bis zu Kuhörnern). Das ist mehr Selbstbeschäftigung als Selbstbestimmung. Die Referenden muss mal wohl in der Tat anders einschätzen. Sie sind ein Korrektiv zum Parlament. Es ist bemerkenswert, wie oft ein von der Stimmbevölkerung gewähltes Parlament von ebendieser Stimmbevölkerung korrigiert wird.

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