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Hannahs Geheimnis

Publiziert am 1. Februar 2022 von Matthias Zehnder

Dr. Hannah Weiss ist eine brillante Wissenschaftlerin: Sie ist Physikerin und forscht an der Kernspaltung. Und sie ist Jüdin. Das ist 1938 in Deutschland lebensgefährlich. Hannah arbeitet im Kaiser-Wilhelm-Laboratorium in Berlin. Im Keller. In den gut ausgestatteten Laboratorien in den Stockwerken über ihr sind Juden nicht mehr erwünscht. Trotzdem kriegt sie in ihrem Keller immer wieder Besuch von einem deutschen Kollegen, dem hochmütigen (aber beunruhigend charmanten) deutschen Physiker Stefan Frei. Er ist der Sohn eines der führenden Männer des Reichs. Besucht er sie, weil Hannah eine schöne Frau ist oder weil sie drauf und dran ist, der Kernspaltung von Uran auf die Sprünge zu kommen? Und was, wenn sie herausfindet, wie sich Uran spalten lässt? Soll sie, die Jüdin, Hitler die mächtigste Waffe aller Zeiten in die Hände geben? Um diese Frage kreist der Roman «Hannahs Geheimnis» der amerikanischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jan Eliasberg. Hannah gerät im Roman zwischen alle Fronten – als Wissenschaftlerin und als Frau. In meinem Buchtipp verrate ich Ihnen, wer das reale Vorbild der jüdischen Physikerin war – und was aus den Experimenten im Keller des Kaiser-Wilhelm-Laboratoriums wurde.

Am 16. Juli 1945 bringt die amerikanische Armee in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe zur Explosion: Wissenschaftler aus der ganzen Welt haben unter der Führung von J. Robert Oppenheimer in den Jahren davor in Los Alamos an der vernichtenden Waffe gearbeitet. Unter ihnen befindet sich auch die österreichische Jüdin Dr. Hannah Weiss, eine Physikerin, die sich früh auf die Erforschung der Kernspaltung spezialisiert hat.

Wenige Wochen vor dem Test erhält Hannah Weiss Besuch von einem Offizier der amerikanischen Spionageabwehr: Jack Delaney hat den Auftrag, im Camp der Wissenschaftler nach einem Leck zu suchen. Offenbar sind Informationen von Los Alamos nach Berlin gelangt. Im Zentrum seines Verdachts steht die jüdische Physikerin Hannah Weiss. Ausgerechnet sie soll Forschungsgeheimnisse an die Deutschen verraten haben? War Stefan Frei in Berlin doch mehr als nur ein charmanter Vorgesetzter? Was haben die Postkarten zu bedeuten, die Weiss regelmässig in die Schweiz schickt?

Jack Delany spricht mit Hannah Weiss, nicht nur im Verhörraum, sondern auch beim Essen. Die beiden kommen sich näher. Jack gewinnt das Vertrauen von Hannah – und deckt Schritt für Schritt die Geschichte auf, die Hannah Weiss verbirgt. In Rückblenden erzählt Autorin Jan Eliasberg, wie Hannah in Berlin Uran erforschte, wie sie zu Stefan Frei stand, wie sie nach Los Alamos kam und was wirklich hinter den Postkarten und den Depeschen an das Berliner Institut steckt. 

Kurz vor der Zündung der Testbombe wird bekannt, dass Hitler tot ist. Die wichtigste Motivation der geflüchteten Wissenschaftler ist dahin: Sie wollten die Atombombe entwickeln, bevor die Nazis das schaffen konnten. Trotzdem machen die Amerikaner weiter. Warum?

Im Buch gibt J. Robert Oppenheimer einem der Wissenschaftler die Antwort darauf: «‹Warum haben sie mitgemacht, Peter? Warum haben sie nicht auf dem Absatz kehrt gemacht und sind gegangen?› Oppenheimers unbarmherziger Blick richtete sich auf den Horizont. ‹Ich sage Ihnen, warum. Kein echter Wissenschaftler würde die Möglichkeit ausschlagen, die Energie der Materie selbst frei zu setzen, wortwörtlich die Zusammensetzung der Dinge zu verändern. Sie sind genau wie wir alle. Unsere Neugier ist masslos. Unsere Moral folgt der Bequemlichkeit.›»

Hannah kennt noch einen Grund, warum die Wissenschaftler nicht mehr aufhören konnten: «Die Gesetze der Physik sind endlich und unbeugsam. Es gab eine Zeit, da zog ich daraus grossen Trost. Ich dachte, ich könne das Ergebnis kontrollieren, indem ich den Weg der Kettenreaktion korrekt vorhersagte. Der naive Glaube, ich hätte alles unter Kontrolle, war eine müssige Fantasie. Sobald eine Kettenreaktion in Gang gesetzt wurde, gibt es keine Änderungen mehr, gibt es kein Entrinnen.»

Nein, es gibt kein Entrinnen mehr aus der Kettenreaktion. Für die ganze Menschheit nicht. Das Ergebnis der Arbeit der Wissenschaftler furchtbar: Die Explosion in der Wüste von New Mexiko macht jedem klar, dass es kein zurück gibt. Jetzt kann der Mensch die Erde zerstören.  

Lise Meitner und Otto Hahn in ihrem Labor im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, 1913.

Hannah Weiss ist eine fiktive Heldin im Roman von Jan Eliasberg. Sie hat aber ein reales Vorbild: Die Figur basiert auf der jüdischen Physikern Lise Meitner, die, wie Hannah Weiss, im Kaiser-Wilhelm-Laboratorium in Berlin an der Kernspaltung forschte, bis sie aus Berlin flüchten musste. Wie Hannah Weiss blieb Lise Meitner mit ihren deutschen Kollegen in Kontakt. Vorbild für die Figur des Stefan Frei ist Otto Hahn: Der Chemiker hat zusammen mit Lise Meitner die Kernspaltung entdeckt. Er blieb in Berlin und arbeitete weiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie. Nach dem Krieg wurde er zu einem der schärfsten Kritiker der Atomtests.

Jan Eliasberg ist auf der Basis dieser realen Geschichte ein spannender Roman gelungen, teils Thriller, teils Liebesgeschichte, teils Kolportage, immer aber nah an der Realität und deshalb höchst anregend. 

Jan Eliasberg: Hannahs Geheimnis. Piper, 352 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-492-06248-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492062480

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 1. Februar 2022, Matthias Zehnder

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