Das Leben nach Corona

Publiziert am 19. Februar 2021 von Matthias Zehnder

Der Bundesrat hat diese Woche erste Öffnungsschritte eingeleitet. Er weckt damit die Hoffnung auf Normalität. Viele Menschen wollen nicht mehr lange fackeln: Sie wollen ihr altes Leben zurück. Das wird es auf absehbare Zeit aber nicht geben. Das Leben nach der Krise wird anders aussehen als vorher. Ist das schlimm? Vielleicht ist es eine Chance, das Leben zu verändern. So oder so sollten wir uns jetzt schon darüber Gedanken machen und uns auf dieses Leben, nein: nicht nach Corona, sondern mit Corona vorbereiten.

Der Bundesrat hat uns diese Woche ein Licht am Horizont gezeigt: Ab dem 1. März sollen uns erste Öffnungen einen ersten Schritt in Richtung Normalität zurückbringen. Läden, Museen und Lesesäle von Bibliotheken, aber auch Aussenbereiche von Zoos, botanischen Gärten und Sport-und Freizeitanlagen sollen wieder öffnen. Was der Bundesrat nicht sagt: Die Normalität, auf die wir uns da zubewegen, das wird nicht unser altes Leben sein, sondern etwas anderes. Vielleicht sogar etwas ganz anderes.

Zunächst einmal wird es auf absehbare Zeit kein Leben nach Corona geben, sondern nur ein Leben mit Corona. Das hat drei Gründe. Erstens sind verschiedene Mutationen des Virus im Umlauf, welche die Pandemie derzeit verschärfen und verändern. Noch ist nicht sicher, ob die verfügbaren Impfungen vor den Mutationen schützen. Zudem dürfte sich das Virus weiter verändern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Mutationen die Welt unsicher machen.

Selbst, wenn uns die Impfungen auch vor allen mutierten Virusvarianten schützen würden, bleibt das Problem, dass es derzeit keine Impfung für Kinder und Jugendliche gibt. 20 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz sind unter 20 Jahre alt – 2019 waren das 1,717 Millionen Menschen.[1] Alle verfügbaren Impfungen sind aber nur für Erwachsene zugelassen. Das Bundesamt für Gesundheit schreibt dazu lakonisch: «Die Impfung von Kindern ist derzeit nicht vorgesehen. Es fehlen momentan die entsprechenden Studiendaten für diese Altersgruppen.»[2] Selbst wenn es tatsächlich möglich wäre, bis im Sommer alle Impfwilligen in der Schweiz zu impfen – mit Kindern und Jugendlichen bleibt ein Fünftel der Bevölkerung ungeimpft. Corona bleibt uns nur schon deshalb weit über das Jahr 2021 hinaus erhalten. Dazu kommt: Auch die erwachsene Bevölkerung wird ab dem Sommer nicht zu 100 Prozent immun sein. Vermutlich bleibt die Zahl der Impfverweigerer recht hoch. Das bedeutet: Eine umfassende Immunität der Bevölkerung bleibt auf absehbare Zeit unerreichbar, Corona bleibt noch lange eine Bedrohung.

Keine Normalität in Sicht

Das hat zur Folge, dass die Normalität, die uns im Sommer (vielleicht) erwartet, eine andere sein wird als die Normalität, wie wir sie vor Corona gekannt haben. Masken, Hygienevorschriften und Coronatests werden uns noch lange erhalten bleiben. Reisen wird ein Risiko bleiben. Menschenansammlungen wird es nur unter bestimmten Bedingungen geben, im Freien zum Beispiel, oder dann mit Schutzmassnahmen. Kurz: Wir erhalten unser altes Leben so schnell nicht zurück.

Aber vielleicht ist das gar keine so schlechte Nachricht. Schliesslich waren viele von uns vor der Coronakrise mit ihrem Leben alles andere als zufrieden. Die Rückkehr zum Leben nach (oder mit) Corona könnte deshalb eine Chance sein, dieses Leben zu verändern. Wichtig ist, dass wir uns nicht als Opfer verstehen und treiben lassen, sondern dass wir uns jetzt schon Gedanken darüber machen, wie diese neue Normalität denn aussehen soll.

Anders gesagt: Lassen Sie uns etwas aus der Krise lernen und, wenn nicht die Welt, so doch unsere Welt verbessern – Sie Ihre und ich meine! Ich sehe grundsätzlich drei Bereiche, wo sich etwas ändern wird und ich etwas ändern kann: bei mir selbst, bei meinem Umfeld und bei der Umwelt.

Was ich bei mir selbst ändern kann

Beginnen wir also bei uns selbst. Was haben wir in dieser Krise am meisten vermisst? Sicher die Nähe zu anderen Menschen, persönliche Beziehungen, das ungezwungene Beisammensein mit Freunden, tanzen, feiern, ausgelassen sein. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber mir war, ehrlich gesagt, vorher nicht so bewusst, wie kostbar und wichtig die Nähe zu anderen Menschen ist. Es war einfach selbstverständlich. Ich habe mich manchmal eher nach mehr Ruhe gesehnt. Wir sind alle heute im Arbeitsleben auf so vielen Kanälen unterwegs, an so viele Sitzungen, Termine und soziale Verpflichtungen gebunden, dass der erste Lockdown etwas Erleichterndes hatte. Wenigstens im ersten Moment. Und dann begannen wir alle die echten, persönlichen Kontakte zu vermissen. Die Nähe zu Freunden, eine Umarmung, ein Lächeln, vielleicht ein Kuss.

Ich habe auf diese Weise intensiv den Unterschied zwischen Verpflichtungen und Verbindungen erlebt. Die Frage ist: Wie können wir den Verbindungen zu anderen Menschen in unserem Leben nach der Krise jene Bedeutung einräumen, die wir jetzt, in der Krise, empfunden haben? Wie sorgen wir dafür, dass nicht nur Geschäftstermine Eingang finden in die Agenda, sondern auch die Familie und Freunde? Sie sagen jetzt vielleicht: Das ist lediglich eine Frage der Prioritäten. Vermutlich haben Sie recht. Ich wünsche mir deshalb, dass uns diese Sehnsucht nach der Nähe zu Freunden noch lange in Erinnerung bleibt – und wir es schaffen, danach zu leben.

Was ich in meinem Umfeld ändern kann

Kennen Sie diesen Moment, wenn sich die Nachbarn nach einem plötzlichen, heftigen Schneefall auf der Strasse treffen, zusammen Schnee schaufeln und ein Gefühl von Gemeinsamkeit entsteht, weil alle dasselbe Problem haben? So hat sich das im ersten Lockdown angefühlt. Ich habe noch nie so viel Solidarität erlebt in der Nachbarschaft, unter Freunden und Bekannten. Im Normalfall sind wir in der Schweiz auf die Hilfe in der Nachbarschaft kaum mehr angewiesen. Solidarität war uns in unserer Wohlstandsgesellschaft abhanden gekommen. Ich glaube, gerade Schweizer kaufen sich Unterstützung lieber, als dass sie sich helfen lassen. Bei uns schaut jeder für sich und höchstens durch die Gardinen auf die anderen. In der Krise haben wir alle den Wert von Solidarität unter Nachbarn neu kennengelernt. Ich wünsche mir, dass wir diese Solidarität unter Nachbarn und Bekannten in die Zeit nach der Krise retten können.

Auch etwas ganz anderes wird nach der Krise weiterbestehen: die Digitalisierung. Abgesehen vielleicht vom Bundesamt für Gesundheit haben erstaunlich viele Menschen und Institutionen in den letzten Monaten eine Instant-Digitalisierung hingelegt. Vom Zoom-Talk in der Familie über die Sitzung per Videokonferenz bis zum digitalen Schriftstellerinterview – ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell möglich ist. Ich hoffe sehr, dass uns einiges davon erhalten bleibt. Es würde mir manche Reise sparen – und manchen Kontakt weiterhin ermöglichen. Digitale Kommunikation nicht als unzureichendes Surrogat für reale Begegnungen, sondern als Bereicherung und Ergänzung dazu.

Und dann noch die Umwelt

Wir sind in den letzten Jahren ja von einer Krise in die nächste gestolpert – von der Finanzkrise in die Flüchtlingskrise, von der Bankenkrise in die Wirtschaftskrise, von der Medienkrise in die Krise der Demokratie. All diese Krisen hatten gemeinsam, dass wir sie als unvermeidlich erlebt haben, weil man die Welt schliesslich nicht von einem Tag auf den anderen ändern kann. Dann kam die Coronakrise – und von einem Tag auf den anderen war alles anders. Pharmafirmen, die eben noch scharfe Konkurrenten waren, arbeiteten plötzlich zusammen. Am Boden und in der Luft blieb der Verkehr plötzlich stehen. Homeoffice war plötzlich möglich. Das zeigt: Wenn es wirklich sein muss, ist kann sich die Welt doch erstaunlich rasch verändern.  Manchmal sogar von einem Tag auf den anderen.

Wenn wir die Coronakrise überwunden haben, werden wir uns in einer noch grundlegenderen Krise wiederfinden: in der Klimakrise. Es werden gigantische Anstrengungen nötig sein und die Menschheit wird ihren ganzen Erfindungsreichtum mobilisieren müssen, um diese Krise zu meistern. Ich glaube zum ersten Mal, dass das möglich ist. Wenn genug Menschen einsehen, dass wir die Welt verändern müssen, und zwar möglicherweise von einem Tag auf den anderen, dann werden wir das schaffen. Auch deshalb wird die Welt nach Corona nicht dieselbe sein, wie die Welt davor.

Basel, 19. Februar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©shchus – stock.adobe.com

[1] Bundesamt für Statistik, Bevölkerungszahlen zu Alter, Zivilstand, Staatsangehörigkeit: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/alter-zivilstand-staatsangehoerigkeit.html

[2] Bundesamt für Gesundheit, Coronavirus: Impfung https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/impfen.html

2 Kommentare zu "Das Leben nach Corona"

  1. Vollkommen absurd aber total logisch, entspricht Corona einer Welt, die unter dem Zwang des Geldes zu immer noch mehr, und letztlich einem für unsere Erde tödlichen Wachstum verdammt ist: Es ist ein Naturgesetz, dass diese Entwicklung einmal zu einem Halt kommen musste! Davon scheinen aber die meisten Medien sowie Politiker*innen von Links bis Rechts und auch die Wissenschaft mehrheitlich nichts wissen zu wollen. Zum ihrem Bild gehört auch die Vorstellung eines von der Natur getrennten Menschen, der die Bedrohung durch ein Virus mit einer enormen Aufrüstung wie in einem Krieg zu bekämpfen versucht: medizinisch, ökonomisch, politisch, psychologisch und technologisch. Nach wie vor finde ich es ausserordentlich schwierig, dass Gesellschaft, Kultur, Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft mehrheitlich ganz und gar nicht wissen (wollen), was sie eigentlich wissen sollten, um in der Situation des Wandels, in dem wir alle stehen, mit Blick nach vorn gemeinsam das Richtige tun zu können. Somit drehen sich leider viele mit viel Aufwand immer noch schneller wie auf einem Karussell perspektivenlos im Stillstand im Kreis. Ich freue mich über jeden und jede, der*die diesen Leerlauf durchschaut und nicht mehr mitmacht: auch nicht passiv!

  2. Leben nach Corona? Überleben nach Corona? Weiterleben nach Corona?
    Interessante Überlegungen. Chapeau.
    Was macht Corona morgen mit uns, was macht die Pandemie aber im Jetzt, heute mit uns?
    Veränderungen, Verformungen, Verwirbelungen des Gewohnten? Neues, Besseres? Oder Verschlechterungen im Allgemeinen.
    Das Eine spielt in das Andere hinein. Grenzen gibt es hier (für einmal) nicht – das Leben, die Natur, die Krankheitsverläufe – es gilt, dies als Ganzes zu betrachten. Ohne Natur kein Leben – ohne Leben keine Technik – ohne Technik keine Medizin.
    Der Mensch als Ganzes, als Unternehmer, als Unterlasser, als Journalist, als Politiker….
    Interessant einem, ja das kann man unumwunden sagen, interessanten UND interessierten Zeitgenossen zu lauschen. Einverstanden muss man nicht mit allem sein, was Roger Köppel, Verleger und Chefredaktor der „Die Weltwoche“ (schw. Wochenzeitung) für Überlegungen anstellt. Doch wahre Grösse ist zuzuhören, auch wenn man ideologisch anders eingestellt ist. Auch ich führe mir manchmal die „WoZ“ (linke Wochenzeitung) zu Gemüte und versuche den Gedankengängen zu folgen, wenn dort wieder einmal über die (schlimmen) Einfamilienhaus-Eigentümer (Landverbrauch, Auslastung pro m2, Energieverbrauch usw.) vom Leder gezogen wird….
    Nur mit ALLUMFASSENDER Information kann man ganzheitlich Denken. Und oft steckt auch in der grössten Gegenrede ein Körnchen Wahrheit.
    Toll, dass es noch so engagierte Bewohner unseres Landes gibt.
    Deshalb für alle hier direkt aus seinen Sportf“ferien“ im Oberengadin das Gedankenanregungs-Weltwoche-Daily (Videokommentar) mit Roger Köppel zum Innehalten, zur Stimulierung und als Anstoss zum eigenen Denken.
    (Ich bin sehr zurückhaltend mit bewegten Bildern in die Kommentare zu stellen. Es ist und bleibt die grosse Ausnahme! Aber all‘ Schaltjahr (besonders bei so interessantem Inhalt) muss es mal sein – Danke).
    Link:

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