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Die fünf besten Bücher des Jahres 2025
Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp, ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 50 Bücher habe ich Ihnen dieses Jahr empfohlen. Jetzt ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Ich stelle Ihnen im Folgenden die fünf besten Bücher des Jahres 2025 vor. Das ist natürlich eine subjektive Wertung. Es gibt bestimmt weitere, sehr gute Bücher. Sagen wir also: Von den 50 Büchern, die ich Ihnen dieses Jahr empfohlen habe, sind es jene fünf Titel, die mich besonders beeindruckt haben. Es sind Bücher, die mir im Gedächtnis geblieben sind, sei es, weil sie stark geschrieben sind, weil mich die Figuren beeindruckt haben oder weil sich mit ein bestimmtes Bild eingeprägt hat. Ich habe für diese Auswahl alle Bücher noch einmal zur Hand genommen, noch einmal abgewogen und bewertet. Diese fünf Bücher haben auch aus der Distanz Bestand. Als Geschichten, aber auch als Sprachkunstwerke. Ich möchte sie nicht missen und lege Ihnen deshalb diese Titel ans Herz. Also – hier kommen Sie: Die fünf Bücher des Jahres 2025, die Sie meiner Ansicht nach nicht verpassen dürfen, die ich selbst weiterschenke, die ich gerne noch ein zweites oder sogar ein drittes Mal lese.
Was ist ein gutes Buch? Ich stelle Ihnen hier jede Woche ein Buch vor, das «ebenso intelligent wie unterhaltend» ist. Das heisst, dass ich Bücher suche, die drei Bedingungen erfüllen: Es sollen gute Geschichten sein, Bücher, in die man eintauchen und sich darin verlieren kann. Diese Geschichten sollen Tiefgang haben und neue Perspektiven bieten, gedanklich anregen und inhaltlich zu beissen geben. Und sie sollen sprachlich überzeugen, also sorgfältig geschrieben sein, sich aber gleichzeitig gut lesen lassen.
(1) «Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels» von Vea Kaiser
Der Schelmenroman von Vea Kaiser erfüllt diese Bedingungen aufs Vortrefflichste. Aber eigentlich ist es natürlich ein Schelminnenroman: Vea Kaiser erzählt die Geschichte einer alleinerziehenden Buchhalterin, die ein Wiener Nobelhotel um über drei Millionen Euro prellt. Der Roman ist witzig und rasant geschrieben, hat wunderbar Schmäh und gibt, ganz nebenbei, auch noch zu denken. Hauptfigur der Geschichte ist Angelika Moser. Sie ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Mutter ist alleinerziehend und arbeitet als Hauswartin in einem Häuserblock in Wien, den Vater hat sie nie kennengelernt. Zusammen mit ihren Freunden feiert sie durch die Wiener Nächte. Sie liebt und verliebt sich, aber auch sie hat nicht wirklich Glück mit ihren Männern. Ihre Sicherheit findet sie in Zahlen: Sie ist wirklich stark im Rechnen.
Sie arbeitet als Buchhalterin im Grand Hotel Frohner und gilt da als ebenso diskret wie zuverlässig. Als sie schwanger wird, will der Direktor sie deshalb im Job behalten. Damit sie als alleinerziehende Mutter neben Basti, ihrem Kind, weiter arbeiten kann, offeriert er ihr einen Kinderbetreuungszuschuss, gibt ihr aber den Auftrag, den Zuschuss diskret auf ihr Konto zu transferieren. Nicht auszudenken, wenn alle Mitarbeiter mit Kindern so etwas wollten. Erst zögert Angelika. Doch dann rechnet sie die Belege für den Opernball ab und stellt fest, dass eine Flasche Champagner so viel kostet wie Bastis Kinderbetreuung für einen Monat. Direktor Frohner hat zweiundzwanzig solcher Flaschen bestellt! Also überweist sie sich diskret den Kinderbetreuungszuschuss. Es ist überraschend einfach. Das Grandhotel bleibt auf Angelika angewiesen und finanziert ihr ein kleines Auto, eine grösser Wohnung und weitere Annehmlichkeiten. Bloss weiss davon nur Angelika. Aber sie will den Direktor nicht weiter belasten. Diese «Zuschüsse» wachsen auf Drei Millionen und dreihunderteinundzwanzigtausend Euro an, bis Angelika auffliegt.
Das Buch zu lesen, ist vor allem deshalb ein grosses Vergnügen, weil Vea Kaiser mit viel Wiener Schmäh schreibt: mit Schmiss, präzisen Beobachtungen, Frechheit und durchsetzt von Wienerisch. Ich gebe ihnen ein Beispiel.
Junior bedankte sich andauernd bei allen für alles und ging dem Personal auf die Nerven, indem er jedes Gespräch mit dem Satz beendete: «Bitte nehmen Sie sich ein paar Krapferl für zu Hause mit!»
Niemand, der länger als ein Jahr im Frohner arbeitete, konnte diese picksüßen Brandteigbomben noch ertragen, doch Junior schien das Verteilen von Mehlspeisen als Ventil für seine Freude zu benutzen. An manchen Tagen rannte er mit Kartons durch den Wirtschaftstrakt, als müsste er Hilfslieferungen in einem Krisengebiet verteilen. (Seite 370)
Wie jede echte Schelmengeschichte hat «Fabula Rasa» eine Rahmenhandlung: Vea Kaiser erzählt, dass sie im Juni 2019 in der Zeitung auf die Geschichte von einer Hotelbuchhalterin namens Angelika Moser gestossen sei, die ihrem Arbeitgeber, dem Grand Hotel Frohner, über Jahre hinweg 3,3 Millionen Euro gestohlen hatte. Vor Gericht zu ihren Motiven befragt, habe sich die Buchhalterin damit entschuldigt, dass sie nur das Beste für ihr Kind gewollt habe. «Ich kam nicht umhin, ein gewisses Mass an Verständnis für diese Frau aufzubringen», schreibt Vea Kaiser. Sie selbst sei zu diesem Zeitpunkt hochschwanger gewesen und wenn sie den Fuss des Kindes durch die Bauchdecke spürte, habe sie gewusst, dass sie auch viel mehr Geld klauen würde, wenn es nötig wäre. Also besuchte sie die Buchhalterin im Gefängnis und liess sich deren Geschichte erzählen. Se non è vero, è ben trovato …
Vea Kaiser unterstreicht in der Rahmenhandlung, was sie in der ganzen Erzählung immer wieder zeigt: Gefährlich wird es dann, wenn man ernst nimmt, was die Gesellschaft an Parolen ausgibt. Zum Beispiel: Dass eine Frau bereit sein sollte, alles für ihr Kind zu tun. Oder, wie es der Direktor Julius Frohner III. Immer wieder betont, dass es im Grand Hotel Frohner nicht um die Auseinandersetzung mit der Realität geht, sondern um eine Pause von derselben. Eine solche Pause von der Realität gewährt uns Vea Kaiser auch mit ihrem Buch und das erst noch ohne grosse Hotelrechnung.
Vea Kaiser: Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-462-05234-3
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/CdaCZskslGA
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/fabula-rasa/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462052343
Eine ganz anders geartete Pause von der Realität gewährt uns Martina Clavadetscher mit ihrem Roman über einen Mord in den Bergen. Wenn zu Beginn eines Romans eine Leiche auftaucht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es sich um einen Krimi handelt. Eine Ermittlerin oder ein Ermittler wird sich auf Spurensuche machen, um auf den folgenden Seiten herauszufinden, wer der Mörder war. Oder die Mörderin. Nach diesem Muster beginnt auch der Roman von Martina Clavadetscher: Eingeschlossen im Eis des zugefrorenen Ödwilersees entdeckt ein Junge beim Schlittschuhlaufen eine Leiche – ein klassischer Krimi-Einstieg. Der schrullige Polizeiarchivar Schibig übernimmt zuerst die Bewachung des Fundorts, dann beginnt er zu ermitteln. Es mangelt nicht an Verdächtigen: der steinreiche Herr Kern, ein Club Zylinder tragender Herren, eine verrückte alte Dame. Als Leser tauchen wir ein in eine Atmosphäre des Verdachts: ein verhocktes Dorfmilieu, ein seltsamer Geheimzirkel, versteckte Gelder. Es könnte ein klassischer Kriminalroman sein in Anlehnung an Friedrich Dürrenmatt. Ist es aber nicht. Martina Clavadetscher sprengt die Grenzen des Krimis und zielt viel tiefer.
Ödwil ist ein fiktiver Ort in der Schweiz, ein Provinznest mit einem sprechenden Namen wie Güllen im «Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt oder Bärenfels im «Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin. Ödwil liegt am Ödwilersee im Frakmont. Der See ist, seit vielen Jahren zum ersten Mal, zugefroren. Das Eis ist so dick, dass der See für die Öffentlichkeit freigegeben wurde: Man darf das Eis betreten oder darauf Schlittschuh fahren. Ein Junge nutzt das, skatet hinaus auf den See – und stolpert plötzlich. Eine seiner Kufen ist an einem Widerstand hängen geblieben.
Aus Wut und Neugier will er sehen, was seinen makellosen Lauf gestoppt hat. Das Hindernis ist blau und sieht aus wie das Stück einer Jeanshose. Er zerrt am Stofffetzen. Er kriegt es nicht zu fassen. Es ist zu straff gespannt. Unter dem Textil befindet sich etwas Hartes, wie gefrorenes Holz. Mit den Handschuhen wischt er den Schnee weg, putzt sich die Sicht frei – bis er genug sieht. (Seite 9)
Und erschrickt: Es ist eine Leiche, deren Hosenbeine den Lauf des Jungen gestoppt – und die Handlung des Romans in Gang gebracht haben. Das Bild dieser eingefrorenen Leiche, deren Hosenbeine aus dem Eis ragen, bringt das zentrale Motiv des Romans auf den Punkt: Es geht um verdrängte Geschichten, die kollektiv geduldet werden. Ereignisse in der Vergangenheit, die die Gesellschaft des Tals verdrängt, die sie einzufrieren versucht, die aber doch unerwartet an die Oberfläche stossen und den Lauf der Dinge stören – wie die Jeans die makellose Schlittschuh-Fahrt des Jungen.
Der Junge alarmiert die Polizei. Die lässt sich aber Zeit und bittet Polizeiarchivar Arnold Schibig, der in der Nähe wohnt, erst einmal nachzuschauen, ob da wirklich eine Leiche im Eis eingeschlossen sei. So wird Schibig in die Sache hineingezogen. Auf dem Eis trifft er Rosa, eine geheimnisvolle alte Frau, die in einem Wohnwagen am See wohnt. So werden Rosa und Schibig zufällig zum Ermittlerduo. Sie kümmern sich allerdings herzlich wenig um die Leiche, es wird rasch klar, dass es um ein anderes, viel grösseres Verbrechen geht: Um das kollektive Dulden der Nazi-Vergangenheit der Schweiz. Martina Clavadetscher thematisiert die Verstrickungen der Schweizer Politik und Wirtschaft in die Geschäfte der Nationalsozialisten. Martina Clavadetscher entwirft mit ihrer Geschichte ein Panorama der Schweiz von Dürrenmattscher Prägung. Im Zentrum stehen Arnold Schibig, der Polizeiarchivar, der alle Distanz in den Wind schiesst und sich von einer Neugier treiben lässt.
Martina Clavadetscher: Die Schrecken der anderen. C.H. Beck, 333 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-406-83698-5
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/h93GOh6wGeQ
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-schrecken-der-anderen/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406836985
(3) «In einem Zug» von Daniel Glattauer
Kommen wir zum dritten Buch des Jahres: «In einem Zug» von Daniel Glattauer. Darin reist Eduard Brünhofer mit dem Zug von Wien nach München. Das ist eine vierstündige Zugreise. Er ist Schriftsteller von Beruf und leidlich bekannt: Er schreibt Liebesromane. Allerdings ist der letzte Roman schon dreizehn Jahre her und so langsam lastet das schriftstellerische Schweigen schwer auf Eduard Brünhofer. Ihm schräg gegenüber sitzt, wie er selber sagt, eine Frau frühen mittleren Alters». Sie heisst Catrin Meyr und ist Psychotherapeutin.
Was mir bald aus dem halb toten Winkel meines linken Auges auffällt: Die Frau macht das Gleiche wie ich – NICHT. Und zwar drei Dinge gleichzeitig. Sie liest nicht, sie hört nicht, sie schläft nicht. Kein Handy, kein Laptop, keine Ohrenstöpsel, kein Buch, kein Frauenmagazin, kein Männermagazin, kein Fachmagazin, kein Unterfachmagazin, gar nichts. Und ihre Augen sind offen und wach. (Okay, ich habe einmal kurz schräg hinübergeschaut. Sie hat es nicht bemerkt. Oder so getan, als hätte sie es nicht bemerkt.)
Menschen, die einfach einmal nichts tun, fallen sofort auf. Denn wir leben in einer Zeit, wo man nach zehn Sekunden Nichtstun, also ohne multimedial vollstreckte Ablenkung, normalerweise in ein Loch fällt. Überhaupt im Zug, da fällt man in ein Loch und atmet Zugluft, das ist an sich eine ernst zu nehmende Vorstufe zur Depression.
Faktum: Die Frau und ich tun schräg gegenüber voneinander seit gut fünfzehn Minuten tatsächlich nichts. Das ist revolutionär. Wir demütigen damit den gesamten Streaming-Markt mit seinen soeben frisch für uns ins Netz gegangenen Milliarden neuen Bildern, Texten, Postings, Videos und Podcasts.
Spontan mutmaße ich, dass sie gerade der gleichen im Aussterben begriffenen Beschäftigung nachgeht wie ich: Denken. Vielleicht sogar Nachdenken. Aber dann bemerke ich etwas, ja, ich erwische sie förmlich dabei, als mein insgesamt zweiter Sekundenblick über sie hinwegstreicht: Sie tut fast nichts, aber sie tut doch etwas. Sie schaut mich an. (Seite 10)
Es gibt grossartige Romane, die während einer einzigen Zugfahrt spielen, von «Murder on the Orient Express» der unverwüstlichen Agatha Christie bis zu Friedrich Dürrenmatts gespenstischer Erzählung «Der Tunnel». Die Versuchung ist deshalb gross, Daniel Glattauers Roman «In einem Zug» in diese Reihe zu stellen. Schliesslich spielt der ganze Roman im Schnellzug von Wien nach München. Das stimmt zwar, trotzdem passt der Roman nicht in diese Reihe. Das Zugabteil, in dem sich der bekannte Schriftsteller Eduard Brünhofer und die Psychotherapeutin Catrin Meyr zufällig treffen, setzt nur den Rahmen, der diese zufällige Begegnung möglich macht. Eine Begegnung, die zu einem doppelten Dialog wird. Denn die beiden, der bekannte Autor von Liebesromanen, der aber seit dreizehn Jahren kein Buch mehr veröffentlicht hat, und die Psychotherapeutin, die sich in Liebesdingen nicht binden kann, vertiefen sich in ein Gespräch. Allerdings gegen den Willen des Autors. Der will eigentlich nur seine Ruhe haben und kommentiert innerlich alles, was gesagt und natürlich auch, was nicht gesagt wird. Das ist die zweite Ebene des Dialogs. Das Resultat ist – verblüffend.
Das Buch können Sie natürlich in einem Zug lesen, und zwar in beiden Bedeutungen des Satzes. Es wäre aber eine verpasste Chance, wenn Sie das Buch nur aus den Gesichtspunkten passender Reiselektüre oder als Stoff für Schnellleser betrachten würden. Das wäre, wie wenn Sie ein Gemälde aufgrund seines Rahmens beurteilen würden. Auch dass die beiden Passagiere über die Liebe sprechen, scheint mir nicht ganz so zentral zu sein. Was mich am Buch fasziniert hat, ist weniger der äussere Dialog zwischen den beiden Zufallsbekanntschaften, als der innere Dialog, den der Schriftsteller dabei mit sich selber führt.
Daniel Glattauer erzählt keine «Es war einmal»-Geschichte, in der ein Schriftsteller in einem Zug sass und die Frau betrachtete, die ihm schräg gegenüber sass. Wir nehmen quasi live an den Gedanken von Eduard Brünhofer teil, an seinem Bewusstseinsstrom. Das ist eine literarische Erzähltechnik, die versucht, den inneren Gedanken- und Gefühlsfluss einer Figur direkt und ungefiltert darzustellen. Glattauer erzählt also kein äusseres Geschehen, sondern bildet die Wahrnehmung seiner Figur so ab, wie sie sich subjektiv selber erlebt. Das wirft die Frage auf: Woher kommt das, was in mir drin ist? Gedanken, aber auch Gefühle – wie entstehen die, und wie bemerke und finde ich sie? Woher kommt, was ein Schriftsteller beschreibt, warum liebt ein Liebender? Und vor allem: Wissen wir wirklich, wer wir sind und was wir denken und fühlen?
Daniel Glattauer: In einem Zug. Roman. DuMont Buchverlag, 208 Seiten, 32.90 Franken; ISBN 978-3-7558-0040-8
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/7V6gyKqI-Xk
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/in-einem-zug/
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(4) «Ja, nein, vielleicht.» von Doris Knecht
Egal, wie gut Sie sich fühlen – es gibt diese Momente, da schlägt das Alter zu. Im Roman von Doris Knecht trifft es die Ich-Erzählerin beim Zahnarzt. Eigentlich fühlt sie sich gut. Dass sie schon weit über fünfzig ist, spielt keine Rolle. Und dann sagt ihr der Zahnarzt, ihr schmerzender Backenzahn sei verloren: «Den kann man nur noch ziehen», sagt der Zahnarzt. «Und dann?» fragt die Ich-Erzählerin. «Ein Implantat, eine Krone, eine Brücke, wie wird der Zahn ersetzt?» «Gar nicht», sagt der Zahnarzt, «dafür ist es zu spät.» Da ist es, das Alter. Es ist zu spät, um den Zahn zu retten. Oder um Rockstar zu werden. Aber ist es auch zu spät für die Liebe? Die Antwort gibt der Titel des Romans von Doris Knecht: «Ja, nein, vielleicht.»
Mit dem älter werden ist das so eine Sache. Einerseits soll das Alter ja Gelassenheit mit sich bringen. Andererseits muss man feststellen, dass so manche Türe unwiederbringlich zugefallen ist. Ich zum Beispiel werde in diesem Leben nicht mehr «Weltraumingenieur», wie ich das in der dritten Klasse ins Schulheft schrieb. Ich werde nicht mehr Solohornist, den Marathon habe ich mir abgeschminkt und das mit dem Bestseller taugt höchstens noch als Einschlafhilfe. So gesehen ist das Leben voller Abschiede: Wir verabschieden uns von immer mehr Träumen, bis am Ende das wahre Leben übrig bleibt.
So geht es auch der Ich-Erzählerin im neuen Roman von Doris Knecht.
Es gab, das wird mir bewusst, während ich über diese Sätze nachdenke, schon einmal so einen Punkt in meinem Leben, bald nachdem ich die Kinder bekommen hatte, als mir klar wurde: Ich werde nicht mehr Gitarristin einer Band. Gitarristin einer Band zu sein, das war so lange ein Traum, eine Möglichkeit, die ich nicht verwerfen wollte, nicht einmal im Bewusstsein der Tatsache, dass ich nicht Gitarre spielen konnte. Das kann ich noch lernen! Eines Morgens wachte ich auf, kuschelte, fütterte und kleidete meine Kinder, zog ihnen Schuhe und Jacken an, ging mit ihnen an beiden Händen fünf Stockwerke hinunter auf die Straße, holte ihre Laufräder und Helme aus dem Auto und lief dann hinter ihnen her in den Kindergarten, und als ich wieder heimging, wurde mir, ich weiß nicht mehr, warum, plötzlich klar, in diesem Leben werde ich nicht mehr in einer Band Gitarre spielen. Diesen Abschnitt meines Lebens, in dem eine solche Möglichkeit umsetzbar schien, habe ich hinter mir. Vielleicht kann ich noch Gitarrespielen lernen, vielleicht gemeinsam mit meinen Kindern, aber ich werde mit einiger Sicherheit nie in meinem Leben mit einer E-Gitarre und einer Band auf einer Bühne stehen. Das war mein erster Abschied. (Seite 8f.)
Immer öfter ist sie «zu alt». Zu alt für die E-Gitarre, zu alt für die Zahnreparatur, zu alt für das uralte Spiel zwischen Männern und Frauen. Sie sei, sagt sie, als Frau nicht mehr wahrnehmbar. Was sie die meiste Zeit überhaupt nicht stört, im Gegenteil. Sie empfindet es als Erleichterung, weil damit auch das Beurteiltwerden wegfällt, dem man als jüngere und junge Frau permanent ausgeliefert sei. Sie empfindet sich als Reparatur-Fall, beziehungsweise als Fall, bei dem sich das Reparieren nicht mehr lohnt. Wie bei ihrem alten Volvo. Von aussen sieht er noch ganz gut aus, aber da und dort fängt er an zu rosten und bei jedem Defekt stellt sich die Frage, ob sich die Reparatur noch lohnt. «Offenbar bin ich doch nicht so unsterblich, wie ich mir bisher eingeredet habe.»
Trotzdem (oder vielleicht auch deshalb) hat sie sich in ihrem Leben ganz bequem eingerichtet. Sie hat sich schon von Jahren von ihrem Mann getrennt und sich, nach einigen eher toxischen Fehlversuchen, damit abgefunden, dass es in diesem Leben nichts mehr wird mit der Liebe. Dafür hat sie eine BFF, eine beste Freundin: Therese. Seit sie sich in der Kita ihrer Kinder kennengelernt haben, als die Kinder zwei Jahre alt waren, sind Therese und sie zufällig immer am gleichen Punkt im Leben gewesen. Beide haben sie zwei Kinder, beide haben sich etwa gleichzeitig von ihren Männern getrennt – respektive: die Männer von ihnen. Beide halfen sich über diese Trennung hinweg.
Doch jetzt hat Therese einen Mann kennengelernt. Und sie will Eddie heiraten. Schön für sie – aber was wird mit ihrer Freundschaft? Da begegnet die Ich-Erzählerin im Supermarkt Friedrich. Ein Mann aus ihrer Jugend. Soll sie sich noch einmal auf eine Beziehung einlassen? Oder ist es auch dafür zu spät? Ja. Nein. Vielleicht. Der Punkt dabei: In der Liebe geht es nicht um Logik, sondern – nun ja: um Liebe. Und vielleicht gibt einem das Alter die Kraft, das zu akzeptieren. Oder mindestens die Weisheit.
Doris Knecht: Ja, nein, vielleicht. Hanser Berlin, 240 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-28288-9
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/uabzw93_Dr8
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/ja-nein-vielleicht/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282889
(5) «Meine Zuflucht und mein Sturm» von Arundhati Roy
«Ich war nicht Christin genug. Ich war nicht Hindu genug. Ich war nicht Kommunistin genug. Ich war nicht genug. Es war eine Erleichterung. Es befreite mich und setzte mich in Bewegung.» Es ist eine dieser Passagen aus dem Buch von Arundhati Roy, die ich dick angestrichen habe. Einerseits, weil das gut nachempfinden kann, und andererseits, weil der Gedanke so befreiend ist: Nicht genug zu sein, kann auch eine Erleichterung sein. Arundhati Roy spricht mir aus dem Herzen und das, obwohl sie aus einer völlig anderen Welt stammt als ich. In ihrer Autobiographie erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend im indischen Kerala und vor allem von ihrem Kampf mit ihrer Mutter. Was hat eine indische Architektin, Schauspielerin und Schriftstellerin mir zu sagen? Ihre Kindheit in Kerala und ihr Leben in Dehli könnten nicht unterschiedlicher sein als meine Kindheit und mein Leben in der Schweiz. Trotzdem habe ich beim Lesen ihrer Autobiographie immer wieder «Ja, genau!» gerufen und Sätze dick angestrichen. Wie kommt es, dass eine indische Frau so über ihre Kindheit spricht, dass ich mich verstanden fühle? Warum stecken in einem Leben, das so völlig anders ist als meins, Glück und Schmerz, dessen Beschreibung ich mich anschliessen kann?
«Ich verliess meine Mutter nicht, weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können.» Es ist einer dieser Sätze, der mich traf wie ein Hammer: Genau so habe ich es auch erlebt.
Sie fragte mich nie, warum ich gegangen war. Es war nicht nötig. Wir wussten es beide. Wir einigten uns auf eine Lüge. Eine gute Lüge. Ich formulierte sie – «sie liebte mich genug, um mich gehen zu lassen». (Seite 14)
Und weiter:
Als Kind konnte ich nicht anders, als sie zu lieben, irrational, bedingungslos und furchtlos, wie alle Kinder es tun. Als Erwachsene versuchte ich, sie kühl, rational und aus sicherer Distanz zu lieben, und scheiterte oft. Manchmal kläglich. (Seite 16)
Diese wenigen Sätze umreissen das schwierige Verhältnis, das Arundhati Roy zu ihrer Mutter hatte. Arundhati Roy wurde 1961 in eine christliche Familie geboren, die in Shillong im Nordosten von Indien lebte. Ihre Mutter Mary Roy war eine christliche Frauenrechtlerin aus Aymanam, Kerala. Sie gehörte einer indisch-christlichen Kirche an, die ihre Geschichte auf den Apostel Thomas zurückführt. Weil ihr Bruder sie aufgrund eines obskuren Gesetzes aus dem Jahr 1916 von ihrem Erbe ausschliessen wollte, zog sie gegen ihn vor Gericht – und gewann. In Kerala hat sie 1967 eine christliche Schule gegründet. Auf der Website der Schule steht unter ihrem Portrait: «Dreamer, Warrior, Teacher» – Träumerin, Kriegerin, Lehrerin. Die Reihenfolge ist kein Zufall.
Arundhati erzählt, die Frauen hätten in der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist, nur die Wahl gehabt, übertrieben tugendhaft zu sein oder diese Tugendhaftigkeit vorzutäuschen. In dieser stickigen, muffigen Kleinstadt habe sich ihre Mutter «mit der Courage einer Gangsterin» verhalten: vollkommen zügellos, mit all ihrer Genialität und Exzentrizität, ihrer radikalen Freundlichkeit, ihrem militanten Mut, ihrer Ruchlosigkeit, ihrer Grosszügigkeit, ihrer Grausamkeit, ihrer Heimtücke, ihrem Geschäftssinn und ihrem wilden, unberechenbaren Temperament. Das also war die Mutter von Arundhati Roy. In ihrem Buch erzählt sie von dieser Gangstermutter. Es muss nicht einfach gewesen sein, als Tochter einer ebenso genialen wie grausamen Mutter Courage aufzuwachsen.
Das Bild, das Arundhati von «Mrs Roy» zeichnet, ist äusserst zwiespältig. Einerseits muss ihre Mutter eine energische, freimütige Frau gewesen sein, die unerschrocken für Gleichberechtigung und Bildung kämpfte. Andererseits terrorisierte sie ihre eigenen Kinder und machte an ihnen ihre eigenen Ängste sichtbar. Damit die anderen Kinder nicht den Eindruck erhielten, dass Direktorin Roy ihre eigenen Kinder besonders behandelten, mussten Arundhati und ihr Bruder die Mutter in der Öffentlichkeit «Mrs Roy» nennen. Weil die Familie Roy auch im Schulgebäude wohnte, war der Übergang zwischen öffentlichem und privatem Raum fliessend: Für Arundhati und ihr Bruder war die Schule das Zuhause, und das Zuhause war die Schule. So begannen sie damit, ihre Mutter auch privat «Mrs Roy» zu nennen – und dabei blieb es.
Nach der Veröffentlichung des Romans «Der Gott der kleinen Dinge» verkroch sich ihre Mutter in einem Krankenhaus, um das Buch zunächst hastig zu lesen. Offenbar fürchtete sie, dass ihre Tochter schändliche Erinnerungen enthüllen würde. Sie war höchst erleichtert, als sie merkte, dass das nicht der Fall war. Dann sprach sie mit ihrer Tochter über das Buch.
An diesem Tag lernte ich, dass die meisten von uns eine lebende, atmende Brühe aus Erinnerung und Phantasie sind – und nicht die besten Schiedsrichter darüber, was das eine und was das andere ist. Also lesen Sie dieses Buch, als wäre es ein Roman. Es will nichts Größeres sein. Doch andererseits kann es nichts Größeres geben. Literatur ist dieses seltsame, rauchartige Ding, das nicht allein den Autoren gehört, auch wenn sie es glauben. Woher kommt es? Aus unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart, unserer Lektüre, unserer Phantasie – ja. Aber vielleicht auch aus Ahnungen von unserer Zukunft? Wie sonst ist es möglich, dass auch ich mich jetzt wie Figuren in meinem zweiten Roman, Das Ministerium des äußersten Glücks, um ein Grab in einem Gästehaus kümmern muss? Es ist haarsträubend. Es hält mich nachts wach. Doch dann frage ich mich: Warum sollten wir alles wissen? (Seite 17)
Das ist der springende Punkt: Wir alle sind eine lebende, atmende Brühe aus Erinnerung und Phantasie. Wir sind, was wir gewählt haben, zu sein. Wir sind unsere eigene Erfindung und können deshalb nur schwer zwischen Erinnerung und Phantasie unterscheiden. Nicht nur die Romanschriftstellerin, wir alle schreiben unsere Lebensgeschichte, als wäre es ein Roman. Aber kaum jemand kann sein Leben (und sein Leiden) so wunderbar ausdrücken wie Arundhati Roy. Auch wenn dieses Leben mit meinem, mit unserem Leben kaum etwas zu tun hat, spricht sie von denselben Freuden und von sehr ähnlichen Schmerzen, wie wir sie alle erleben. Ihr Buch zu lesen ist ein Genuss, weil Arundhati Roy Worte findet für Dornen, die auch in meinem Blut kreisen.
Arundhati Roy: Meine Zuflucht und mein Sturm. S. Fischer, 368 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-10-397709-7
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/qWg6uXbNm_4
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/meine-zuflucht-und-mein-sturm/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103977097
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 17.12.2025, Matthias Zehnder
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