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Geheimnisvolle Garrigue

Publiziert am 5. Juli 2022 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Meine Sommerserie beginnt im Südosten von Frankreich, in der Provence. Hier, in Marignane, an einem Kanal, der einst Marseille durch einen gigantischen Wassertunnel mit der Rhone verband, ist eine junge Frau verschwunden. Oben an der Strasse lehnt ihr Mountain Bike an einem Baum, unten, am Kanal, wird ihr linker Schuh gefunden. Dieses Detail erinnert an eine Mordserie: 23 Jahre zuvor sind hier schon einmal junge Frauen verschwunden. Von allen fand man nur den linken Schuh am Kanal. Ist der Mörder zurückgekehrt? Capitaine Roger Blanc und sein Team stehen unter Druck. Einfach werden die Ermittlungen nicht, denn soeben hat er französische Präsident den Ausnahmezustand über das Land verhängt. Die Covid-Krise nimmt ihren Anfang, die Polizei ist gefordert. In meinem 111. Buchtipp sage ich Ihnen, warum sich die literarische Reise in die Provence lohnt.

Der Tunnel du Rove ist wohl eines der verrücktesten Bauwerke Europas. Cay Rademacher schreibt in seinem Krimi, es sei ein Projekt wie aus einem Roman von Jules Verne. Weil Marseille 40 Kilometer östlich der Rhone-Mündung liegt, mussten die Binnenschiffe das letzte Stück zwischen Rhone und Marseille über das Mittelmeer fahren. Diese Fahrt war gefährlich für die Frachtschiffe, die für die Flussfahrt konzipiert waren. Findige Ingenieure kamen deshalb auf die Idee, eine Abkürzung zu bauen: Sie konzipierten den Canal de Marseille au Rhône, der den Étang de Berre mit dem Hafen von Marseille verband. Auf dieser Strecke stehtaber eine schroffe Hügelkette im Weg, die Chaîne de l’Estaque. Diese Hügelkette durchbohrten die Ingenieure mit einem Tunnel, dem Tunnel du Rove. Der Tunnel beginnt im Port de la Lave, dem Hafen von Marseille und ist sieben Kilometer lang, 22 Meter breit und über 15 Meter hoch. Er war mit Schiffen mit einem Gewicht von bis zu 1500 Tonnen befahrbar und gehört zu den grössten Schifffahrtstunnels weltweit.

Der Étang de Berre bei Marseille – von hier aus führt der Kanal in den Berg.

Im Städtchen Marignane tritt der Kanal wieder ans Tageslicht. Hier, am Nordwestportal des Tunnel du Rove, finden die Polizisten den linken Schuh der jungen Frau. Heute ist der Tunnel abgesperrt: 1963 kam es etwa zwei Kilometer hinter dieser Mündung im Tunnel zu einem Bergsturz. Die Wasserstrasse führt bei Marignane immer noch in den Berg hinein, nach zwei Kilometern ist aber Schluss. Es ist ein unheimlicher, düsterer Ort, wie geschaffen für den Ausgangspunkt eines packenden Krimis. 

Der linke Schuh erinnert an eine Mordserie, die sich 23 Jahre zuvor abgespielt hat: Kurz hintereinander sind vier junge Frauen verschwunden. Gemeinsamkeiten hatten sie nicht, bis auf die Tatsache, dass sie alle sehr hübsch waren und aus der Region stammten. Von allen jungen Frauen wurde nur der linke Schuh gefunden, immer vor dem Tunnel du Rove. Die jungen Frauen blieben verschwunden, auch ihre Leichen tauchten nie auf.

Capitaine Roger Blanc und seine Leute suchen deshalb fieberhaft nach Spuren am Kanal. Denn Laetitia Fabre, die junge Frau, die verschwunden ist, ist die Freundin von Brigadier Yves-Laurent Sylvain. Der junge Polizist hat denn auch den Alarm ausgelöst. Es bleibt jedoch nicht viel Zeit, sich um die Spuren zu kümmern. In ganz Europa greift ein neues Virus um sich und verbreitet eine Krankheit, die wir heute nur zu gut als Covid-19 kennen. Am 16. März 2020 ordnet der französische Staatspräsident Emmanuel Macron eine landesweite Ausgangssperre an. Roger Blanc und seine Polizisten müssen auf den Strassen der Provence für Ordnung sorgen und kontrollieren, ob alle Bürgerinnen und Bürger das Confinement einhalten, den Hausarrest, zu dem sie ihr Präsident verdonnert hat. Dabei haben die Polizisten selbst Angst vor der Krankheit, wissen nicht, wie sie noch zu Lebensmitteln kommen, weil die Supermärkte leergekauft werden, und haben deshalb kaum mehr Zeit für die Ermittlungen in Sachen Laetitia Fabre und ihrem linken Schuh. Und dann verschwindet eine weitere jungen Frau und wieder findet die Polizei den linken Schuh des Mädchens am Tunnel du Rove.

Es ist eine spannende Geschichte, die Cay Rademacher in seinem neuen Roman erzählt. Interessant daran ist nicht nur der Plot rund um die verschwundenen Frauen. Das ist ein klassischer Krimi mit einer unerwarteten Wendung zum Schluss. Mindestens ebenso spannend zu lesen ist die Beschreibung der hektischen Tage Mitte März 2020. Das Confinement, das die französische Regierung beschliesst, führt dazu, dass die Strassen plötzlich leer sind. Es fahren kaum mehr Autos, es fliegen keine Flugzeuge mehr, alle Boote bleiben im Hafen. Plötzlich sind wieder Vögel zu hören. Es scheint, als würde die Natur die Welt zurückerobern. Der Krankheit haben Roger Blanc und seine Kollegen nichts entgegenzusetzen. Sie haben weder Masken noch Desinfektionsmittel und sie haben keine Ahnung, wie sie sich vor der Krankheit schützen können.

Paulette, die Freundin von Roger Blanc, arbeitet auf der Intensivstation des Krankenhauses von Salon-de-Provence. Aus ihren Erzählungen bekommen wir mit, wie es in den Spitälern zu Beginn der Pandemie zu- und hergegangen ist. Auch zu Hause kreisen die Gespräche zwischen Roger und Paulette um  Pandemie und Kriminalfall.

«Was bedrückt dich?», murmelte Paulette, die schon halb eingeschlafen war. «Ist es das Virus?»
«Das auch.» Er streichelte ihr über den Rücken. Paulette war ebenfalls erst mitten in der Nacht von der Arbeit gekommen. Sie hatte mit ihrem Kollegen das Krankenhaus von Salon-de-Provence, wie sie es nannte, «sturmfest verzurrt». Zumindest, so gut es ging, denn eigentlich fehlt es an allem. …
«Hast du schon einmal von den Disparues du Rove gehört?», fragte er. Seine Geliebte hatte, anders als er, ihr ganzes Leben in der Provence verbracht. «Mmh», machte sie und schmiegte sich enger an ihn. «Das ist aber ewig her.»
«Vielleicht nicht.» Sie schlug die Augen auf, plötzlich schien sie wieder hellwach zu sein. Sie blickte ihn besorgt an. «Ich war damals ungefähr im selben Alter wie die verschwundenen Mädchen», flüsterte sie. «Meine Freundin und ich, wir hatten Angst. Wir sind nur noch gemeinsam ausgegangen. Das war das erste Mal im Leben, dass ich mir eine Dose Pfefferspray gekauft habe. Irgendwann hat diese schreckliche Sache einfach aufgehört, und irgendwann denkt man nicht mehr daran. Was ist denn passiert?»
Er berichtete ihr von dem neuen Vermisstenfall. «Dieser Tunnel…», er suchte nach den richtigen Worten, «ist kein guter Ort», schloss er. «Menschen verschwinden im Wasser. Menschen verschwinden in den Bergen. Aber ein Gewässer unter einem Berg… verdammt, das ist der perfekte Platz für jede erdenkliche Abscheulichkeit.»
«Ich war niemals dort. Ich kenne auch niemanden, der jemals freiwillig in den Tunnel du Rove hineingegangen wäre. Glaubst du, der Täter von damals schlägt jetzt wieder zu?»
«Das weiss ich nicht», erwiderte Blanc, doch das war genau genommen nicht ganz ehrlich – denn es war genau das, was er befürchtete.» (S. 44f.)

Der Provence-Krimi rund um Capitaine Roger Blanc bietet eine spannende Mischung aus Kriminalfall, Covid-Zeitgeschichte und provenzalischem Lokalkolorit. Ein Buch, wie geschaffen für die Sommerferien.

Cay Rademacher: Geheimnisvolle Garrigue. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. DuMont, 432 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-8321-8186-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832181864

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 5. Juli 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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