Sibylle Winter: «Viele Menschen fühlen sich vom Nachrichtenstrom zunehmend überwältigt und überfordert.»

Publiziert am 8. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

Das 354. Fragebogeninterview, heute mit Sibylle Winter, Leiterin Digitale Kanäle SRF. Sie sagt, ihre Mediennutzung sei heute «viel fragmentierter und selbstverständlich digitaler.» Dabei ändern sich die Kanäle manchmal abrupt: «Was heute noch gehypt wird, kann morgen schon wieder an Relevanz verlieren.» Facebook habe zudem gezeigt, wie schnell sich die Spielregeln ändern können: «Durch Änderungen des Algorithmus wurden News von etablierten Medienhäusern beinahe über Nacht in den Hintergrund gedrängt.» Deshalb «wetteifern Medien um die Aufmerksamkeit der Menschen. Gleichzeitig bröckeln die Werbeeinnahmen und mit ihnen ein Teil der finanziellen Basis». Das Publikum erwarte Qualität, Relevanz und gutes Storytelling – «und das am liebsten sofort.» Besonders in der Schweiz sei die Herausforderung gross: «SRF steht im direkten Wettbewerb mit den Angeboten von ARD/ZDF, ProSieben/Sat.1, RTL, Netflix, Disney und Co.» Die vielen digitalen Kanäle sorgen auch dafür, dass das Nachrichtengewitter intensiver wird. Nachrichten zu vermeiden, sei daher eine Strategie, «mit dieser Flut und dem daraus resultierenden Ohnmachtsgefühl» umzugehen. «Für uns als Medienanbieter ist es daher wichtig, relevante Nachrichten und konkrete Handlungsoptionen zu vermitteln», sagt sie und meint damit nicht Aktivismus, sondern «mit der notwendigen kritischen Distanz Möglichkeiten aufzeigen, wie Menschen mit Krisen konkret umgehen.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Unter der Woche beginnt mein Tag digital und querbeet – mit News-Apps und einem schnellen Blick auf Socialmedia. Auf dem Weg ins Büro begleiten mich Podcasts – wie «SRF Heute Morgen», «Echo der Zeit» oder «SRF News Plus». Am Wochenende darf eine gedruckte Zeitung nicht fehlen. Sorgfältig recherchierte und gut getextete Geschichten haben mich schon immer glücklich gemacht.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Plattformen wie «Clubhouse» oder «BeReal» zeigen: Was heute noch gehypt wird, kann morgen schon wieder an Relevanz verlieren. Und manchmal verändert sich eine Plattform fundamental – wie bei Twitter, das unter Elon Musk zu «X» wurde und seither eine ganz andere Richtung eingeschlagen hat. Auch Facebook hat gezeigt, wie schnell sich die Spielregeln ändern können. Durch Änderungen des Algorithmus wurden News von etablierten Medienhäusern beinahe über Nacht in den Hintergrund gedrängt.

YouTube sticht hier meines Erachtens heraus. Die Plattform zeichnet sich durch mehr Konstanz aus, sie funktioniert als weltweit grösste Video-Suchmaschine, Trend-Barometer, Community-Hub, Kommentarspalte, Musik-Kanal, Kurzvideo-Feed und entwickelt sich gerade weiter zum Streaming-Anbieter für den Big Screen.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Meine Mediennutzung ist heute viel fragmentierter und selbstverständlich digitaler. Lineares Fernsehen schaue ich fast nur noch bei Live-Ereignissen – wie Sport, Wahlen oder Breaking News. Sie ist auch viel internationaler und vielfältiger geworden. Es spült grossartige Comedy-Inhalte aus den USA und Grossbritannien in meinen Feed, auch News-Videos von BBC und Guardian möchte ich nicht mehr missen. Über Social Media erhalte ich Inspiration für neue Podcasts, Musik, Bücher, Filme und Serien.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Vielleicht war man früher sicherer, dass die Inhalte ihr Publikum finden. Heute wetteifern Medien um die Aufmerksamkeit der Menschen. Gleichzeitig bröckeln die Werbeeinnahmen und mit ihnen ein Teil der finanziellen Basis für ein vielfältiges Medienangebot. Das Publikum erwartet Qualität, Relevanz und gutes Storytelling – und das am liebsten sofort. Besonders in der Schweiz ist die Herausforderung gross. SRF steht im direkten Wettbewerb mit den Angeboten von ARD/ZDF, ProSieben/Sat.1, RTL, Netflix, Disney und Co. Im Audio-Bereich sind es Streamer wie Spotify und YouTube. Eine Aufgabe, die fast unmöglich scheint – und trotzdem müssen wir täglich daran arbeiten, sie zu meistern.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Selbstverständlich.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Axel Hacke und sein Buch «Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten» zeigt auf, wie wichtig Humor und Selbstreflexion für eine lebendige Demokratie sind. Dass Jimmy Kimmel nach massiven Protesten wieder on air ist, stimmt mich zuversichtlich.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

In ein gutes Buch einzutauchen, ist ein wunderbares Erlebnis. Wenn mich eine Geschichte nicht wirklich packt, lege ich sie zur Seite.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Eigentlich immer, man muss nur aufmerksam zuhören – beim Gespräch mit Kolleginnen und Freunden, in der Nachbarschaft. Auch die Kinder, Neffen und Nichten haben immer überraschende Einsichten und Erlebnisse.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Hoffentlich immer. Das Rieplsche Gesetz* besagt, dass kein Medium vollkommen ersetzt oder verdrängt wird, auch wenn im Laufe der Zeit andere Medien hinzukommen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News und gezielt inszenierte Shit Storms sind eine Gefahr für die Demokratie und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Umso wichtiger ist die Rolle von unabhängigen Medien in einer vielfältigen Medienlandschaft – privat und öffentlich finanziert. Es braucht unterschiedliche, verlässliche Quellen und diese stärken sich gegenseitig – wie kürzlich eine Studie zur Mediennutzung der Universität Fribourg zeigte. Medien müssen Falschnachrichten entlarven, publizistische Standards hochhalten und ihre Rolle als Watchdog wahrnehmen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Live-Erlebnisse sind stark und emotional – im Sport, bei grossen Shows wie dem Eurovision Song Contest, bei Wahlen und Breaking News.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Besonders schätze ich mehrteilige Storytelling-Podcasts. Die Produktionen von «Undone» haben mich schon mehrmals überzeugt – wie «Judging Amanda Knox», «Legion: Most Wanted» oder «Geteiltes Leid». Ein Highlight ist die Reihe «News Plus Hintergrund» von SRF. Und den Podcast «Boysclub – Macht und Missbrauch bei Axel Springer» fand ich hervorragend erzählt.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Viele Menschen fühlen sich vom Nachrichtenstrom zunehmend überwältigt und überfordert. Bestimmte Nachrichten zu vermeiden, ist daher eher eine Strategie mit dieser Flut und dem daraus resultierenden Ohnmachtsgefühl zurecht zu kommen und weniger ein aktives Sich-Gegen-News-Entscheiden. Für uns als Medienanbieter ist es daher wichtig, relevante Nachrichten und konkrete Handlungsoptionen zu vermitteln. Ich meine damit nicht Aktivismus zu betreiben, sondern wir sollten – mit der notwendigen kritischen Distanz –Möglichkeiten aufzeigen, wie Menschen mit Krisen konkret umgehen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

KI ist aktuell ein Tool, das die journalistische Arbeit vereinfachen und beschleunigen kann. Es braucht jedoch immer Menschen, die Verantwortung übernehmen und fundierte Entscheidungen treffen. Technologische Entwicklungen hatten schon immer Einfluss auf den Journalismus und die Produktion von Inhalten. Die Anforderungen an Medienschaffende, verantwortungsvoll mit neuen Möglichkeiten umzugehen, sind hoch, was auch ein Ansporn sein kann. Bei SRF gibt es klare Richtlinien und Fachspezialistinnen, auf die man bei Fragen zum Umgang mit KI jederzeit zugehen kann.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Das weiss ich nicht. Digitale Medien sind für mich ein weiterer Kanal, den wir intelligent und professionell bespielen müssen. Digitale Tools gilt es zu nutzen, wenn sie dabei helfen, unsere Aufgabe besser zu erfüllen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, die Förderung sollte digitale Medien ebenfalls berücksichtigen.
Gleichzeitig braucht es eine öffentliche Finanzierung und ein enges Miteinander zwischen der SRG und privaten Medienhäusern. Denn ohne diese Unterstützung sind aufwändige Recherchen, hochwertige Dokus, Reportagen, Serien sowie Berichte über Wissenschaft und Kultur kaum realisierbar. Auch die grossen gemeinsamen Erlebnisse sind essentiell – sei es bei Sport-Events oder grossen Unterhaltungsshows. Sie schaffen Lagerfeuer-Momente, die verbinden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, ich schreibe meine Notizen und To-do-Listen von Hand, auch Glückwunschkarten, Einkaufszettel und manchmal Rezepte.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Die Medien haben Donald Trump erst zu dem gemacht, was er heute ist. Ich glaube, diese Frage lässt sich erst rückblickend beantworten.

Wem glaubst Du?

Für jeden Fakt braucht es mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen. Ich glaube an wissenschaftliche Standards und journalistische Sorgfalt – besonders, wenn es darum geht, den aktuellen Stand der Unkenntnis darzulegen. In einer Zeit, in der Meinungen oft lauter sind als Fakten, sind verlässliche Methoden und kritisches Denken wichtiger denn je.

Dein letztes Wort?

Ich schätze Gespräche, in denen nicht jeder das letzte Wort haben muss.


Sibylle Winter
Sibylle Winter ist bei SRF im Kanalmanagement der Abteilung Distribution tätig. Gemeinsam mit ihrem Team verantwortet sie die Kuration und Weiterentwicklung digitaler Audio- und Videoangebote auf Play SRF sowie auf Drittplattformen wie YouTube, Instagram und TikTok. Sie hat die Entwicklung neuer, digitaler Formate wie «rec.», «Impact» und «Wissen für alle» initiiert und mitgestaltet. Ihr Studium der Journalistik und Kommunikationswissenschaft absolvierte sie mit dem Schwerpunkt Lateinamerikastudien in Eichstätt und Mexico City. https://www.srf.ch/audio


Basel, 08.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: privat

Seit Ende 2018 sind über 330 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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* Das Rieplsche Gesetz, 1913 vom späteren Chefredaktor der «Nürnberger Zeitung» Wolfgang Riepl» formuliert, ist ein Theorem zur Kommunikations- und Mediengeschichte. Seine These: Kein neues Kommunikationsmedium ersetzt die vorher bestehenden. Medienentwicklung verläuft kumulativ, nicht substituierend. Radio hat die Tageszeitung nicht verdrängt, das Fernsehen nicht das Radio und Video nicht das Fernsehen. Allerdings gibt es dazu auch Gegenbeispiele: So hat die E-Mail Fax und Telex weitgehend abgelöst, digitale Plattformen haben die Rubrikenanzeigen aus den Zeitungen verdrängt und die Fotobibliothek auf dem Handy und dem Computer hat das Fotoalbum an den Rand es Grabes gebracht. Siehe dazu auch «100 Sekunden Wissen» auf SRF2 Kultur.

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