Jürg Rüttimann: «Die Medien müssen im Alltag der Menschen wieder eine bedeutendere Rolle einnehmen.»
Das 351. Fragebogeninterview, heute mit Jürg Rüttimann, stellvertretender Geschäftsführer der Finanznachrichtenagentur AWP. Er sagt, dass «die aktuellen Algorithmen von Social Media mehr More-Of-The-Same in den Feed» spülen «und nur wenig Überraschendes». Beim Durchblättern von Zeitungen habe er mehr Überraschendes gefunden. «In den Medienapps verirre ich mich auch nur selten in einen ‹anderen Bund›.» Man müsse sich heut zwei Fragen stellen: «Wie kommen Menschen zu den Informationen, die sie interessieren und die sie brauchen? Und: Wie bekommen Menschen mit, was im öffentlichen Leben und für die Gesellschaft relevant und wichtig ist?» Das Problem sei, dass sich heute einzelne Bevölkerungsgruppen über Quellen informieren, «die eine passende Antwort auf die erste Frage sind, aber keinesfalls eine Antwort auf die zweite Frage sein können.» Die Medien müssten sich deshalb fragen, «wie sie im Alltag der Menschen wieder eine bedeutendere Rolle einnehmen können. Und die Gesellschaft muss sich fragen, wie sie sicherstellen kann, dass ein möglichst grosser Anteil der Bevölkerung auch mitkriegt, was für das gesellschaftliche Zusammenleben und für den Staat relevant und wichtig ist.» Für ihn selber ist klar, welch wichtige Rolle die Medien spielen: «In der Flut von Fake News sind Informationen, denen man vertrauen kann, ein kostbares Gut.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Der Zmorge ist medienfrei. Davor werfe ich einen Blick auf den AWP-Ticker und höre bei SRF die Nachrichten.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Bei Bluesky, Insta und LinkedIn bin ich regelmässig und ziemlich oft. Allerdings mehr als Leser, denn alle Bemühungen, mich selbst aktiver einzubringen, sind bisher gescheitert. Facebook, Threads und Mastodon nutze ich sporadisch. Von X bin ich weg, zu YouTube habe ich es nie richtig geschafft.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
An meinem ersten Arbeitstag als Redaktor habe ich ein druckfrisches Telefonbuch erhalten und auf der Visitenkarte standen Faxnummer und Postadresse. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Gewisse Dinge waren besser, andere Sachen waren schlechter.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Auf alle Fälle.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Bücher, die gut unterhalten. Und Bücher mit klugen Gedanken.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Schlechte Bücher lese ich auf keinen Fall bis zum Ende.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Beim Durchblättern von Zeitungen. Und über Empfehlungen auf Social Media. Inzwischen kommt das leider gar nicht mehr so oft vor wie gewünscht: Denn gedruckte Zeitungen lese ich weniger, und in den Medienapps verirre ich mich auch nur selten in einen «anderen Bund». Und die aktuellen Algorithmen von Social Media spülen ja auch mehr More-Of-The-Same in den Feed und nur wenig Überraschendes.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
In der heutigen Form vielleicht noch zehn, 15 Jahre. Ich glaube allerdings an das Konzept, einmal täglich (respektive in anderen regelmässigen Abständen) einen (abgeschlossenen) Überblick zu bieten. Wahrscheinlich wird die «Tageszeitung» der Zukunft anders aussehen als heute, aber nur endlose Newsticker zu produzieren und zu irgendeiner beliebigen Zeit Analysen oder Reportagen auf die Webseite zu stellen, kann ja nicht die Lösung sein.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Eine Chance, die es zu nutzen gilt. Denn in der Flut von Fake News sind Informationen, denen man vertrauen kann, ein kostbares Gut.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Lineares Radio höre ich fast immer beim Kochen und Abwaschen. Lineares Fernsehen gucke ich auch erstaunlich oft – wobei nicht selten einige Minuten zeitversetzt, weil ich doch gerne auch den Anfang von Sendungen und Filme sehe.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ja. Keine Folgen verpasse ich momentan vom «KI-Podcast» der ARD und von «Haken dran», dem Podcast von Gavin Karlmeier zu Themen aus der Social-Media-Welt.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Eigentlich gibt es zwei Fragen, auf die es bestenfalls identische oder sich überschneidende Antworten gibt. Sie lauten: Wie kommen Menschen zu den Informationen, die sie interessieren und die sie brauchen? Und: Wie bekommen Menschen mit, was im öffentlichen Leben und für die Gesellschaft relevant und wichtig ist? Aktuell informieren sich nun gewisse Bevölkerungsgruppen – und nicht nur die Jungen – halt bei Quellen, die eine passende Antwort auf die erste Frage sind, aber keinesfalls eine Antwort auf die zweite Frage sein können. Entsprechend müssen sich Medien fragen, wie sie im Alltag der Menschen wieder eine bedeutendere Rolle einnehmen können. Und die Gesellschaft muss sich fragen, wie sie sicherstellen kann, dass ein möglichst grosser Anteil der Bevölkerung auch mitkriegt, was für das gesellschaftliche Zusammenleben und für den Staat relevant und wichtig ist.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Ja und Nein. Das Sammeln und die Wiedergabe von Nachrichten lassen sich teilweise automatisieren. Die Selektion, die Gewichtung und die Einordnung der Nachrichten sowie alles Hintergründige dagegen werden etwas bleiben, wofür es Journalistinnen und Journalisten braucht. Allerdings wird auch da der Mensch von der Technologie (noch stärker) unterstützt werden.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Eigentlich müsste die Digitalisierung dazu beitragen, dass der Journalismus besser (und bestenfalls auch freier) wird. Die Frage ist aber, welches Geschäftsmodelle den Journalismus künftig tragen können.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ja. Ich zweifle jedoch daran, dass die Verbilligung der Zeitungsverteilung das einzig richtige und vor allem zukunftsweisende Mittel dafür ist.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja. Unter anderem alle Einträge in meiner Agenda, die Einkaufsliste und Glückwunsch- und Grusskarten.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Summa summarum schlecht.
Wem glaubst Du?
Bei dieser Frage ziehe ich einen Joker.
Dein letztes Wort?
Ich finde, Journalistinnen und Journalisten sollten mindestens gleich viel über künftige Geschäftsmodelle für Journalismus nachdenken wie sie sich über guten Journalismus Gedanken machen.
Jürg Rüttimann
Jürg Rüttimann ist stellvertretender Geschäftsführer der Finanznachrichtenagentur AWP und beschäftigt sich dort als Leiter des Data-Teams mit der Automatisierung der Nachrichtenproduktion und mit Datenjournalismus. Zuvor war der Betriebsökonom für die einstige Winterthurer Lokalzeitung «Stadtblatt», die Nachrichtenagentur SDA und den «Tages-Anzeiger» tätig.
Basel, 17.09.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Sonja Hammoud
Seit Ende 2018 sind über 330 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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2 Kommentare zu "Jürg Rüttimann: «Die Medien müssen im Alltag der Menschen wieder eine bedeutendere Rolle einnehmen.»"
Interessant, durch M. Zehners Plattform immer wieder neue Medien-Menschen kennen zu lernen. Und auch die dazugehörigen Magazine, Online-Portale, Zeitungen.
Die Finanznachrichtenagentur AWP ist ja hochinteressant und wissenswert wenn man sich für Finanz- und Wirtschaft interessiert. Eine Perle. Und ein grossartiger gebührender Dank an M. Zehnder.
Aus allen Richtungen werden Zehnders Gäste porträtiert.
Doch bei der „bürgerlich-konservativen-rechten“-Journalisten-Fraktion (doch auch die gibt es, klein aber fein) harzt es noch ein wenig. Eine allumfassende Gesamtschau wäre eben eine allumfassende Gesamtschau…. Vielleicht wird’s ja noch was mit Stefan Millus (THE DAILY MILL – daily auf You-Tube), Urs Gehriger, Phillip Gut, Marcel Odermatt, Roman Zeller, David Biner, Hubert Moser (Hubi), Michael Bahnert, Tamara Wernli, Anabell Schunke, Wolfgang Koydl, Wofram Knorr, Marc von Huisseling, Linus Reichlin, Daniel Weber, Peter Rüedi, Alex Reichmuth oder DOMINIK FEUSI (Bundeshaus)…
Allumfassend schon jetzt aber es geht (wie immer, immer noch mehr…)
Tamara Wernli gibts hier: https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/tamara-wernli/
Eine Übersicht über alle Namen gibt es da: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/