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Ende in Sicht

Publiziert am 8. Februar 2022 von Matthias Zehnder

Es gibt nichts Traurigeres als ein Mädchen, das sich umbringen will. Und es gibt nichts Tristeres als eine alte Frau, die genug hat vom Leben und ihm deshalb mit Sterbehilfe ein Ende bereiten will. Es sei denn, die beiden begegnen sich wie im Roman von Ronja von Rönne. Juli ist 15. Sie will sterben und springt von einer Autobahnbrücke. Hella ist 69. Sie will auch sterben und ist deshalb mit ihrem alten, klapprigen Passat unterwegs in die Schweiz, als vor ihrem Auto Juli auf der Fahrbahn landet. Hella kann bremsen und rettet Juli davor, überfahren zu werden. Juli steigt zu Hella ins Auto und die beiden sterbewilligen Frauen, die voneinander aber zunächst nicht wissen, dass sie beide sterben wollen, beginnen einen Roadtrip der besonderen Art. Depression ist ein schwieriges, ein trauriges Thema. Warum Sie im Roman von Ronja von Rönne trotzdem lachen können, sage ich Ihnen diese Woche in meinem Buchtipp.

Ronja von Rönne erzählt in ihrem Buch die Geschichte von zwei Frauen, die ungleicher nicht sein könnten. Eigentlich haben sie bloss einen Wunsch gemeinsam: Sie möchten beide ihr Leben beenden. Juli ist 15. Ihre Mutter hat sie nie kennengelernt, ihr Vater hat ihr lange weisgemacht, die Mutter sei eine berühmte Schneckenforscherin und deshalb in der Welt unterwegs. Juli hat sich deshalb früh intensiv mit Schnecken beschäftigt, damit sie mit ihrer Mutter sprechen kann, wenn sie dann mal heimkommt. Bloss ist sie nie heimgekommen. Zu Beginn des Buchs steht Juli im Regen auf einer Autobahnbrücke. Ihr Vater meint, sie sei auf einer Klassenfahrt nach Prag, ihre Klassenlehrerin wähnt sie krank zu Hause. Niemand vermisst sie. Juli springt in die kalte, nasse Nacht hinaus – präzise vor das Auto von Hella.

Hella ist 69 und hat ihre besten Tage hinter sich. Weit hinter sich. Sie war einmal eine Schlagersängerin, einigermassen gut und einigermassen bekannt, sie hat oft gefeiert und gefestet und das sieht man ihr auch an. Jetzt findet sie, es sei genug. Ihre Nachbarin ist kürzlich an Krebs gestorben. Hella hat sich ihre medizinischen Dokumente unter den Nagel gerissen, ihren Namen eingeflickt und sich einen Sterbehilfe-Termin bei Dignitas in der Schweiz organisiert. Jetzt sitzt sie in ihrem alten Passat, die Scheibenwischer kämpfen gegen den Regen und Hella kämpft gegen den Schlaf. Sie wird aber hellwach, als sie Juli auf der Fahrbahn entdeckt. Sie schafft es, zu bremsen und auszuweichen. Sie zerrt Juli von der Fahrbahn und setzt sie in ihr Auto. So beginnt ein absurder Roadtrip.

Beide Frauen suchen den Tod, verheimlichen das aber zunächst voneinander. Die eine hat schon zu viel gelebt, die andere noch zu wenig. Sie haben sich eigentlich nichts zu sagen und verstehen sich zunächst auch kaum. Es verbindet sie nur, dass sie zusammen in dem Auto sitzen und beide sterben wollen. Eigentlich tieftraurig. Wäre da nicht Hella, die sich von der Welt im Allgemeinen und den Männern im Besonderen nichts mehr sagen lässt und vor dem Abtreten in der Schweiz noch ihren Spass haben will.  

Zunächst landen sie in der Notaufnahme eines Spitals, wo Juli notdürftig verarztet wird, dann in einem Motel-Zimmer. Hella schleust sie beide ein in eine Wellness-Landschaft, wo sie im Solarium die nächste Nacht verbringen und mindestens Hella es sich gut gehen lässt. Mit der Zeit finden beide heraus, dass die andere sich umbringen will – und finden das Vorhaben der jeweils anderen indiskutabel. 

«Auch Juli neben ihr sah alles andere als glücklich ‹Du willst mir nicht sagen, warum du dich umbringen willst, oder?›, fragte Hella.
Schweigen. Juli versuchte sich nicht zu bewegen, starrte nur hinaus aus dem Fenster, an dem die Abfahrt Hünfeld vorbeiflog.
‹Also wegen einem Jungen zumindest nicht. Und bevor du fragst: Ich werde nicht gemobbt, hab Freunde und mein Vater…›, sie korrigierte sich, ‹…meine Eltern schlagen mich auch nicht.›
‹Was ist mit Notendruck? Ich habe gelesen, dass immer mehr von Schülern erwartet wird.›
Juli musste fast lachen. Auf der langen Liste, warum die letzten Jahre so qualvoll für sie gewesen waren, standen ihre Zensuren wirklich auf dem allerletzten Platz. Im Gegenteil, sie war nicht begriffsstutzig. Lernen bereitete ihr grundsätzlich keine Probleme, sie liebte Kunst und Mathe. Das Schlimmste waren die Pausen. Nicht etwa, weil man sie da hänselte, sondern weil sie plötzlich für ihre Mitschüler unsichtbar wurde. Pausenbrote schmeckten nicht besonders gut im Ambiente der vollgeschmierten Toilettenkabinen, auf die sich Juli regelmässig zurückzog, sobald es zur Pause läutete. Immerhin entging sie so der Awkwardness, sich unauffällig zu den anderen stellen zu müssen und trotzdem Insider nicht zu verstehen. So gesehen hatte sie das unsichtbar sein schon lange geübt, bevor sie sich mit dem Sprung von der Brücke schliesslich endgültig dafür entschieden hatte. Die Schulpsychologin war keine grosse Hilfe gewesen. Sie meinte nur lakonisch, dass die Toilette wohl ihr Safe Space sei, und den bräuchten Teenager halt manchmal.» (S117)

Das Problem von Juli findet sich nicht in ihrem Umfeld um sie herum, das Problem von Juli ist in ihr drin. Im Roman ist davon nicht explizit die Rede, man merkt es aber deutlich am Verhalten von Juli. Im Nachwort legt Ronja von Rönne es offen: Das Problem in Juli drin ist die Depression.» Von Rönne zitiert den Satz eines befreundeten Autors: «Alles erfunden, aber alles empfunden» und schreibt: «Obwohl dieses Buch sicher nicht ohne meine eigenen Erfahrungen mit dem Thema entstanden wäre, gebührt der Depression ganz sicher kein Dank. Vor allem ist dieses Buch nämlich nicht wegen, sondern trotz dieser Scheisskrankheit entstanden, und deswegen gilt mein Dank vor allem den Menschen, die mich in dunkleren Zeiten aushalten, mir aufhelfen, mich daran erinnern, dass eine kranke Wahrnehmung der Welt noch lange nicht bedeutet, dass tatsächlich alles so schlimm ist, wie es tut. Meistens ist mein Leben nämlich ziemlich schön.»

Das gilt im Übrigen auch für ihr Buch: Auch wenn es von einem ernsten, ja traurigen Thema handelt, ist ihr Buch meistens ziemlich lustig. Es hilft jedenfalls, sich dem Thema Depression anzunähern und zu verstehen, was mit einem Menschen passiert, auf dessen Schultern der grosse, schwarze Vogel Platz nimmt. Vielleicht gibt das Buch auch Anlass, mit anderen Menschen so ins Gespräch zu kommen, dass sie mit ihren Pausenbroten nicht mehr auf die Toilette flüchten müssen. «Ende in Sicht» ist deshalb nicht nur ein gutes, sondern auch ein wichtiges Buch.

Ronja von Rönne: Ende in Sicht. Roman. DTV, 256 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-423-28291-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423282918

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 8. Februar 2022, Matthias Zehnder

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