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Kleine Paläste
«Kleine Paläste» heisst der neue Roman von Andreas Moster. Gemeint sind damit zwei Häuser oder besser: zwei Familien, Nachbarn seit Jahrzehnten, die miteinander leben und sich dabei ineinander verhakt haben. Das Buch erzählt, wie es dazu gekommen ist und das auf zwei Zeitebenen: 1986 sind die Kinder der beiden Familien Teenager, 2018 sind sie Ende 40. Beide haben eine Flucht hinter sich: Hanno ist in die Welt hinaus geflüchtet, Susanne in ihr Haus. Jetzt sind beide wider da. Hanno ist heimgekehrt, um die Pflege seines an Alzheimer erkrankten Vaters zu übernehmen. Nachbarstochter Susanne hilft ihm dabei, ja, sie drängt sich richtig auf. Warum bloss? Die Erzählung von Andreas Mostar übt einen eigentümlichen Sog aus. Man kann sein Buch kaum weglegen und ist seltsam fasziniert von den Untoten und den Lebenden dieser seltsam normalen Familien.
Eigentlich sind es zwei ganz normale Häuser mit zwei ganz normalen Familien in einer ganz normalen Stadt. 1986, auf der ersten Zeitebene des Buchs, sind Hanno und Susanne, der Sohn der einen und die Tochter der anderen Familie Teenager. 2018, auf der zweiten Zeitebene des Buchs 32 Jahre später, sind sie Ende 40. Beide sind aus der verlogenen Enge ihrer Häuser geflüchtet. Hanno, indem er in die Welt hinaus reiste, Susanne, indem sie in ihrem Haus erstarrte.
Jetzt sind beide wider da. Susannes Eltern sind beide schon länger tot. Hannos Mutter ist erst kürzlich gestorben. Hanno ist heimgekehrt, um die Pflege seines an Alzheimer erkrankten Vaters zu übernehmen.
Beide Familien sind bis heute ineinander verkeilt, umkreisen einander wie lauernde Tiere, wie verletzte Tiere. Ja, auch die toten Familienmitglieder sind noch da. Sie leben weiter in ihren Häusern, bekommen alles mit und leiden darunter, dass sie nichts mehr ändern können. Denn in der Vergangenheit haben beide Jugendlichen etwas so Schreckliches erlebt, dass sie die Flucht ergriffen haben. Hanno nach aussen, in die Welt, Susanne nach innen.
Das kling jetzt schrecklich, ist es emotional wohl auch, es liest sich aber gar nicht so. Andreas Moster ist beim aller Schwere des Themas ein wunderbar leicht zu lesender, feinfühliger Roman gelungen, der mit leicht gezeichneten, präzisen Beobachtungen überzeugt.
Meine Sammlung bemerkenswerter erster Sätze ist um ein wunderbares Exemplar reicher geworden. «Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden.» So erzählt es zu Beginn des Romans Sylvia Holtz. Tatsächlich bringt der riesige Hund im Haus, der auch noch Lupus heisst, sie auf der Treppe zu Fall. Sie stürzt und stirbt – erzählt aber weiter, was mit ihr geschieht, als wäre nichts geschehen. Denn Sylvia Holtz lebt weiter als eine Art Gespenst im Haus. Sie bekommt alles mit. Wie ihr Sohn Hanno nach 32 Jahren nach Hause zurückkehrt. Wie er die Pflege ihres an Alzheimer erkrankten Mannes Carl übernimmt. Wie er die Kartoffeln in der Bratpfanne anbrennen lässt. Wie er ihre so lange gehütete Nähschere dazu verwendet, eine Zahnpasta-Tube aufzuschneiden. Die tote Sylvia beobachtet es und kann nichts daran ändern, dass die Ordnung in ihrem Haus auf den Kopf gestellt wird. So muss die Hölle einer Hausfrau aussehen.
Zur Hölle wird ihr aber nicht die Ordnung im Haus, die langsam aber sicher vor die Hunde geht. Zur Hölle wird ihr, weil sie langsam aber sicher begreift, was damals, vor 32 Jahren, in ihrem Haus passiert ist. Was ihren Sohn Hanno aus dem Haus vertrieb und Nachbarstochter Susanne dazu brachte, in ihr Haus zu flüchten.
Die beiden Eltern von Susanne Dreyer, Jürgen und Karin, sind auch noch hier. Sie sind glücklich. Sie sind zwar tot, aber sie können trotzdem mit Susanne zusammensein. Allerdings merkt Susanne nichts davon und das ist vielleicht auch besser so. Denn ein Grund für ihre innere Flucht ist den Verrat ihrer Eltern, den sie vor 32 Jahren erlebt hat.
Schnell wird bei der Lektüre klar, dass das traumatische Erlebnis vor 32 Jahren sich zwischen Carl und Susanne abgespielt haben muss. Andreas ist nicht zu erklären, warum Susanne das Nachbarhaus beobachtet, warum sie sich bei Hanno meldet und ihm bei der Pflege seines Vaters hilft, warum sie eines morgens beim Rasieren Carl mit dem Rasiermesser tief in eine Warze am Kinn schneidet, dass es hell und unaufhörlich blutet.
Andreas Moster beschreibt in zarten Worten und mit spannendem Bogen, wie diese beiden Familien sich verkeilt haben irgendwo zwischen heiler Fassade, bürgerlicher Selbstdarstellung und unverstelltem Egoismus. Susannes Vater Jürgen wurde als Betrüger gesucht und brachte sich dann um – verglichen mit Hannos Vater Carl war Jürgen zwar schwächlich, aber ein Ehrenmann. Denn Carl hat es verstanden, seinen Egoismus hinter seiner wohlsituierten Fassade zu verbergen.
Aber warum können sie nicht voneinander lassen, wenn sie sich doch so weh tun? «Weil wir von unseren Kindern nie zurückbekommen, was wir ihnen gegeben haben, das Konto ständig im Minus, ein riesiges Verlustgeschäft, und statt loszulassen, fangen wir an zu betteln, machen uns klein und schwach für ein bisschen Mitleid, blasen uns auf zu Ochsenfröschen, bis wir uns im Spiegel selbst nicht mehr erkennen.» (S. 231 f.)
Eigentlich schwere Kost. Trotzdem übt die Erzählung von Andreas Mostar einen eigentümlichen Sog aus. Man kann sein Buch kaum weglegen und ist seltsam fasziniert von den Untoten und den Lebenden dieser seltsam normalen Familien.
Andreas Moster: Kleine Paläste. Arche Verlag, 304 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-7160-2804-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783716028049
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Basel, 2. Dezember 2021, Matthias Zehnder
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