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Mein Lieblingstier heisst Winter

Publiziert am 23. November 2021 von Matthias Zehnder

Sprache kann ganz unterschiedlich sein. Klar und trocken wie der Text einer Nachrichtenagentur, umständlich und ausschweifend wie ein Urteil des Bundesgerichts, blumig und emotional wie eine Liebeserklärung. Aber auch in der Literatur können sehr unterschiedliche Aspekte von Sprache im Vordergrund stehen.

Etwa der Rhythmus wie in der Aeneis von Vergil:

«Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden»

Oder das Malen der Laute wie in «Nis Randers» von Otto Ernst:

«Krachen und Heulen und berstende Nacht,
Dunkel und Flammen in rasender Jagd»

Der österreichische Dramatiker Ferdinand Schmalz bringt in seinem ersten Roman die Sprache mit genau diesen Elementen zum Klingen. «Mein Lieblingstier heisst Winter» heisst das Buch. 2017 hat Schmalz einen Auszug daraus am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb vorgelesen – und damit den Preis gewonnen. Jetzt ist der Roman erschienen.

Die Geschichte ist absurd und komisch – das Ganze also eine Art Kriminalkomödie oder, im Sinne Dürrenmatts, eine Groteske. Hauptfigur des Buchs ist Franz Schlicht, Vertreter für Tiefkühlkost. Im Mittelpunkt steht zwar ein Toter, gesucht wird aber nicht der Mörder, sondern die Leiche. 

Vor allem aber ist das Buch sprachlich eine Wucht.

Franz Schlicht ist Bofrost-Vertreter. Er fährt also regelmässig mit seinem Tiefkühl-Transporter bei seinen Kundinnen und Kunden vor und verkauft ihnen gefrorene Fertigmenüs und Glace. Zu jeder Kundin, jedem Kunden hat er sich Notizen gemacht.

«Es ist gerade diese Kenntnis persönlicher Vorlieben, die für so einen fahrenden Vertreter von äusserstem Interesse sind. Man muss die heimlichen Schwächen der Kundschaft kennen. Zum Beispiel im Sahnentortensegment: Weiss man erst die Geschmacksrichtung, für die der Kunde oder sie, die Kundin, ihre Schwächen hegt, dann hat man leichtes Spiel. Auch wenn, wie eben bei Frau Übelbacher, Lehrerin, alleinstehend und kurz vor dem Ruhestand, ein «Heute nichts!» jegliche Anbahnung, geschäftlicher Natur, zu unterbinden sucht, kann so ein beiläufiges «Der Bienenstich wär heut im Angebot» oft ungeahnte Wirkung tun. Ist man jedoch in dem Moment nicht absolut geschmacksicher, ist jede Chance dahin.» (S. 20)

So also legt sich Franz Schlicht die Kunden zurecht. Auch den Doktor Schauer. Bei dem steht im gescheiten Büchlein nur «Rehragout» und Schlicht weiss sofort, dass es bei Schauer nicht viel zu holen gibt. Seit mittlerweile sieben Jahren bringt Schlicht dem Doktor Schauer, der sichtbar an Krebs leidet, jeden zweiten Mittwoch eine Portion tiefgefrorenes Rehragout in Haus. 

Doch diesen Mittwoch ist es anders. Schauer bittet Schlicht herein, in den Keller. An den Wänden prangen Jagdtrophäen, Geweihe aller Art, darunter ein grosser Tieflkühlschrank. Schauer öffnet die Tür: Der Schrank ist voller Rehragout. Das ganze Ragout der letzten sieben Jahre lagert hier. Tiefgekühlt und Eis umflort.

Als die beiden Männer da vor dem Tiefkühlschrank stehen, teilt Schauer dem Schlicht mit, dass er sich heute noch das Leben nehmen werde. 

«Dass er drei Schlaftabletten schlucken wird, um sich dann in den Einschrank reinzulegen. Weil das Erfrieren bei langsam schwindendem Bewusstsein doch die angenehmste Weise sei zu sterben, Hinüber in die ewigen Jagdgründe zu wechseln. Dass ihm jedoch der Gedanke, auf ewig hier im Keller in dem Eisschrank drin zu liegen, um von irgendjemand, womöglich noch von seiner Tochter, gefunden dann zu werden, dass ihm dieser Gedanke unerträglich sei. Dass man vielleicht dann glauben könnte, dass es die Hitzewelle war, die ihn da in den Eiskasten hineingetrieben. Dass er doch auch, wie er, der Hirsch, so eine erhabene Entschlossenheit auch da im Freitod noch ausstrahlen wolle. Und dass an diesem Punkt jetzt er, der Schlicht, in diesem Plan auftauche. Dass mit den Möglichkeiten, mit seinen tiefkühlunternehmerischen Möglichkeiten, man einen Transport seines Leichnams doch in Angriff nehmen könnte. Um ihn an einem wohl gewählten Ort, da auf der Hunbertuswarte, dann bei Nacht und Nebel auszusetzen. Wenn dann die ersten Sonnenstrahlen ihn erwischen würden, würd er ganz langsam wieder auftauen. Was des Weiteren mit ihm passier, das wäre für ihn, wisse er sich mal an diesem für ihn so wichtigen Ort, wäre für ihn dann von nachranzigem Interesse. Es würd wohl irgendein Passant ihn dann entdecken und die Behörden auch verständigen. Natürlich würde dabei eine nicht kleine Summe, die er angespart, für ihn, den Schlicht, rausspringen.» (S. 23)

Tiefkühlvertreter Schlicht soll also die Leiche von Schauer nach dessen Selbstmord diskret entfernen und in tiefgekühltem Zustand in der Landschaft deponieren. Gesagt, getan, Schlicht schlägt ein.

Als er jedoch zum vereinbarten Zeitpunkt wieder im Keller auftaucht, ist zwar das Rehragout nicht mehr im Tiefkühlschrank, aber auch nicht die erwartete Leiche von Schauer. Der Schrank ist leer. Wo steckt Schauers Leiche? Das ist die quasi kriminologische Frage, der das Buch auf den nächsten etwa hundert Seiten in grotesk-komischer Weise folgt. Denn Schauers Tochter Astrid engagiert den Tiefkühllieferanten Schlicht als Detektiv.  

Das Resultat ist eine Mischung aus Odyssee, Kriminalromanparodie und groteskem Sprachkunstwerk, so surreal wie witzig, absurd und komisch. Ist es ein Roman? Das ist schwer zu sagen. Es ist auf jeden Fall ein Stück Literatur, das zu lesen, um beim Österreichischen zu bleiben, ein wahres Gaudi ist, wenn Sie sorgfältig genug auf die Sprache achten. Und wenn der Abgrund allzu tief sich auftut, fragt Franz Schlicht die Astrid, «ob sie nicht Lust hätte auf ein Eis. Weil so ein Creme-Eis hätte doch so manche schon vor all den Abgründen bewahrt, die so ein Leben halt bereithält. Weil, das habe er, der Schlicht, sich schon des Öfteren gedacht, dass wenn einem auch alle Gründe abhandenkommen und man dem Leben überdrüssig, so hilft zumindest, als letzter Anker, sich dann vorzustellen, dass man, wenn man erst tot, bestimmt kein Eis mehr essen könnt.» (S. 58) Sie sehen: Es ist ein Buch, das man sich selbst vorlesen sollte. 

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103974003

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 23. November 2021, Matthias Zehnder

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