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Bittersüsse Zitronen

Publiziert am 6. Juli 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Bittersüsse Zitronen» von Luca Ventura.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Es ist Sommer – naja, wenigstens dem Kalender nach. Wir alle haben dringend Ferien nötig, Reisen aber ist nach wie vor nicht ganz einfach. Ich entführe Sie deshalb diesen Sommer mit einer Reihe von Buchtipps an Sehnsuchtsorte: Machen Sie mit mir wenigstens im Kopf Ferien mit Krimis, die in besonders schönen Gegenden spielen. Heute geht die Reise nach Capri.

Capri ist eine kleine Insel vor Neapel im Tyrrhenischen Meer. So schön, dass es fast schon kitschig ist. Sie besteht aus Kalkstein und ist deshalb reich an pittoresken Felsformen. Schon seit dem 19. Jahrhundert lebt Capri vom Tourismus – aber auf der Insel wird auch ein interessanter Wein angebaut. Und auf Capri wachsen Zitronen. Um diese Zitronen von Capri dreht sich der Capri-Krimi von Luca Ventura.

Auf Capri arbeitet Agente di Polizia Enrico Rizzi. Ein echter Caprese. Er kennt sie alle, die Menschen von Capri, ihre Sorgen, ihre Arbeit, ihre Sehnsüchte. Er ist ein richtiger Capri-Versteher – und das ärgert Antonia Cirillo bis zur Weissglut. Cirillo stammt aus Bergamo und wurde nach Capri strafversetzt. Zwei Jahre muss sie auf der Insel vor Neapel schmoren und darf sich nichts zu Schulden kommen lassen. Zähneknirschend ordnet sie sich Enrico Rizzi unter und befolgt die Befehle des Vorgesetzten, Ispettore Lombardi, einem richtig italienischen Beamten, der den Problemen lieber ausweicht, als ihnen auf den Grund zu gehen.

Die Geschichte setzt in einer stürmischen Nacht ein, als Enrico Rizzi, der im Regen auf seiner Vespa  von einem Einsatz nach Hause fährt, fast von einer Ape gerammt wird, also von einem dieser dreirädrigen Kleintransporter mit Zweitaktmotor, die man auf dem Land in Italien oft antrifft. Die Ape hupt und lässt wie wild das Licht aufblinken – in letzter Sekunde schafft es Rizzi, der Ape auszuweichen. Wütend folgt er dem Gefährt. Aber nach der nächsten Kurve ist es nirgends mehr zu sehen. Rizzi hält am Strassenrand – und sieht Spuren im Geröll. Die Ape ist abgestürzt. Rizzi klettert hinterher. Er entdeckt die Ape in einer Felsspalte. Er schlägt die Windschutzscheibe ein, um zur Person in der Ape vorzustossen.

«‹Ganz ruhig›, sagte Rizzi. ‹Der Rettungswagen ist unterwegs. Er wird jeden Moment hier sein.› Er strich mit zwei Fingern vorsichtig die Haare beiseite, und mit der Morgendämmerung legte sich ein Schimmer über Gesicht, Lippen, Wangen und zwei zusammengewachsene Augenbrauen. ‹Elisa›, flüsterte Rizzi. Aus ihrem Mundwinkel sickerte Blut. ‹Kein Unfall›, wisperte sie. ‹Es war…› Ihre Augenlieder flatterten. ‹Schau mich an!›, bat Rizzi. ‹Elisa, hörst du mich?› Vögel zwitscherten, der Morgen graute, aber der Blick aus den grünen Augen war leer, die Frau tot.» (S. 21)

Unter der schönen Oberfläche von Capri, zwischen den Zitronenbäumen der Bauern, die Früchte für die Limoncello-Industrie anbauen, hat sich etwas zusammengebraut. Eine spannende Geschichte. 

Bei der toten Frau in der Ape handelt es sich um Elisa Constantini, einer der Töchter von Marcello Constatini, einem wichtigen Zitronenbauern. Die Familie baut seit Jahrzehnten Zitronen an, aus denen Limoncello gemacht wird. Das ist ein Likör, der nur  am Golf von Neapel und entlang der Amalfiküste hergestellt wird. Mit Hilfe von hochprozentigem Alkohol werden die Aromastoffe aus dem gelben Teil der Zitronenschalen extrahiert. Limoncello braucht deshalb besonders schöne Früchte.

Früchte, wie sie die Familie Constatini anbaut – und die Familie Bellini. Deren Limoncello-Fabrik ist die grösste Abnehmerin von Zitronen in der Gegend. Geführt wird die Fabrik von Simon Mugele. Einem Schwarzen aus Ghana. Mugele war einst Zitronenpflücker bei den Constatinis. Einer von vielen Fremdarbeitern auf den Plantagen. Aber einer, der die Arbeit sah.

«‹Also gut, zu Ihrer Frage.› Renato rauchte und überlegte. ‹Was soll ich Ihnen über Simon erzählen? Das Erste, was mir einfällt: Er war immer zuverlässig, fleissig und pünktlich, und bei ihm gab es bei der Ernte nie Ausschuss. Und das ist nicht selbstverständlich, wenn ich an die anderen Zitronenpflücker denke, die wir hier in all den Jahren gehabt haben – und da waren einige.› Renato zog an seiner Zigarette. … ‹Wie gesagt, er hat keinen Ausschuss produziert und schnell gelernt. Sogar unseren Dialekt. Wir haben immer gesagt: Simon, wenn wir über dir eine Tüte Mehl ausschütten, würde kein Mensch merken, dass du keiner von uns bist.› Renato schaute dem Rauch seiner Zigarette hinterher und sagte: ‹Tja, und jetzt ist er weg.›» (S. 180)

Meint: Er ist zur anderen Zitronenfamilie übergelaufen, von den Constantini zu den Bellini. Er hat sogar die Tochter der alten Aurora Bellini geheiratet. Aber die ist bei der Geburt ihres Sohnes gestorben. Jetzt ist der einstige Zitronenpflücker Geschäftsführer der grossen Limoncello-Fabrik Bellini – aber die Vergangenheit holt ihn wieder ein. Denn die Ape, in der Elisa Constantini zu Tode gekommen ist, die Ape, deren Bremszylinder sabotiert war, diese Ape gehört Aurora Bellini, seiner Schwigermutter, der Besitzerin der Fabrik. Die Ape war vor dem Haus parkiert, in dem auch Simon Mugele wohnt. Hat der Mann aus Ghana etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun? Die Menschen auf Capri reden bereits davon. Und sind wütend auf dem Schwarzen. Gina, die Freundin von Enrico Rizzi, macht Rizzi darauf aufmerksam.

«‹Das ist doch bloss Gerede›, winkte Rizzi ab.
‹Ich würde das nicht so herunterspielen.›
‹Aber es betrifft Ausländer allgemein›, erklärte Rizzi, ‹und zielt nicht auf eine konkrete Person und schon gar nicht auf Simon Mugele.›
‹Er ist schwarz und verdammt erfolgreich.›
‹Na und?›
‹Sei nicht naiv.› Gina sammelte die letzten Kerne aus seiner Hand. ‹Er hält sich nicht an die Regeln.›
‹Welche Regeln?›
‹Ausländer sollen nicht erfolgreich sein, sondern für wenig Geld die Arbeiten machen, für die wir Italiener uns zu schade sind. Und wenn die Arbeit erledigt ist, soll der Ausländer wieder verschwinden. Und selbstverständlich soll er unsere Frauen in Ruhe lassen. Das gilt für alle Ausländer, und besonders für die Farbigen.›
Rizzi schwieg. Natürlich übertrieb Gina masslos, aber im Kern war tatsächlich etwas dran. Und das Schlimmste: Dachte er insgeheim nicht ganz genauso?» (S. 80)

Luca Ventura erzählt mit dem Krimi rund um die Zitronenbauern auf Capri eine spannende Geschichte und lässt uns hinter die schönen Kulissen der Insel blicken. Natürlich haben die menschen auf der Insel ein gespanntes Verhältnis zu den Festländern, den Städtern von Neapel. Und natürlich halten die Neapolitaner die Menschen auf Capri für zurückgebliebene Inselaffen. 

Inbegriff des Konflikts zwischen der kleinen, scheinbar heilen Welt auf Capri und der grossen, rationalen Welt der Städte ist der Zoff, der sich zwischen Enrico Rizzi aus Capri und seiner Kollegin Antonia Cirillo aus Bergamo anbahnt. Sie wirft ihm Voreingenommenheit und zu grosse Nähe vor, er ihr, dass sie schlicht keine Ahnung habe. Und natürlich haben beide recht.

Kurz: «Bittersüsse Zitronen» entführt uns auf spannende Weise an den Golf von Neapel. Wir lernen bei der Lektüre viel über Capri, Neapel und die Amalfiküste – und zwar Dinge, die nicht im Reiseführer stehen. Wunderbare Ferienlektüre.

Luca Ventura: Bittersüsse Zitronen. Der Capri-Krimi. Diogenes, 336 Seiten, 21 Franken; ISBN 978-3-257-30082-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257300826

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 6. Juli 2021, Matthias Zehnder

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