Die Digitale Überwältigung

Publiziert am 26. Februar 2021 von Matthias Zehnder

Seit genau einem Jahr plagt uns in der Schweiz nun dieses Virus: Vor einem Jahr mussten von einem Tag auf den anderen  Schulen, Universitäten und Kirchen schliessen. Das Leben verlagerte sich in den digitalen Raum. Hatte vorher nur eine Minderheit der Menschen Erfahrungen mit Home Office, Videokonferenzen und digitalen Arbeitsplattformen, ist das jetzt für die meisten Menschen Alltag. Plötzlich ist alles digital. Und wir alle müssen feststellen, dass uns diese komplett digitale Kommunikation überfordert, ja überwältigt. Warum ist das so? Und was kann man dagegen tun? Die digitale Überwältigung – und was dagegen hilft.

Als Apologet des Digitalen habe ich mir jahrelang den Mund fusselig geredet, dass Schulen, Universitäten und Firmen sich doch die neuen Möglichkeiten wenigstens ansehen sollten. Dann hat die Covid-19-Krise zu einer Instant-Digitalisierung geführt: Home-Office, Distance-Learning, Videokonferenzen, Familienchat – was vor einem Jahr für viele Menschen noch Fremdwörter waren, ist heute Alltag. Einerseits ist das ja wunderbar: Ohne Computer, Handy und Internet wären Schule, Universität und Büroarbeit in der Pandemie nicht möglich – und dieser Text bliebe auf meinem Pult liegen. Andererseits müssen wir alle uns eingestehen, dass uns diese totale Digitalisierung überwältigt und überfordert. Dabei sollte die digitale Welt doch schnell, effizient und effektiv sein. Was haben wir falsch gemacht? Lernen wir das noch? Oder bleibt das so?

Schauen wir uns den Alltag vor Corona an. Erinnern Sie sich noch daran, wie es war, als man noch Menschen treffen konnte? Wir hatten Sitzungen, besuchten Kunden und Konzerte, hörten Vorträge, redeten mit Bekannten an der Kaffeemaschine, auf dem Parkplatz, vor dem Haus oder beim Einkaufen, wir hatten Gespräche beim Mittagessen oder beim Apéro und natürlich verschickten wir schon damals viele E-Mails und arbeiteten digital. Seit einem Jahr konzentrieren sich die allermeisten dieser Kontakte auf den Bildschirm in Form von Mails, Videokonferenzen oder Chats. Das kann man sich so vorstellen, wie wenn auf einer vielspurigen Strasse plötzlich alle Spuren gesperrt wären und man nur noch eine einzige Spur benutzen kann. Die Folge ist klar: Es kommt zum Stau. Aber warum kommt es am Bildschirm zum Stau, wenn das Digitale doch effektiver und effizienter sein soll?

Implosion der Kanäle

Das Bild von den verschiedenen Spuren, die in einer einzigen Spur zusammengeführt werden, ist gar nicht so falsch. Im Normalfall trennen wir unsere Lebensbereiche voneinander, indem wir, im übertragenen Sinn, verschiedene Kanäle dafür nutzen. Wir sind in der Firma förmlich, in der Freizeit locker, in der Familie anständig, unter Kollegen gelöst. Wir haben zum Beispiel formale Kontakte während Sitzungen, Meetings und Besprechungen. Wir verhalten uns an der Kaffeemaschine, beim Mittagessen und beim Apéro ganz anders als wenn wir eine Weiterbildung besuchen, einem Vortrag zuhören oder an einem Event die Firma repräsentieren. Es macht einen Unterschied, ob wir während der Arbeitszeit einen Brief oder ein E-Mail schreiben, oder ob wir in der Freizeit mit Freunden oder der Familie chatten. Wir haben für unterschiedliche Situationen unterschiedliche Kommunikationskanäle – wenn man ein Sitzungszimmer oder einen Vortragssaal als «Kanal» bezeichnen darf. Heikel ist es, wenn die Kanäle durcheinandergeraten, wenn man zum Beispiel dem Chef im Ausgang begegnet oder in der Metzgerei.

Die Digitalisierung durch die Pandemie hat diese vielen unterschiedlichen Kanäle reduziert auf zwei, drei Computerprogramme. Ich chatte plötzlich nicht mehr nur mit Familie und Freunden per WhatsApp, sondern auch mit Kunden und Geschäftspartnern. Ich habe nicht mehr nur Videokonferenzen mit Unimitarbeitern, sondern plötzlich auch mit meinen Schwestern. Die vielen verschiedenen Kommunikationssituationen, also die «Kanäle» der realen Welt, sind implodiert auf einige, wenige digitale Kanäle wie E-Mail, WhatsApp und Zoom. Ich sehe dem Kanal nicht mehr an, um was es geht und wer da etwas von mir will. Ich muss mich manchmal ganz schön konzentrieren, dass ich einem Kunden nicht mit einem Smiley antworte – und meinem Sohn nicht «Freundliche Grüsse» schreibe. Das erfordert viel Kodierungs- und Entschlüsselunsgarbeit vom Gehirn – und das ist anstrengend.

Die reiche Welt des Analogen

Zumal die Kommunikation in der realen Welt viel reichhaltiger ist als in der digitalen Welt. Es gibt für Computernetzwerke ein bekanntes Modell, das «Open Systems Interconnection Model», kurz: OSI-Modell beschreibt, wie zwei Computer miteinander Kontakt aufnehmen können. Zuunterst ist die physikalische Ebene: der Draht, über den die Impulse verschickt werden. Darauf bauen sich verschiedene Layer auf, die dafür sorgen, dass der Kontakt hergestellt werden kann und dass er abgesichert ist, dass Informationen transportiert werden können. Zuoberst befindet sich die Anwendungsschicht, quasi der Inhalt der Kommunikation.

Wenn zwei Menschen einander begegnen und miteinander sprechen, kann man sich das, was dabei abläuft, ganz ähnlich vorstellen. Es gibt die physikalische Ebene, zum Beispiel die Schallwellen oder optische Signale. Es gibt die Ebene der Absicherung, auf der die Gesprächspartner sicherstellen, dass sie einander wahrnehmen. Am Telefon sagt man deshalb ab und zu «ja» oder «mhm», damit der andere weiss, dass man noch zuhört. Und dann gibt es natürlich den eigentlichen Inhalt des Gesprächs. Darum herum nehmen wir aber unbewusst viele Zusatzinformationen wahr und zwar mit allen Sinnesorganen, auch mit der Nase (es gibt deshalb manchmal Menschen, die man einfach nicht riechen kann).  Ich nehme wahr, wie mein Gegenüber gestimmt ist, wie es ihm geht, ob er das, was er sagt, ernst meint oder ob es sarkastisch oder ironisch gemeint ist. Und ich nehme sein Umfeld wahr. Es ist ein Unterschied, ob ein Gespräch gebrüllt an einer stark befahrenen Strasse, geflüstert in einer Bibliothek, in einer Bar, im Supermarkt oder am Fotokopierer in der Firma stattfindet.

Der digitale Schlüssellochmodus

In der digitalen Welt fallen die meisten dieser zusätzlichen Ebenen der Kommunikation weg. Es ist am Bildschirm schon in einer Videokonferenz schwieriger, zu merken, wie es dem Gegenüber geht, ganz zu schweigen von der Kommunikation per E-Mail, Chats und mit anderen digitalen Werkzeugen. Deshalb funktionieren übrigens Sarkasmus und Ironie so schlecht am Bildschirm. Wenn ich ein E-Mail lese, habe ich zuerst mal keine Ahnung, ob ich in dieser Kommunikation (bildlich gesagt) im Supermarkt, an der Strasse, in der Bibliothek oder am Fotokopierer stehe. Diese Angaben muss ich aus dem Absender, der Betreffzeile, aus Text und Aufmachung des E-Mails erst herauslesen – und das ist manchmal gar nicht so einfach. Die digitale Kommunikation ist deshalb vielleicht schnell und einfach, beim Empfänger fällt aber viel mehr Interpretationsarbeit an als bei physischer Kommunikation.

Ich nenne das den Schlüssellochmodus: Am Computer und noch viel mehr am Handy hat man nie das ganze Bild. Man sieht immer nur einen kleinen Ausschnitt davon. Es ist, als würde man die Welt nur noch durch ein Schlüsselloch betrachten. Kommunikation am Bildschirm kann sich deshalb anfühlen wie Autofahren bei Regen in der Nacht. Man sieht zu wenig und zu wenig weit. Das ist anstrengend und weit weg von der aufgeräumt schönen, sauberen Digitalwelt, die uns die Werbung verspricht. Es ist die digitale Überwältigung. Was haben wir bloss falsch gemacht?

Nun: Nichts. Wenn etwas falsch ist, dann sind es die Versprechungen der digitalen Welt. Menschen sind dreidimensionale, soziale Wesen, die sehen, hören, riechen und schmecken. Wir haben über Jahrtausende gelernt, eine Situation mit allen unseren Sinnen einzuschätzen und darauf zu reagieren. Wir schiessen zwar Menschen auf den Mond und bald vielleicht auch auf den Mars, bleiben aber Im Grunde dieselben alten Affen, um mit Kästner zu sprechen. Und diese Affen haben nun mal erst seit ganz kurzer Zeit mit Bildschirmen zu tun. Im Normalfall würde man deshalb sagen: Triff Deine Freunde und Deine Geschäftspartner, rede mit ihnen von Angesicht zu Angesicht, geh mit ihnen essen, Musik hören, tanzen. Doch genau das geht jetzt nicht. Wir sind zum Bildschirmleben verdammt. Die Frage ist deshalb: Wie schaffen wir das?

Drei Schritte zur digitalen Ermächtigung

Der erste Schritt ist schon getan, wenn Sie mir bis dahin gefolgt sind: Wir sollten uns dieser digitalen Überwältigung und Überforderung bewusst werden. Digitalisierung ist wichtig und richtig, ohne digitale Kommunikation wären wir schlechter dran – aber die Menge ist überwältigend. Das ist normal. Schämen Sie sich nicht. Also: tun wir etwas dagegen. Aber was?

Der zweite Schritt: Entwirren Sie Ihre Kanäle. Das Gefühl der digitalen Überwältigung kommt auch daher, dass Ihre ganze Kommunikation sich nur noch in zwei oder drei Programmen abspielt. Das muss nicht sein. Unterscheiden Sie zwischen Beruf und Privat, indem Sie unterschiedliche Messenger nutzen. Etwa: WhatsApp fürs Büro und Threema für Privat (oder umgekehrt). Wenn Sie Teams nutzen an der Uni, dann nutzen Sie privat Zoom oder Skype. Es ist wie im richtigen Leben: Essen Sie nicht am Pult und arbeiten Sie nicht im Bett.

Der dritte Schritt: Kommunizieren Sie digital so deutlich, als wäre Ihr Gegenüber geistig eingeschränkt (oder leicht angetrunken, wenn Ihnen das besser gefällt). Denn eingeschränkt, das ist die Kommunikation am Computer. Schreiben Sie im E-Mail immer überklar und deutlich, welche Reaktion Sie von Ihrem Gegenüber erwarten und bis wann. Packen Sie nicht mehrere Themen in ein Mail. Nutzen Sie Bullet-Points, wenn Sie mehrere Aspekte eines Themas vermitteln müssen. Schreiben Sie, wie wenn es für das erste Lesealter wäre. Denn am Bildschirm sind die meisten Menschen weniger konzentriert. Sie lesen flüchtiger und vergessen rascher. Gerade in E-Mails.

Ähnliches gilt auch für die Videokonferenz. Reden Sie deutlich. Vertrauen Sie nicht auf Gesten oder Mimik. Kamera und Computer wirken dämpfend darauf. Wenn Sie Gesten verwenden, dann seien Sie auch da überdeutlich, wie wenn Ihr Gegenüber stark Kurzsichtig wäre. Denken Sie dran: Es ist Kommunikation durch eine verregnete Windschutzscheibe.

Und meine Überwältigung?

Jetzt fragen Sie vielleicht: Und ich? Und meine Inbox? Meine Überwältigung? Leider gibt es keinen elektronischen Butler, der Ihnen da wirklich helfen kann. Google hat mit Gmail erste Schritte in Richtung automatische Sortierung von E-Mails gemacht und sortiert immerhin nicht mehr nur Spam aus, sondern auch Mails von Sozialen Netzwerken, Werbung und Benachrichtigungen. Das ist schon einmal sehr hilfreich, zumal der Sortiermechanismus lernfähig ist. Aber es reduziert weder die Menge der zu beantwortenden E-Mails, noch hilft es, die wichtigen E-Mails auch wirklich zu bearbeiten.

Ich helfe mir damit, dass ich wichtige Mails markiere und mit Erinnerungen versehe, wenn ich grad nicht antworten kann. Ich wünschte mir ein gutes Programm, das meine Newsletterabonnements verwaltet (das gibt es, aber ich war bisher mit keinem zufrieden). Ich wünschte mir bessere Möglichkeiten, die Informationen, die jetzt über viele Programme verstreut eintreffen, zu bündeln und besser zu speichern. Auch da gibt es Ansätze, aber darüber ein anderes mal mehr. Eigentlich hilft im Umgang mit der digitalen Flut nur eins: Disziplin. Und das wollen ja wohl weder Sie noch ich hören. Denn die digitalen Helfer sollen uns doch entlasten und nicht zu Disziplin zwingen.

Deshalb ist es wichtig, die Grenzen der Digitalisierung zu respektieren, den Bildschirm ab und zu auszuschalten und in die reale Welt zu wechseln. Das ist im Moment schwierig, ich weiss. Aber nichtsdestotrotz nötig. Deshalb machen wir das jetzt.

Basel, 26. Februar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©leungchopan – stock.adobe.com

Anmerkung: Der Kommentar basiert auf einem Vortrag, den ich am 23. Februar 2021 an der FHNW (natürlich digital per Zoom) gehalten habe.

3 Kommentare zu "Die Digitale Überwältigung"

  1. Guter Kommentar, bewegt sich jedoch bloss auf Nebenschauplätzen.
    Ein Geistlicher schrieb in der Kloster-Zeitschrift „Mariastein“ (Ausgabe März/April 2021), dass die Schweiz, Europa usw. den festgelegten CO2-Ausstoss-Wert für das Jahr 2020 erreichte. Möglich wurde dies „nur“ durch die Corona-Pandemie und deren Einschränkungen, hiess es weiter.
    Dieser über-lebenswichtige Punkt zählt. Zählt für unsere Umwelt. Denn die Umwelt kann ohne Mensch; der Mensch jedoch nicht ohne Umwelt.
    Alles andere ist Beigemüse…..

  2. Die Transformation zu Übermenschen kann eine qualitative Verarmung beinhalten: individuell und kollektiv. Digitalisierung ist dafür ein Katalysator und nicht die Ursache: für eine Art funktionaler Autismus. Die Köpfe, Herzen, Hände und Füsse von Menschen verkümmern, wenn sie perfekt und fehlerfrei nur noch denken, fühlen und tun wollen, was sie sollen. Roboter sind ihnen nicht überlegen: sie sind gleich.

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