Niklaus Nuspliger: «Boulevardzeitungen sind in Grossbritannien viel aggressiver.»

Publiziert am 23. Juli 2025 von Matthias Zehnder

Das 343. Fragebogeninterview, heute mit Niklaus Nuspliger, politischer Korrespondent der NZZ in London. Er sagt, er nehme sich «immer öfter heraus, mich aus der permanenten News-Berieselung und Empörungsbewirtschaftung auszuklinken». Er müsse sich heute «nicht nur überlegen, welche Geschichten wir erzählen, sondern auch wie und wann unser Publikum diese lesen möchte». Früher durfte ich als NZZ-Journalist glauben, dass ein Thema, das er für berichtenswert hielt, auch das Publikum interessiere. «Heute wird gemessen, ob man am Interesse der Leserinnen und Leser vorbeischreibt.» In Grossbritannien gebe es eine Fülle spannender Medien: «von Klassikern wie ‹Spectator› oder ‹New Statesman› bis hin zu ‹Tortoise›, das jüngst den ‹Observer› gekauft hat.» Die Boulevardzeitungen seien in Grossbritannien viel aggressiver, und «erstaunlicherweise spielen sie auch in Zeiten von Social Media noch immer eine wichtige politische Rolle». Zudem gebe es eine enorme Vielfalt innovativer Nischen- und Qualitätsmedien. Er sagt, britische Medien hätten eine Obsession für Partei- und Machtpolitik: «In der Schweiz widmet sich die politische Berichterstattung viel stärker den Inhalten, was sicherlich mit unseren vielen Volksabstimmungen zu Sachfragen zusammenhängt.» Er ist überzeugt, dass Menschen im Journalismus unverzichtbar sind: «Austauschbarer Journalismus lässt sich bis zu einem gewissen Grad automatisieren, Qualitätsjournalismus nicht.» Entscheidend sei aber, «dass wir nicht bloss rezyklieren, sondern Original-Inhalte schaffen: Rausgehen, beobachten, mit Menschen sprechen, eigene Gedanken und Analysen formulieren.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich starte den Tag mit dem «Today Program» von BBC Radio 4. Dann verschafft mir die «Financial Times» einen Überblick über die Welt- und Wirtschaftslage, und sie bietet auch sehr gute Analysen zu Grossbritannien. Interessanterweise hat die FT aber in der britischen Innenpolitik viel weniger Einfluss als beispielsweise in Brüssel.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Ich nutze Social Media in Breaking-News-Situationen oder ganz gezielt, um einem Phänomen etwa auf TikTok nachzuspüren. Aber ich nehme mir immer öfter heraus, mich aus der permanenten News-Berieselung und Empörungsbewirtschaftung auszuklinken.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Wir müssen nicht nur überlegen, welche Geschichten wir erzählen, sondern auch wie und wann unser Publikum diese lesen möchte. Früher durfte ich als NZZ-Journalist glauben, dass ein Thema, das ich für berichtenswert hielt, auch das Publikum interessieren würde. Heute wird gemessen, ob man am Interesse der Leserinnen und Leser vorbeischreibt.

Wenn Du an die Medien in Deinem Berichtsgebiet denkst – was ist anders als in der Schweiz?

Die Boulevardzeitungen sind viel aggressiver, und erstaunlicherweise spielen sie auch in Zeiten von Social Media noch immer eine wichtige politische Rolle. Zudem gibt es eine enorme Vielfalt von Nischen- und Qualitätsmedien, die ich als sehr innovativ wahrnehme. Schliesslich haben britische Medien eine Obsession für Partei- und Machtpolitik. In der Schweiz widmet sich die politische Berichterstattung viel stärker den Inhalten, was sicherlich mit unseren vielen Volksabstimmungen zu Sachfragen zusammenhängt.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Absolut. In Zeiten der medialen Flüchtigkeit braucht es Leute, die Gedanken, Vorkommnisse und Stimmungen verschriftlichen und festhalten.

Was soll man heute unbedingt lesen?

In Grossbritannien gibt es eine Fülle spannender Medien: von Klassikern wie «The Spectator» oder «The New Statesman» bis hin zu «Tortoise», das jüngst den «Observer» gekauft hat.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich fange zu viele Bücher an, und lese zu wenige zu Ende.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In persönlichen Gesprächen. Es ist ein Privileg unsers Jobs, dass man mit ganz unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommt und dadurch im Alltag immer wieder auf Geschichten stösst.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Vielleicht länger als jetzt alle sagen. Eine Zeitung ist etwas zum Anfassen und bietet einen kuratierten Überblick. Allerdings muss ich zugeben, dass ich schon seit Jahren keine gedruckten Tageszeitungen mehr lese.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Chance, gerade für glaubwürdige Medienmarken. Allerdings erlebe ich im Berufsalltag, dass das Vertrauen in die Medien stark gesunken ist, was mit der politischen Polarisierung und Ideologisierung zu tun hat. Man glaubt nicht mehr, dass wir Medienschaffende unvoreingenommen darüber berichten, was wir sehen und was ist.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio höre ich oft live oder on demand. Live-TV schaue ich selten.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre oft Podcasts. «NZZ-Akzent» zum Beispiel, «The Rest is Politics» oder «The Rest is History». Mein Lieblings-Podcast in Grossbritannien war «Talking Politics», der Philosophie mit dem Weltgeschehen verwob, aber leider eingestellt wurde.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Dass wir überraschendere Formen und neue Kanäle finden müssen, um ein jüngeres Publikum zu erreichen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Austauschbarer Journalismus lässt sich bis zu einem gewissen Grad automatisieren, Qualitätsjournalismus nicht. Entscheidend ist, dass wir nicht bloss rezyklieren, sondern Original-Inhalte schaffen: Rausgehen, beobachten, mit Menschen sprechen, eigene Gedanken und Analysen formulieren.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Ich glaube, niemand möchte zurück ins analoge Zeitalter. Die Digitalisierung setzt die Medien kommerziell unter Druck, macht sie aber auch innovativer.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Unabhängigkeit ist ein hohes Gut. Der grosse politische Druck, dem heute öffentlich-rechtliche Medien ausgesetzt sind, stimmt mich eher skeptisch.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Das Problem ist, dass ich meine eigene Handschrift kaum lesen kann. Darum mache ich inzwischen die meisten Notizen auf dem Handy.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Wenn die Nachrichtenorganisation AP bestraft wird, weil sie den Golf von Mexiko nicht «Golf von Amerika» nennt, dann ist das ein Eingriff in die freie Berichterstattung. Für die Auflagen der Medien ist Donald Trump ein Geschenk.

Wem glaubst Du?

Medienschaffenden, bei denen man nicht schon im Voraus weiss, welche Position sie zu einem Thema einnehmen. Kolleginnen und Kollegen, die genau beobachten und sich nicht für wichtiger halten als die Geschichte. Unabhängigkeit und Bescheidenheit schaffen Glaubwürdigkeit.

Dein letztes Wort?

Keep calm and carry on.


Niklaus Nuspliger
Niklaus Nuspliger wurde 1980 in Bern geboren und hat in Genf, Madrid und Sydney Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen studiert. Nach Lehrjahren beim «Bund» arbeitete er bei der NZZ als Inlandredaktor sowie als Korrespondent im Bundeshaus, in New York, Brüssel und London.
https://www.nzz.ch/


Basel, 23.07.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: NZZ

Seit Ende 2018 sind über 330 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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2 Kommentare zu "Niklaus Nuspliger: «Boulevardzeitungen sind in Grossbritannien viel aggressiver.»"

  1. „Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?“ wird N. Nuspliger befragt, welcher darauf antwortet: „Dass wir überraschendere Formen und neue Kanäle finden müssen, um ein jüngeres Publikum zu erreichen.“
    Ich füge hinzu: Das jüngere Publikum findet schon selbst neue Formen und Kanäle und hat diese auch schon längst gefunden. Gerade das „gestellte“ und „anbiedernde“ der „etablierten (Mainstream-) Medien“ wird von diesen glasklar blitzschnell durchschaut und bemerkt.
    Die Antwort auf „Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?“ hat mich jedoch gefreut. In folgenden Worten bemerkt man noch selbständiges freies NZZ-Denken: „Unabhängigkeit ist ein hohes Gut. Der grosse politische Druck, dem heute öffentlich-rechtliche Medien ausgesetzt sind, stimmt mich eher skeptisch.“
    Ich wünsche Herr Nuspliger in seiner Laufbahn viele interessante Stationen und alles Gute.

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