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Revolution der Träume

Publiziert am 17. November 2021 von Matthias Zehnder

Im chaotischen Berlin von 1918 treffen sich die drei Freunde Carl, Artur und Isi. Sie erleben die Novemberrevolution, den Aufstand der Matrosen und wie die Aufständischen von den Gardeschützen zusammengeschossen werden. Carl möchte Kameramann werden, heuert bei der damals schon legendären Filmfabrik UFA an, Isi macht Revolution und tanzt sich durch die Grossstadt und Artur hat im Stillen eine verschworene Bande aufgebaut und mach Business mit einem Tanzpalast. Andreas Izquierdo ist mit «Revolution der Träume» ein historischer Roman in der Tradition von Erich Maria Remarque gelungen. Das Buch liest sich wie ein Film, es zeichnet starke Bilder der Zeit und vermittelt gleichzeitig viel Wissen über die Zeit von 1918 bis 1921, die doch für uns immer tief im Schatten des Zweiten Weltkriegs steht. Warum es für mich eines der besten Bücher des Jahres ist, sage ich Ihnen hier.

Als das Deutsche Volk am 9. November 1918 seinen Kaiser stürzte, weilte der gerade in Spa, jener Ortschaft in Belgien, die im Englischen zum Gattungsbegriff für «Heilbad» wurde. Sehr zu seinem Heil gereichte dem Kaiser der Aufenthalt also nicht: Seine eigene Regierung setzte ihn ab, als er im Bade weilte. 

Kaiser Wilhelm II. hatte sich nach Spa zurückgezogen, weil sich da das Hauptquartier der deutschen Heeresleitung befand. Mit anderen Worten: der Kaiser hoffte da auf Gleichgesinnte. Die Heeresleitung hatte allerdings schon im Sommer 1918 eingesehen, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war und hatte Kontakt zu den Allierten aufgenommen. Als Ende Oktober 1918 die Marineleitung überraschend noch einmal zur Offensive befahl, kam es in Kiel zum Aufstand der Matrosen: Sie weigerten sich, die Befehle auszuführen. Die Revolte griff schnell auf andere Truppenteile über, ja auf das ganze Reich. 

Um einer kommunistischen Revolution und sowjetischen Verhältnissen zuvor zu kommen, verkündete Reichskanzler Prinz Max von Baden in Berlin die Abdankung des Kaisers und übergab die Geschäfte an Friedrich Ebert, den Vorsitzenden der SPD. Die Novemberrevolution war also eine Revolution von oben aus Angst vor einem Aufstand von unten. 

Das Resultat war ein zerrissenes Land. Da waren die Sozialisten rund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die revolutionären Matrosen und die Soldaten, die ihre Gewehre niedergelegt hatten. Da waren die rechtsnationalen Kämpfer, etwa die Mitglieder der Garde-Kavallerie-Schützen-Division GKSD. Der Adel, der um Titel und Pfründe fürchtete. Die gemässigten Parteien der Mitte. Und da war ein Volk, das unter Hunger und Krankheiten litt – und Millionen von Toten und Schwerverletzten beklagte. Und endlich wieder unbeschwert leben und tanzen wollte.  

Die Jahre nach dem ersten Weltkrieg 1918 bis 1921 taumelte Deutschland zwischen Chaos und Ekstase, zwischen prüder Kaiserzeit und Aufbruch in den Expressionismus, zwischen 19. Jahrhundert und einer Gegenwart mit Automobil, Kino, Radio und Grammophon. In dieser Zeit spielt der neue Roman von Andreas Izquierdo: «Revolution der Träume». Oder besser: Der Roman spielt nicht nur in der Zeit, er stellt sie kongenial dar anhand der drei Hauptfiguren. 

Carl, Artur und Isi sind drei Freunde, die zusammen in Thorn in Westpreussen aufgewachsen sind, einem Gebiet, das nach dem ersten Weltkrieg an Polen fiel. Der Werdegang der drei, wie Artur und Carl zum Krieg eingezogen werden, welche Kämpfe Isi in Thorn ausfechten muss, das war Thema eines ersten Romans von Andreas Izquierdo. «Das Licht der dunklen Tage» heisst der erste Band, man muss ihn aber nicht gelesen haben, um dem Schicksal der drei Freund ein Berlin folgen zu können. Da treffen sie sich nämlich 1918 nach dem Krieg wieder.

Carl hat eine Fotografenlehre absolviert und im Krieg in einer Propagandaabteilung gedient. Er kennt die Lügen und die Tricks der Heeresleitung – aber er liebt die neue Bildtechnik. In Berlin sucht er Kontakt zur UFA, der schon damals legendären Filmfabrik, wo Ernst Lubitsch und andere Filmgeschichte schreiben. Carl möchte bei der UFA als Kameramann anheuern. Auf der Strasse trifft er unverhofft auf Isi. Die junge, rebellische Frau kämpft auf der Seite der Matrosen und der Spartakisten gegen die Militärs. Zusammen suchen sie Artur. Er wurde im Krieg schwer verletzt. Jetzt fehlt im das halbe Gesicht. Er hat es durch eine unheimliche Blechmaske ersetzt. Artur hat sich in der Berliner Halbwelt bereits etabliert, teils als Ganove, teils als Geschäftsmann. Wobei in den Berliner Nachkriegsjahren nicht klar ist, wann das eine aufhört und das andere beginnt. Artur hat einen Vergnügungspalast aufgebaut, eine Bar mit Tanzfläche, oder ist es ein Bordell?

Carl muss sich in Berlin zuerst zurechtfinden. In der grossen Stadt ist alles anders. Isi sagt zu ihm: «Unsere Welt ist nicht mehr Thorn. Und das ist auch gut so. Hier ist alles neu, alles dreht sich rasend schnell! Bleib stehen, und du wirst herausgeschleudert. Du musst nicht alles gut finden, Carl, aber finden musst du dich! Sonst bist du verloren.» (S. 186)

Carl findet immer wieder neue Motive mit seiner Kamera. Durch seinen Sucher sehen wir die Aufstände der Matrosen und wie sie rücksichtslos von rechtsnationalen Truppen zusammengeschossen werden. Wir werden Zeuge, wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zusammengeschlagen und entführt werden. Als Fotosujet bleibt Carl nur der Schuh, den Rosa Luxemburg dabei verliert.

Alle drei setzen sich mit der Zeit durch in dieser verrückten Stadt. Carl lernt als Kameramann bei der UFA Ernst Lubitsch kennen und die Filmstars der Zeit, darunter Pola Negri und Emil Jannings. Artur schart eine Bande von bedingungslos loyalen Männern um sich auf und betreibt mehrere Lokale. Und Isi verliebt sich in Aldo. Leider ist Aldo ein von Torstayn und die Eltern sind alles andere als amüsiert, dass ihr Erbe sich in Berlin in eine Bürgerliche verliebt hat. Und dann noch eine mit einem so unverschämt offenen Mundwerk wie Isi.

Es sind wilde und hektische Zeiten. «Die Friedrichstrasse war wie ein Spiegel der Stadt. Auf der einen Seite hektische Betriebsamkeit, Automobile, Männer in eleganten Mänteln, Frauen mit kapriziösen Hüten, auf der anderen die Bettler und Kriegskrüppel, die hier auf Barmherzigkeit hofften: verlorene Gestalten, Männer ohne Arme und Beine, zerstörte Gesichter. Wie der Mann mit dem zerschossenen Gesicht, der eine Büchse Münzen klimpern less und immer nur «blind, blind» sagte. Immer wieder: «Blind, blind.» Sonst nichts. Den ganzen Tag. Zwischen den Extremen der Rest: die Angestellten, das Personal, die Arbeiter. Immer in EIle. Angetrieben von ihren Dienstherren und der Angst vor Arbeitslosigkeit. Dem Hunger. Der Strasse der Bettler, die ihnen stetige Warnung war, was passierte, wenn sie nicht alles taten, was man von ihnen verlangte.» (S. 260)

Carl lernt auf die harte Tour, dass nicht jeder, der arm ist, anständig ist und nicht jeder, der reich ist, ein Schurke. (S. 281) 

Artur mit dem halben Gesicht verkörperte dieses Nebeneinander perfekt, er schlägt gewissermassen eine Brücke zwischen den Welten: «Die klare, schlaue, weitsichtige Hälfte ging in die andere über, unter der Gewalt und Zerstörung lauerten. (S. 291)

Der Roman erzählt dabei nicht bloss die spannende Geschichte von drei Freunden im Berlin der frühen Nachkriegszeit. Er erzählt und vermittelt auch die Geschichte der Weimarer Republik, der Nachkriegswirren nach dem Ersten Weltkrieg, den politischen Auseinandersetzungen und den vielen bürgerkriegsähnlichen Konflikten, den Aufständen und Revolten und der brutalen Art, wie das Militär sie niederschlug. Man realisiert bei der Lektüre, dass der Erfolg von Hitler und seiner NSDAP kein Zufall war, sondern Folge dieser politischen Wirren. 

Andreas Izquierdo hat seine Geschichte perfekt konstruiert. Isi, Carl und Artur verkörpern je einen Aspekt der Zeit und geben so Einblick in wichtige Teile der Entwicklung. Bei Isi ist es zuerst der Traum der Revolution, wie ihn die Matrosen und die Spartakisten träumen, dann die Realität der auseinanderklaffenden Schichten in Deutschland. Bei Carl ist es die entstehende Filmindustrie, die Mediengeschichte, wie sie in der UFA und ihren Kinos geschrieben wird. Und Artur gibt Einblick in die, sagen wir: Wirtschaftsgeschichte. Am Schluss des Romans sieht er die Inflation kommen und heckt einen Plan aus, wie er ganz legal das ganz grosse Vermögen damit machen kann. Und dann erinnern die drei Freunde auch noch ein bisschen an die drei Kameraden, wie sie nicht nur den gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque bevölkern. 

Das Buch liest sich wie ein Film, es zeichnet starke Bilder der Zeit und vermittelt gleichzeitig viel Wissen über die Zeit von 1918 bis 1921, die doch für uns immer tief im Schatten des Zweiten Weltkriegs steht. Kein Zweifel: Für mich eines der besten Bücher des Jahres.

Andreas Izquierdo: Revolution der Träume. Roman. Dumont Verlag, 512 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-8321-6499-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832164997

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Basel, 17. November 2021, Matthias Zehnder

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