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Das Geheimnis von Zimmer 622

Publiziert am 22. April 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche:

«Das Geheimnis von Zimmer 622» von Joël Dicker.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Den Genfer Autor Joël Dicker kennen Sie sicher oder Sie haben schon von ihm gehört. Als er 27 Jahre alt war, löste er in Frankreich ein literarisches Erdbeben aus mit seinem Roman «La Vérité sur l’Affaire Harry Quebert». Dicker erhielt den Grand Prix du Roman der Académie Française für den Roman. Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien es 2013 unter dem Titel «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert». 

Es folgten 2016 «Le Livre des Baltimore», auf Deutsch «Die Geschichte der Baltimores» und 2018 «La Disparition de Stephanie Mailer»,  «Das Verschwinden der Stephanie Mailer». Joël Dicker war also etwas wie ein literarisches Wunderkind.

Jetzt ist sein neuer Roman «L’énigme de la chambre 622» auf Deutsch erschienen: «Das Geheimnis von Zimmer 622» – und die deutschsprachige Kritik ist enttäuscht. Die «Basler Zeitung» schreibt, die Besprechung des neuen Buchs von Dicker sei schnell erledigt, weil alles wie immer sei. Das Verdikt der «NZZ am Sonntag» ist, beim Roman handle es sich um ein Buch, das man sich sparen könne. Und das «St. Galler Tagblatt» schreibt, Joël Dicker sei «im Kitsch angekommen». Der Roman sei unrealistisch, Dicker trage zu dick auf und sei selbstverliebt. Diese Kritik erschien in zwölf Zeitungen von CH Media in der ganzen Schweiz – Zeit, etwas Gegensteuer zu geben. 

Ich habe mich nämlich beim Lesen blendend unterhalten und finde, das Buch ist eine Lektüre wert. Lassen Sie sich also nicht beirren – ich sage Ihnen, warum es sich lohnt, den neuen Dicker zu lesen.

Die Rahmenhandlung von Joël Dicker neuem Roman ist schnell erklärt: Die Hauptfigur von Joël Dicker ist Schriftsteller, heisst Joël Dicker und schreibt ein Buch. Das Buch erzählt also die Geschichte, wie Joël Dicker das Buch schreibt. Auf dieser ersten Ebene ist Joël Dicker soeben von seiner Freundin Sloane verlassen worden. Sloane ist eine junge Engländerin, die vor kurzem in die Nachbarwohnung eingezogen ist. Die beiden haben zusammengefunden, aber jetzt hat sie ihm den Laufpass gegeben. Der Grund: Der Schriftsteller war zu sehr in sein Schreiben vertieft. 

An einem Abend im Juni hatten wir unseren ersten Streit, als ich, nachdem wir uns geliebt hatten, aus ihrem Bett aufstand und mich anzog.
«Wohin gehst du?», fragte sie.
«Zu mir», antwortete ich, als wäre es die normalste Sache der Welt.
«Du schläfst nicht bei mir?»
«Nein, ich möchte schreiben.»
«Soll das heissen, du schiebst deine Nummer und haust dann ab?»
«Ich muss mit meinem Roman weiterkommen», erklärte ich kleinlaut.
«Aber du kannst doch nicht immer nur schreiben!», regte sie sich auf. «Du schreibst jeden Tag, jeden Abend und sogar an den Wochenenden! Das wird langsam absurd. Mir mir unternimmst Du gar nichts mehr.»

So gibt die schöne Sloane im Buch Schriftsteller Joël Dicker den Laufpass – und der ist am Boden zerstört. Zumal seine Haushälterin auch gerade in die Ferien fährt. Sie stattet ihn zwar mit Lebensmitteln für zwei Wochen aus, aber dann verabschiedet sie sich. Joël weiss nicht mehr weiter. Da fällt sein Blick auf eine Notiz über Verbier. Sein Verleger Bernard de Fallois, der kürzlich gestorben ist, hat Verbier geliebt. Der Joël Dicker im Buch beschliesst, ein paar Tage nach Verbier zu fahren. Da logiert er im Hotel Palace de Verbier, dem besten Haus am Platz. Er bezieht eine der schönsten Suiten im sechsten Stock des Hotels, Zimmer Nummer 623. Auf dem Weg zu seinem Zimmer stellt er überrascht fest, dass es kein Zimmer Nummer 622 gibt. Auf die Nummer 621 folgt die 621a, dann die 623. Kein 622.

An der Bar des Hotels erblickt Joël Dicker eine Frau in seinem Alter, sehr schön, offensichtlich allein. Er fragt den Barmann nach der Frau und erfährt, dass es sich um eine Engländerin handelt. Scarlett Leonas aus London. Als er nach dem Abendessen auf seinem Balkon eine Zigarette raucht, begegnet ihm Scarlett Leonas wieder. Sie wohnt im Zimmer 621a. Die beiden kommen ins Gespräch und reden übers Schreiben. Scarlett fragt den Schriftsteller, wie man einen Roman schreibt. Der antwortet, der grösste Fehler sei es, Fakten zusammenzutragen. Damit eine Geschichte entstehe, dürfe man nicht von Fakten ausgehen, sondern von Fragen:

«Die Magie des Schreibens besteht darin, dass eine simple Tatsache, egal welche, sobald man sie in Fragen übersetzt, die Tür zu einem Roman aufstösst.»
«Wirklich jede beliebige Tatsache?» warf mir Scarlett in skeptischem Ton wie eine Herausforderung hin.
«Jede beliebige, Nehmen wir ein ganz konkretes Beispiel. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie das Zimmer 621a, nicht wahr?»
«Genau», bestätigte Scarlett.
«Und ich habe das Zimmer 623. Und das Zimmer vor Ihrem ist die 621. Ich habe auf dem gesamten Stockwerk nachgesehen: Zimmer 622 existiert nicht. So weit die Tatsache. Aber warum gibt es im Palace de Verbier ein Zimmer 621a statt des Zimmers 622? Das ist ein mögliches Szenario. Und der Beginn eines Romans.»

Was würde in einem Roman an dieser Stelle passieren? Richtig: Der Schriftsteller und seine schöne Begleiterin würden sich auf die Suche nach einer Erklärung machen. Sie würden versuchen, das Geheimnis von Zimmer 622 zu lüften. Und genau das machen Scarlett und Joël im Buch. Das ist die erste Erzählebene. Das heisst: eigentlich ist es schon die zweite, denn später stellt sich heraus, dass der Schriftsteller seine Wohnung nie verlassen hat. Er hat sich die Reise nach Verbier nur vorgestellt. Das Schreiben des Romans findet also nur in der Vorstellung statt. Scarlett und Joël versuchen also gemeinsam, das Geheimnis zu lüften. Sie finden heraus, dass vor 20 Jahren im Zimmer 622 ein Mord verübt wurde. Ein Mord, der nie aufgeklärt wurde.

Auf der dritten Ebene im Roman erzählt Joël Dicker in Form von Rückblenden, wie es zu dem Mord kam. Diese Geschichte handelt von einer Genfer Privatbank, der Bank Ebezner. Die Bank gehört seit vielen Generationen der Familie Ebezner. Überraschend hat der vorletzte Ebezner, Abel, in seinem Testament aber nicht seinen Sohn Macair als Präsidenten der Bank eingesetzt, sondern verfügt, der Bankrat müsse einen geeigneten Präsidenten wählen, der selbst nicht Mitglied des Bankrats sei. Hauptpersonen auf dieser Ebene sind dieser Sohn, Macair  Ebezner, Lew Lewowitsch, ein junger, brillanter Banker, der Sohn eines Schauspielers, der seine Laufbahn als Page im Hotel Palace de Verbier begonnen hat, und die schöne Anastasia, in die sich sowohl Macair wie Lew verlieben. 

Wir haben also drei Ebenen der Geschichte: 

  1. Der in der Realität schreibende Joël, der von seiner Freundin Sloane verlassen wird.
  2. Der beschriebene Joël, der nach Verbier reist und mit Scarlett das Geheimnis zu lüften versucht.
  3. Die Geschichte in der Vergangenheit rund um das Geheimnis und den Mord.

In jeder Ebene trägt Joël Dicker (Achtung Kalauer) dicker auf: Die dritte Ebene ist inszeniert wie ein Film oder ein Theaterstück, eine phantastische Geschichte in der Geschichte der Geschichte. Lustig ist dabei, dass sich alle Ebenen ineinander spiegeln. So ist die schöne Scarlett Leonas im Hotel natürlich ein Anagramm der Nachbarin Sloan, die Joël verlassen hat. Dass sich Geschichten aus Fragen ergeben, wiederholt sich auf allen Ebenen – nur werden die Geschichten da nicht nur erzählt, sondern gespielt. Eine vertrackt-verspiegelte Sache – aber höchst amüsant und unterhaltsam. Ein Buch für ein freies Wochenende – trinken Sie ein Glas Wodka dazu. Sie erfahren ab Seite 327, warum.

Kurz: Grosse Unterhaltung, lustig, ironisch, manchmal dick aufgetragen, aber immer spannend.

Joël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622. Übersetzt von Michaela Messner und Amelie Thoma. Piper Verlag, 624 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-492-07090-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492070904

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

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Basel, 22. April 2021, Matthias Zehnder